FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201·SEITE 9
Ein vorgezogenes und reichlich über-
flüssiges Abschiedsgeschenk: Aus der
alljährlichen Kritikerumfrage der Fach-
zeitschrift „Theater heute“ sind die
Münchner Kammerspiele, die der 2020
scheidende Intendant Matthias Lilien-
thal mit seinem Programm beherzt,
konsequent und wenig überraschend
von nennenswertem Publikumszu-
spruch weitgehend befreit hat, als
„Theater des Jahres“ hervorgegangen.
Auch die beste Inszenierung des Jahres
hat nach Ansicht der Mehrzahl der 44
teilnehmenden Kritikerinnen und Kri-
tiker an diesem Haus stattgefunden:
Christophs Rüpings an die zehn Stun-
den dauerndes Antikenprojekt „Diony-
sos Stadt“ mit Nils Kahnwald, der zum
Schauspieler des Jahres gekürt wurde.
Er ist seit der Spielzeit 2017/18 festes
Ensemblemitglied der Kammerspiele.
Schauspielerin des Jahres ist Sandra
Hüller, die in der Bochumer Inszenie-
rung von Kleists „Penthesilea“ an der
Seite von Jens Harzer brillierte. Regie
führte Bochums Intendant Johan
Simons. Zum Theaterstück des Jahres
wurde Elfriede Jelineks Text „Schnee
Weiss (Die Erfindung der alten Leier)“
gewählt. Lena Newtons Bühnenbild für
die „Drei Schwestern“ an den Münch-
ner Kammerspielen wurde ebenso aus-
gezeichnet wie die Kostüme, die Vanes-
sa Rust für Peter Lichts „Tartuffe oder
das Schwein der Weisen“ am Theater
Basel entworfen hat. igl
E
s hätte ihr größter Moment wer-
den können: Als der frischgeba-
ckene Premierminister Boris
Johnson ihr vorschlug, das Parla-
ment bis Mitte Oktober zu vertagen, um
den Abgeordneten den Widerstand gegen
das zum 31. Oktober drohende Ausschei-
den Großbritanniens aus der Europäi-
schen Union größtmöglich zu erschwe-
ren, stand die dreiundneunzigjährige Kö-
nigin vor der Entscheidung ihres Lebens.
Hätte Elisabeth II. ihrem vierzehnten
Premierminister seit Winston Churchill
die Vertagung verweigert, wäre sie zur
Retterin des britischen Parlamentarismus
geworden und hätte der alten Idee des
„King in Parliament“ ein völlig neues Le-
ben eingehaucht. Stattdessen akzeptierte
die greise Monarchin nach einer hastig an-
beraumten Sitzung ihres altertümlichen
Staatsrats, des Privy Council, der durch
drei von Jacob Rees-Mogg angeführte
konservative Mitglieder vertreten war,
auf ihrem schottischen Sommersitz
Schloss Balmoral den Vorschlag ihres neu-
en Premierministers und machte gute
Miene zu seinem bösen Spiel. Nie lagen
die Schwächen der nach wie vor weitge-
hend ungeschriebenen Verfassung Groß-
britanniens so schonungslos zu Tage wie
an diesem Spätsommertag in Balmoral.
Die Königin verhielt sich dabei durch-
aus erwartbar. Seit dem achtzehnten Jahr-
hundert ist es das eigentliche Geheimnis
der britischen Verfassung, die ausgedehn-
ten Befugnisse des Königs formell als
„royal prerogative“ bestehen zu lassen,
ihre Ausübung aber tatsächlich dem Pre-
mierminister zu übertragen, der seiner-
seits regelmäßig die Parlamentsmehrheit
hinter sich weiß. Elisabeth II. hat diesen
Grundsatz verinnerlicht. Sie hat, angefan-
gen bei Churchill, nie anders als auf Anra-
ten ihrer Premierminister gehandelt. Die
Königin hat als Zehnjährige noch die gro-
ße Krise der britischen Monarchie erlebt,
als im Jahr 1936 ihr Onkel Eduard VIII.
wegen seiner Beziehung mit der geschie-
denen Amerikanerin Wallis Simpson ab-
danken musste. Sie hat daraus eine klare
Konsequenz gezogen: Der Bestand des
Hauses Windsor hängt davon ab, dass der
Monarch niemals als eigenständiger poli-
tischer Akteur wahrgenommen werden
darf. Ihre Rückversicherung dafür ist
nach ihrem in langen Jahrzehnten verfes-
tigten Amtsverständnis die engstmögli-
che Anlehnung an den jeweiligen Premier-
minister.
Aber Boris Johnson ist kein gewöhnli-
cher Premierminister. Er ist das Produkt
einer Wahl durch den kleinen elitären
Kreis der Mitglieder der Konservativen
Partei und verfügt über keinen gesicher-
ten Rückhalt im Unterhaus, zumal nicht
für sein politisches Zentralprojekt: das
Ausscheiden seines Landes aus der Euro-
päischen Union, koste es, was es wolle. Al-
lein die förmliche Befugnis der Königin,
den Premierminister zu ernennen, hat
ihn ohne Wahl durch das Unterhaus ins
Amt gebracht. Im Amt gebärdet sich die-
ser Premierminister nun selbst wie ein au-
toritärer König des neunzehnten Jahrhun-
derts, zu deren Herrschaftstechniken
stets auch die Vertagung unliebsamer Par-
lamente gehörte. Die altertümliche Pra-
xis der britischen Verfassung, dass die Kö-
nigin das Parlament während der Wahlpe-
riode in der Regel jährlich schließt und ei-
nige Wochen später mit einer feierlichen
Thronrede im Oberhaus wiedereröffnet,
gerät in der Hand Johnsons zu einem anti-
parlamentarischen Kampfmittel einer Re-
gierung ohne gesicherten Rückhalt im
Parlament, die sich nun ihrerseits hinter
den förmlichen Befugnissen der Königin
versteckt.
In dieser Situation ist die geronnene
Weisheit des Herrschaftswissens Elisa-
beth II. nichts mehr wert. Die von ihr ein
Leben lang praktizierte Bindung an den
Premierminister konnte die Monarchie
nur demokratisch rückversichern, solan-
ge dieser der führende Repräsentant ei-
ner klaren Parlamentsmehrheit war. Ist
der Premierminister hingegen ein ent-
schlossener Hasardeur ohne stabilen
Rückhalt im Unterhaus, werden die förm-
lichen Befugnisse der Krone in seiner
Hand zu einem gefährlichen Arsenal anti-
parlamentarischer Waffen. Das autoritä-
re Erbe der königlichen Vorrechte, das
man einst durch deren faktische Übertra-
gung auf den Premierminister parlamen-
tarisiert zu haben glaubte, entsteht hier
auf groteske Weise neu.
Sicherlich liegt diese Entwicklung in
erster Linie an der Kraftlosigkeit und Un-
einigkeit der in der Frage des Brexit hoff-
nungslos zerstrittenen britischen Parla-
mentarier. Sie beruht aber auch auf der
Schwäche einer Monarchie, die sich eigen-
ständige Entscheidungen im Rahmen ih-
rer förmlichen verfassungsrechtlichen Be-
fugnisse nicht einmal zur Verteidigung
des Parlaments zutrauen zu können
glaubt. Die greise Königin verteidigt die
Stabilität ihres Throns nach alten Mus-
tern, indem sie sich an den Spieler John-
son anlehnt, als wäre er einer der seriö-
sen britischen Premierminister des neun-
zehnten oder zwanzigsten Jahrhunderts.
Dieser Premierminister spielt aber mit
der Monarchie ähnlich waghalsig wie mit
dem Parlament und dem Vereinigten Kö-
nigreich. CHRISTOPH SCHÖNBERGER
Der Autor lehrt Öffentliches Recht an der Universi-
tät Konstanz.
Verpasste Größe
W
er jetzt keine Bewerbung mehr
schreibt, den bestraft vielleicht
nicht geradezu das Leben, aber er ist
spät, vielleicht zu spät dran. Gutdotier-
te Ämter sind ja noch zu vergeben,
eines schöner als das andere bezie-
hungsweise „neben Papst“ (F. Müntefe-
ring). Die SPD schließt ihr Transfer-
fenster am 1. September, der FC Bay-
ern München seines tags drauf. Bei
gleicher Qualifikation werden Doppel-
bewerbungen bevorzugt, so dass auch
die Sozis wieder lernen könnten, was
eine „Abteilung Attacke“ ist. Nachdem
sie die bundesligainteressierte Öffent-
lichkeit schon im Februar durch eine
etwas voreilige Auskunft ihres Ur-
gesteins in Unruhe versetzt hatten –
„Wenn Sie wüssten, was wir alles
schon sicher haben für die kommende
Saison“ – und die Bayern es nun, erst-
mals in ihrer stolzen Arbeitervereins-
geschichte, mit einer Doppelspitze ver-
suchen wollen, für die immerhin sieb-
zehn Bewerbungen eingegangen sind,
liegen die Karten auf dem Tisch oder
die Nerven blank. Nur Mut: Wer
glaubt, sich dafür rechtfertigen zu müs-
sen, dass er sich nun plötzlich doch bei
zwei Vereinen bewirbt, wo er das bis-
her immer mit dem Hinweis auf eine
zu große Arbeitsbelastung glaubwür-
dig ausgeschlossen hat, der kann dar-
auf nur mit Helmut Kohl (1997) sagen:
„Ganz klares Ja.“ Beide Clubs stehen
ja mit dem Rücken mehr oder weniger
zur Wand. Vor allem um die SPD muss
man sich Sorgen machen, seit sie ihre
seriöse Haushaltspolitik aufzugeben
im Begriff ist und es nun sogar aus-
drücklich nicht mehr ausschließt, für ei-
nen Spielertransfer mehr als hundert
Millionen Euro hinzublättern. Man
kann nur hoffen, dass Manchester City
Olaf Scholz jetzt auch freigibt und die-
ser sich, sollte er das Pech haben, sich
so kurz vor Transferfensterschließung
noch einen Kreuzbandriss zuzuziehen,
davon schnell erholt oder wenigstens
für die Champions-League-Begegnun-
gen fit gespritzt wird. Wenn Scholz
aber länger ausfällt, muss Leroy Sané
den SPD-Karren eben allein aus dem
Dreck ziehen, obwohl er gar kein Par-
teimitglied ist, wobei die Sozis schon
haben durchblicken lassen, dass sie es
sich, mangels anderer kopfballstarker
Bewerber, gar nicht mehr leisten kön-
nen, so etwas noch zur Bedingung zu
machen. Trotzdem: Vergnügungssteu-
erpflichtig wird das alles nicht. Dafür
dürfte es bei den Bayern dann umso
runder laufen: Hier wäre Scholz zwar
nicht gerade der teuerste, aber der mit
Abstand älteste Transfer, und, ein ganz
großes Plus, er hat überhaupt keine
Spielpraxis und ist, anders als der vor-
letzte Vorsitzende, auch nie in einer an-
deren europäischen Liga eingesetzt
worden. Ein Schnäppchen mit der in-
nenpolitischen Erfahrung eines Routi-
niers – da hätte wohl selbst die Union
zugegriffen. Eine Doppelpasspartne-
rin wird dieser Ausnahmepolitiker, der
den Ball so gerne in der eigenen Hälfte
hält, schon noch finden. So oder so: Je-
der, der nach beiden Posten strebt,
muss sich seine Entscheidung leichtma-
chen und das Spiel sofort an sich zie-
hen. Wer die Menschen draußen im
Land noch länger warten lässt, über
den wird man sagen: Wie eitel – er will
gefragt werden! Ob nun alles gut wird?
Das wird man erst im Jahr 2021 sagen
können, wenn die Bayern sich hoffent-
lich für den zwanzigsten Bundestag
qualifiziert haben und die SPD ihre Sie-
gesserie von bisher sieben Deutschen
Meisterschaften in Folge bis dahin
nicht abreißen lässt. Alles andere ist
Feuilleton. edo.
OXFORD, Ende August
Die Flüssigkeit ist erstarrt, dennoch
steigt aus der Glasflasche bei Entfer-
nung des Stöpsels der Geruch des Oliven-
öls auf, das vor fast zweitausend Jahren
darin abgefüllt wurde. Wenige Objekte
veranschaulichen derart eindringlich die
konservierende Kraft der Ascheschicht,
die Pompeji im Jahr 79 nach Christus ver-
schüttete. Die anhaltende Faszination
für die im Moment fixierte Stadt, aus de-
ren Ruinen sich unser Wissen über das
Alltagsleben der Römer speist, verleitet
Kuratoren dazu, immer neue Ansätze zu
suchen, um frische Forschungserkennt-
nisse publikumswirksam darzubieten.
Im Ashmolean Museum in Oxford ge-
schieht dies höchst anschaulich über den
Weg der Nahrung. „Sage mir, was du isst,
und ich sage dir, wer du bist.“ Der be-
rühmte Spruch des französischen Gastro-
sophen Jean-Anthelme Brillat-Savarin
ist wie auf die Ausstellung, „Last Supper
in Pompeii“ gemünzt.
Anhand von rund dreihundert Objek-
ten, von denen viele erstmals außerhalb
von Italien zu sehen sind, macht die Aus-
stellung die zentrale Bedeutung von
Speis und Trank in der römischen Zivili-
sation deutlich. Von der Produktion über
die Versorgung und Zubereitung bis hin
zum Konsum mit allem, was an Räum-
lichkeiten, Zutaten, Utensilien und Sit-
ten dazugehört, beleuchten die Funde in
Kombination mit den überlieferten Quel-
len, neuen landschaftsarchäologischen
Untersuchungen über die Agrarnutzung
und Analysen von Abfällen jeden Aspekt
der Esskultur. Ganz im Sinne von
Brechts lesendem Arbeiter, der wissen
will, ob Cäsar nicht wenigstens einen
Koch bei sich hatte, als er die Gallier
schlug, fällt das Schlaglicht nicht nur auf
die Oberschicht. Die Schnellimbissloka-
le und Garküchen des Straßenvolks kom-
men ebenso zur Geltung wie das Triclini-
um (Speisesaal), in dem die gehobene
Gesellschaft, zur besseren Verdauung
linksseitig auf der Kline liegend, ihre Ge-
lage abhielt, deren Zutaten von den um-
liegenden Gehöften geerntet oder aus
dem Ausland importiert wurden.
Die Beschriftung auf einer kleinen Am-
phore besagt, dass das Gefäß die Probe ei-
ner Lieferung von hundert Tonnen Wei-
zen aus Tunesien enthielt. Sie bekräftigt
archäologische Indizien für die Einfuhr
von Getreide, weil die heimischen Güter
nicht hinreichend großflächig waren, um
die Produktion rentabel zu machen. Statt-
dessen bepflanzten die Anlieger das
fruchtbare Hangfußgelände des Vesuvs
vor allem mit Reben, wodurch sich die
starke Präsenz des seinen Panther trän-
kenden Weingottes Bacchus auf den aus-
gestellten Stücken erklärt. Trotz dieses ei-
genen Anbaus, der belegt ist durch die
Entdeckung von Wurzel- und Steckenlö-
chern, ondulierten Pflanzenreihen und
Spuren der Bodenbearbeitung zehn Me-
ter unter der heutigen Bodenfläche, be-
friedigten römische Genussmenschen
das Bedürfnis nach Abwechslung mit Wei-
nen aus anderen Mittelmeerregionen.
Besondere Beachtung findet die enge
Verknüpfung zwischen Speisen, Götter-
verehrung und Jenseitsvorstellungen. In
diesem Zusammenhang ist der Titel der
Ausstellung mehrsinnig zu verstehen.
Das „letzte Abendmahl“ bezieht sich
nicht nur auf den plötzlichen Untergang
von Pompeji sondern auch auf die Toten-
kultur der alten Römer, wie sie sowohl in
den Banketten zur Bestattung und Erin-
nerung an die Verstorbenen Ausdruck fin-
det als auch im ständigen Buhlen um die
Gunst von Gottheiten und Schutzgeis-
tern durch essbare Opfergaben. Die Über-
reste dieser Rituale sind Zeugnisse der in-
tuitiven Furcht vor dem Sterben, der alle
Zeiten und Kulturen auf ihre Art mit dem
Glauben zu begegnen suchen. Seitlich lie-
gende, den Gaumenfreuden frönende Fi-
guren auf drei Urnen der vorchristlichen
Zeit aus dem Britischen Museum bele-
gen, dass die Römer sich ein Vorbild nah-
men an etruskischen Bestrebungen, sich
den Tod als möglichst nahtlosen Über-
gang vom Diesseits ins Jenseits einzubil-
den. Nicht nur, dass Lebensmittel in den
Grabmalerien von Pompeji reichlich vor-
handen sind. Die Römer versorgten die
Verstorbenen auch mit frischen Viktua-
lien und symbolischem Proviant, wie ver-
kohlte Nahrungsreste zwischen den ein-
geäscherten Leichen und der Fund eines
Tellers in Paestum mit Brot, Früchten
und anderen Lebensmitteln aus Ton do-
kumentieren. Einige Begräbnisstätten in
der Gegend von Pompeji wiesen sogar Ke-
ramikkanülen auf für die Zufuhr von flüs-
sigen Gaben an die Toten, die somit ein-
bezogen wurden in die am Grab abgehal-
tenen Gedenkfestmähler.
So wie die Römer ihrer Tischkultur
etruskisch-italische Elemente einverleib-
ten, absorbierten sie auch griechische
Einflüsse. Diese prägten den von Livius
bereits vor dem Untergang von Pompeji
als Zeichen von Dekadenz bemängelten
Begriff von Muße (otium) und Luxus,
der sich auch auf die Einrichtung der ge-
hobenen Gesellschaft auswirkte und in
der römischen Elite den Geschmack für
griechische Antiquitäten förderte wie
etwa den im Hause des neureichen Caius
Julius Polybius gefundenen Wasserkrug.
Dessen Inschrift verrät, dass er im fünf-
ten Jahrhundert vor Christus im pelopon-
nesischen Argos als Preis bei den Spielen
für die Göttin Hera diente.
Die eine römische Villa evozierende
räumliche Anordnung der Schau führt
den Besucher vom Atrium durch den als
Sommertriclinium genutzten, vom
Klang zwitschernder Vögel und plät-
schernder Fontänen belebten Garten in
den opulenten Speisesaal mit den para-
diesischen Gartenmalereien aus dem
Haus des Goldenen Armreifs, die der vor
sechs Jahren auch schon für die große
Pompeji-Ausstellung im Britischen Mu-
seum zuständige Kurator Paul Roberts
dem archäologischen Park in Pompeji
ein zweites Mal abgeluchst hat. Silbernes
Tafelgeschirr aus Moregine, Mosaiken
und andere kostbare Artefakte demons-
trieren den Drang, Gästen mit ostentati-
vem Luxus zu imponieren. Direkt hinter
dem Speisesaal ist die beengte Küche
nachempfunden worden mitsamt den La-
trinen, die wegen der Wasserversorgung
in unhygienischer Nähe der Zuberei-
tungsflächen für die Speisen unterge-
bracht waren. Eine gestopfte Haselmaus
lugt über den Rand eines Tongefäßes, in
der diese als Delikatesse verzehrten Tie-
re für die Tafel gemästet wurden. Aus
den Latrinen und Abwässern gewonne-
ne Essensreste, darunter Apfel-, Kirsch-
und Olivenkerne, Feigensamen, Singvo-
gelknochen und Fischgräten, geben Ein-
blick in den antiken Speiseplan.
Im letzten Abschnitt schlägt das
Ashmolean Museum den Bogen von der
süditalienischen Provinz nach Britannia,
um zu zeigen, wie sich die Tischkultur
der römischen Eroberer im Norden nicht
zuletzt durch Lebensmittelimporte aus
anderen Teilen des Reichs durchsetzte.
Das galt vor allem für wohlhabendere
Briten, die den verfeinerten Lebenstil
der Kolonisatoren nachahmten, die ihre
heimischen Sitten in der Ferne aufrecht-
zuerhalten suchten. Danach wirkt der
Schritt zurück zum Vesuvausbruch mit
der erschütternden Figur einer von
Asche umhüllten Toten aus Oplontis wie
ein effekthascherisches Anhängsel. Ihre
in transparentem Harz abgegossene
Form wird zur Steigerung des Dramas
vor geschwärzten Wänden in einem ver-
dunkelten Raum ausgestellt, genau wie
vor sechs Jahren im Britischen Museum.
Daneben liegen der Schmuck und ande-
re Habseligkeiten, mit denen die Frau
wohl zu fliehen hoffte, bevor sie von den
Gasen erstickt wurde. Diese Wertgegen-
stände sind unfreiwillige Grabbeigaben
geworden, die geradezu emblematisch
sind für die Sinnlosigkeit materieller Din-
ge. Vor der Unausweichlichkeit des To-
des warnt auch das einst ein Triclinium
zierende Mosaik mit einem grinsenden
Knochenmann, der in jeder Hand einen
Weinkrug hält. Durch die abrupte Auslö-
schung von Pompeji bekommt die Er-
mahnung, jeden Tag wie den letzten zu
nutzen, freilich zusätzliche Prägnanz.
Die Ironie dabei ist, dass die Toten von
Pompeji nicht vergeblich gestorben sind.
Ausstellungen wie diese bestätigen Goe-
thes Beobachtung, es sei viel Unheil in
der Welt geschehen, „aber wenig, das
den Nachkommen so viel Freude ge-
macht hätte“, wie der Vesuvausbruch
des Jahres 79. Wobei man mit dem heute
stärker aufs tägliche Leben als auf die
Kunstwerke gerichteten Blick eher be-
haupten würde, kaum ein Unheil habe
der Nachwelt so viel Wissensgewinn ge-
bracht. GINA THOMAS
Last Supper in Pompeii.Im Ashmolean Museum,
Oxford; bis zum 12. Januar 2020. Das Buch zur
Ausstellung kostet im Museum 20 Pfund.
Geschenkt
Münchner Kammerspiele
sind „Theater des Jahres“
Leben wie Gott in Pompeji
Eine Ausstellung in Oxford macht mit den Essgewohnheiten der Römer vertraut
Boris Johnson ist schon vieles genannt
worden: ein inkompetenter Lügner, ein
schamloser Clown, ein manischer Selbst-
vermarkter, ein egoistischer Hanswurst,
ein von sich absorbierter Soziopath, auf
vielfältige Weise böse und so weiter.
Interessant ist darum, wie er so weit
kommen konnte. Zahlreiche öffentliche
wie private Skandale trugen Johnson in
England die Bezeichnung „unser Berlusco-
ni“ ein, hielten ihn aber nicht auf. Mehr-
fach der Lüge überführt, mehrfach der Be-
leidigung ethnischer Minderheiten, mehr-
fach der peinlichen Geschmacklosigkeit,
wirkte er aufsteigend in einem politischen
Amt nach dem nächsten: Parlaments-
abgeordneter, Bürgermeister von London,
Außenminister, Parteivorsitzender, Pre-
mierminister.
Eine Antwort darauf, wo der Schlüssel
zu Johnsons bisherigem Erfolg liegt, könn-
te sein, dass politische Parteien, anders als
es Kevin Kühnert (SPD) soeben behauptet
hat, eben doch für viele Unterhaltungssen-
dungen sind. Wer für einen Moment nicht
an die Belastungen denkt, die auf Großbri-
tannien bei einem No-Deal-Brexit zukom-
men, oder erst gar nicht an sie glaubt, mag
sich durch den Coup Johnsons, mittels Ver-
längerung der Parlamentsferien eine Ge-
setzesinitiative gegen ihn zu verhindern,
wie durch einen komödiantischen Streich
belustigt sehen. Eine sehr alte Königin
macht das durchtriebene Spiel mit. Von
den Hunderten Mitgliedern, die ihr Kron-
rat hat, hatten sich unter strenger Geheim-
haltung gerade einmal drei ins schottische
Balmoral aufgemacht, um Johnson bei der
Queen zu unterstützen. Johnsons Gegner
schäumen jetzt vor Wut, einer hat ange-
kündigt, sich notfalls von der Polizei aus
dem Unterhaus tragen zu lassen. Das alles
hat Theaterqualitäten, die dem Regisseur
des Stücks „Was ihr gewollt habt oder Wie
es mir gefällt“ gutgeschrieben werden.
Vor allem aber, und das ist die andere
Antwort darauf, wie Johnson bis hierhin
durchkam: Die Verwegenheit der Staats-
aktion zeigt einer teils entsetzten, teils
„Bravo!“ rufenden Bürgerschaft einen
weitgehend rücksichtslosen Menschen.
Einen, der sich durch Waghalsigkeit mehr
individualisiert, als er es durch Verstand je-
mals könnte, einen, der ganz unbeküm-
mert ist, noch aus dem größten Chaos als
Sieger hervorzugehen. Am Vorabend sei-
ner letzten Podiumsdiskussion im Kampf
um den Parteivorsitz, wir erinnern uns,
hatte Johnson sich mit seiner Lebens-
gefährtin nachts so laut gestritten, dass
Nachbarn die Polizei holten. Selbstdiszi-
plin? Tun, was andere täten? Nachden-
ken, was aus etwas folgt? Es ist ihm egal.
Nachdenken kann man ja immer noch,
wenn es unumgänglich ist. Das Spiel, bei
dem zwei Autos auf eine Klippe zurasen
und gewinnt, wer zuletzt aus seinem aus-
steigt, möchte man mit Boris Johnson
nicht spielen.
Die Europäische Union und Groß-
britannien fahren, um im Bild zu bleiben,
nicht auf dieselbe Klippe zu. Gemeinsam
hatten sie sich auf den 31. Oktober als Aus-
trittstermin der Briten festgelegt. Johnson
will jetzt dem Parlament in London keine
Zeit lassen, ihm bei einem ungeregelten
Brexit in den Arm zu fallen. Er nutzt gewis-
sermaßen, dass unter anderen Emmanuel
Macron im Frühjahr der Geduldsfaden
riss, weswegen jener 31. Oktober festge-
klopft wurde, anstatt der britischen Selbst-
zermürbung noch mehr Zeit zu geben. Zu-
gleich hat er das Gerücht in Umlauf brin-
gen lassen, die EU werde ihm doch noch
entgegenkommen.
Wie wäre es nun aber, wenn Boris John-
son nach seiner Regierungserklärung am
- Oktober ein kurz darauf folgendes
Misstrauensvotum nicht überstünde? Ge-
wiss kämen dann eine neue Regierungs-
bildung oder Neuwahlen zu spät für den - Oktober. Aber wenn die EU ihrerseits
nicht an diesem Austrittstermin festhiel-
te? Wenn sie den Briten dann noch ein-
mal Zeit gäbe, bis es mit Johnson ein poli-
tische Ende hat. Wer jetzt sagt „Das geht
doch aus folgenden Gründen nicht“, be-
wegt sich ehrenhafterweise in der Welt
der guten Begründungen. Es ist nicht die
Welt von Boris Johnson, und es ist viel-
leicht auch nicht die Welt, in der man
ruchlosen Burschen wie ihm den Schneid
abkaufen kann. JÜRGEN KAUBE
Transferpoker
Gastmahl des Meeres: Im Haus der geometrischen Mosaike von Pompeji fand man dieses Bild. Fotos Museo Archeologico Nazionale di Napoli
Folge intensiven Alkoholkonsums? Ein
Mosaik aus dem Haus der Vestalinnen
Das Hasenfußrennen
Können wir auch, was Boris Johnson kann?
Politisches Hitzefrei für
das britische Parlament
zum Zwecke seiner
einstweiligen
Gefangennahme:
King Boris I. siegt über
Queen Elisabeth II.