Auf Konferenzen lässt sich
ein sonderbares Ritual
beobachten. Es beginnt mit
einem gönnerhaften Augen-
zwinkern, dann folgt der
Satz: „Ich lasse Ihnen mal
meine Karte da“, begleitet
von einem verschwöreri-
schen Blick und der zere -
moniellen Übergabe der
Visitenkarte.
Diese ist meist klinisch
rein gehalten, mit schwarzen
oder silbernen Lettern –
Großbuchstaben, versteht
sich; auf dickem Papier, mit
eingravierter Schrift; einem
ebenso bedeutsam anmuten-
den wie inhaltlich unver-
ständlichen Titel, in dem die
Begriffe „Chief“ oder „Head
of“ vorkommen; und natür-
lich einem Logo, unaufdring-
lich, elegant, aber doch
präsent. Repräsentatives
Design nennt man das in
Fachkreisen. Hochwertig
und besonders, denn so
möchte man in Erinnerung
bleiben.
Egal, ob weiß und schlicht
oder knallblau mit glänzen-
der Lackschrift: Häufig lan-
den Visitenkarten im Müll -
eimer, sobald die Kontakt -
daten digital abgespeichert
wurden. Wenn sie überhaupt
den Weg zum Schreibtisch
überstanden haben und
nicht unterwegs verloren
gingen oder in der Jacken -
tasche vergessen wurden.
kreisen dem Dienstper -
sonal, um ihre Visite anzu -
kündigen. Der Diener über-
brachte sie dann feierlich
auf dem Silbertablett der
Herrschaft – und wenn es
gut lief, wurde der Besuch
vorgelassen.
Heute überreicht man
Visitenkarten zwar meist
persönlich, will damit aber
nach wie vor Position und
Rang demonstrieren. Und
natürlich andeuten, dass
man gerne Kontakt halten
würde. Allerdings nicht auf
gedrucktem Papier, sondern
dann doch lieber per Mail
oder Telefon.
Warum also Hunderte
Pappkärtchen bedrucken,
für die bei jeder Änderung
des Jobtitels Bäume sterben
müssen?
Visitenkarten passen zum
Digitalzeitalter genauso
wenig wie steile Hierarchien
und hochtrabende Jobtitel.
Wer nach einem interessan-
ten Gespräch in Kontakt
bleiben will, kann sich bei
LinkedIn miteinander ver-
binden – in der App gibt es
auch eine Funktion, mit der
man nur kurz den QR-Code
des Gegenübers scannen
muss, um sich gegenseitig
als Kontakt hinzuzufügen.
Jobnetzwerke sind das
digitale Silbertablett von
heute: Sie ermöglichen Kon-
takt – man kann ihn aber
auch elegant ablehnen. n
#Strg + Alt + Entf
Das digitale
Silbertablett
Illustration
Cynthia Kittler
Text
Milena Merten
Viele Menschen betreiben
einen irrsinnigen Aufwand,
um die Infos auf Visitenkar-
ten nicht zu verschludern.
Die einen speichern die
Kontaktdaten sofort nach
dem Gespräch ab oder in-
stallieren kostenpflichtige
Apps, mit denen sie sich
per Foto im Adressbuch
speichern lassen. All das
nur, um ein überkommenes
Ritual zu erhalten, dessen
Disruption längst überfällig
ist.
Die Visitenkarte als Sta-
tussymbol wurde Ende des
- Jahrhunderts eingeführt,
im Milieu französischer
Kaufleute. Besucher*innen
überreichten sie in Adels-
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