Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
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John und Patrick Collison haben zwei Ziele: Die
Brüder wollen erfolgreiche Unternehmer werden,
aber unbedingt anders bleiben. Es sieht so aus, als
seien sie in beiderlei Hinsicht gut unterwegs.
Vor einigen Jahren zogen die gebürtigen Iren
ins Silicon Valley und gründeten Stripe, eine Soft-
wareplattform für Onlinezahlungsabwicklungen.
Inzwischen hat das Start-up mehr als 1500 Mit -
arbeiter*innen, einen Wert von 22,5 Milliarden
Dollar und vier Niederlassungen weltweit: in San
Francisco, Seattle, Dublin und Singapur.
Anfang Mai kam die fünfte hinzu, dort sollen
künftig mehr als 100 Angestellte tätig sein, Pro-
duktmanager*innen ebenso wie Personaler*innen
oder Softwareingenieur*innen. Doch es ist ziem-
lich unwahrscheinlich, dass sich die Kolleg*innen
oft sehen oder persönlich sprechen. Denn diese
fünfte Filiale hat weder Einzel- noch Großraumbü-
ros, weder Kantine noch Kaffeeküche. Stattdessen
arbeiten alle komplett „remote“, also rein virtuell
miteinander. „Unsere Nutzer sind überall“, sagt
Stripes Chief Technology Officer David Singleton,
„wir müssen es daher auch sein.“
„Mir ist egal, wo meine Leute arbeiten, Hauptsa-
che die Leistung stimmt“ – nach diesem Leit-
spruch scheinen sich immer mehr Unternehmens-
gründer*innen zu richten. Digitale Technologien
erlauben Mitarbeiter*innen neue Freiheiten, sie
können von überall zu jeder Zeit arbeiten. Warum
also nicht eine ganze Firma in die virtuelle Welt
verlagern? Wer das Experiment wagt, dem geht es
längst nicht nur um papierloses Arbeiten, das die
Umwelt schont und das Budget gleich mit.
Auch Investor*innen haben den Trend ent-
deckt, im Silicon Valley steckten Risikokapital -
geber*innen zuletzt häufig Geld in dezentrale Fir-
men. „Solange sie den Kontakt zur Führungsebene
haben, unterstützen sie lieber visionäre Unter -
nehmer*innen ohne Büro“, sagt Wade Foster, Mit -
begründer von Zapier, einer Softwarefirma mit
130 Mitarbeiter*innen in 13 Ländern, „als mittel-
mäßige zwei Türen weiter.“

Spiegelbild der Arbeitswelt
Von Beginn an war das Büro ein Spiegelbild der
Arbeitswelt – und seine Geschichte beginnt im 15.
Jahrhundert. Als die Kaufleute für schnöde Ab-
rechnungen und Korrespondenzen keine Zeit
mehr hatten (oder sie sich nicht nehmen wollten),
holten sie sich Hilfe bei den Kontorist*innen. Die
saßen zunächst an einem Schreibtisch in Ruf- und
Blickweite ihrer Vorgesetzten, Anfang des 20.
Jahrhunderts entstanden daher beispielsweise in
Hamburg eigene Kontorhäuser. Im Zuge der in-
dustriellen Revolution lösten sich die Räume für
die Verwaltung von den Stätten für die Produkti-
on – die Geburtsstunde des Büros, wie wir es heute
kennen, mit Schreibtischen und Schränken, mit
Ablagen, Ordnern und Aufzügen.

Doch in den vergangenen Jahren hat sich mit dem
Wandel der Arbeitswelt auch die Vorstellung des
Büros verändert – und wie so oft sind die USA der
Vorreiter.
Pionier unter den bürolosen Firmen ist Auto-
mattic. Das Unternehmen ist vor allem bekannt
für seine Blogging-Plattform Wordpress. Gründer
Matt Mullenweg ließ seine Mitarbeiter*innen von
Beginn an von jedem Ort der Welt aus arbeiten,
auf eine Zentrale verzichtete er. Inzwischen kom-
men auch Unternehmen wie das IT-Haus 37sig-
nals oder der Adobe-Konkurrent Invision ohne ei-
ne physische Repräsentanz aus. Sicher, oft steckt
dahinter finanzielle Not. Wer will schon einen
mehrjährigen Vertrag unterschreiben, wenn er
nicht weiß, ob die Firma in Zukunft fünf oder 50
Arbeitsplätze haben wird?
Aber wie geht das, ein Unternehmen ohne
Hauptquartier? Wo werden Termine und Themen
besprochen? Wie kommunizieren die Angestell-
ten untereinander? Und was macht das mit dem
Teamgeist?
Einer, der diese Fragen ziemlich gut beantwor-
ten kann, ist Cédric Waldburger. Der Schweizer
gründete schon mit 14 Jahren sein erstes Unter-
nehmen, heute sind seine Projekte auf der ganzen
Welt verteilt. Seine Wohnung hat er bereits vor
einigen Jahren aufgegeben. Was er braucht, passt
in einen Koffer.
Waldburger fühlt sich in vielen Städten zu Hau-
se, in San Francisco und Miami, in Berlin und
Frankfurt, in St. Gallen oder Zürich. Und in all die-
sen Städten arbeitet er auch. Dafür muss er ziem-
lich gut organisiert sein. Und hat sich deshalb
auch ein Produkt ausgedacht, das auf die Bedürf-
nisse dezentraler Arbeit passt: Mit der App Send-
task lässt sich der Büroalltag organisieren, ohne
auf Raum und Zeit zu achten.
Die Nutzer*innen brauchen weder ein Konto
noch eine Registrierung, vielmehr teilen sie Infor-
mationen über einen Link in einer E-Mail. Send-
task hat mittlerweile 13 Mitarbeiter*innen aus
zwölf verschiedenen Ländern, sie kommen aus
Mazedonien, Russland oder Schottland. Jeder hat
einen anderen Arbeitsrhythmus. „Die zeitliche
Flexibilität ist eine unserer großen Stärken“, sagt
Waldburger. Schließlich sei nicht jeder Mensch je-
den Tag zu denselben Uhrzeiten gleich produktiv,
traditionelle Bürojobs mit festen Arbeitszeiten
von 9 bis 18 Uhr würden den wenigsten gerecht.
„Außerdem ist die Freiheit viel größer“, sagt Wald-
burger, „man kann selbst auf Reisen arbeiten.“
Auch Zeitdifferenzen lassen sich mit einem
Überallbüro bestens überbrücken. „Im Sommer
kann man mittags baden gehen und abends arbei-
ten“, sagt Thomas Kekeisen, der sich mit seiner
Firma Lulubu auf Softwareentwicklung speziali-
siert hat. „Work-Life-Happiness“ nennt er das bü-
rolose Arbeiten zwischen Karlsruhe und Offen-
burg. Das mache es leichter, junge Talente zu fin-

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