Frau Rützler, Sie haben im Jahr 2013 den ersten
künstlich im Labor hergestellten In-vitro-Burger
verspeist. Sechs Jahre später sind fleischlose
Burger in, nun ja: aller Munde. Überrascht Sie das?
Hanni Rützler: Nein. In Europa ist der historisch
gewachsene Fleischhunger weitgehend gestillt.
Und viele Menschen sehnen sich, ob aus gesund-
heitlichen, nachhaltigen oder ethischen Motiven,
nach Alternativen.
Inzwischen könnte man fast den Eindruck haben:
Fleisch ist das neue Rauchen.
MS: Das sehe ich anders. Es geht nicht darum, je-
den in einen Veganer zu verwandeln. Aber West-
europäer und Amerikaner essen zu viel Fleisch.
Ich bin überzeugt, dass man bei seinem Fleisch-
konsum auf Obergrenzen und generell auf eine
ausgewogenere Ernährung mit mehr pflanzlichen
Proteinen achten sollte. Davon profitiert nicht nur
die Gesundheit, sondern auch die Umwelt. Wir
dürfen aber nicht den Fehler machen, das auf jede
Region dieser Welt zu beziehen. Viele Menschen
südlich der Sahara könnten mit mehr Fleisch -
konsum ihren Bedarf an wichtigen Nährstoffen
besser decken, aber es fehlt ihnen häufig die Mög-
lichkeit dazu.
Die Menschen in den entwickelten Industrie -
ländern achten extrem auf ihre Ernährung und
üben den Verzicht, während die Entwicklungs -
länder lieber auf zuckerhaltige und fettreiche
Nahrungsmittel zurückgreifen – sehen wir da eine
neue soziale Spaltung auf globaler Ebene?
HR: Es ist unstrittig, dass unser zunehmend kriti-
scher Blick auf Fleisch mit dem Lebensmittelüber-
fluss zusammenhängt. Außerdem motiviert die
Debatte um Nachhaltigkeit und Ethik die jüngere
Generation dazu, weniger Fleisch zu essen und
beim Kauf tierischer Lebensmittel viel bewusster
hinzuschauen. Das erklärt auch, warum es heute
so viele Flexitarier gibt – also Menschen, die nur
ab und zu, dann aber möglichst hochwertiges, bio-
logisch produziertes Fleisch essen. Der Veganis-
mus hingegen hat nicht das Zeug zum Main-
stream, weil er eine zu radikale Diät propagiert.
In Ihrem „Food Report“ schreiben Sie, dass sich
Food-Trends heute nicht mehr mit klassischen In-
strumenten der Marktforschung voraussagen las-
sen. Sondern wie?
HR: In der Trendforschung gewinnt die Kunst der
Beobachtung an Bedeutung – und zwar sowohl um
Early Adopter als auch Sehnsüchte zu identifizie-
ren, auf die neue Food-Trends Antworten geben
könnten. Und die großen Kräfte des gesellschaft -
lichen Wandels legen nahe, warum sich unser Ess-
verhalten verändert.
Wie meinen Sie das?
HR: Nehmen wir die Megatrends Individualisie-
rung und New Work. Die Haushalte im urbanen
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Ulf Mark Schneider
ist seit Januar 2017 CEO des weltweit größten
Nahrungsmittelherstellers Nestlé – als erster
Externer in der Geschichte des Konzerns. Zuvor
war er 13 Jahre lang Vorstandschef des Medi-
zintechnikunternehmens Fresenius. Seine Lauf-
bahn startete Schneider beim Duisburger
Mischkonzern Haniel.
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