Handelsblatt - 30.08.2019 - 01.09.2019

(Jeff_L) #1
land fehlen, ist ein Problem, allerdings keines, das
man mit einem neuen Investitionsprogramm weg-
subventionieren kann. Das IWH ging im März in ei-
ner Studie der Frage nach, warum die Produktivi-
tät im Osten immer noch unter der im Westen
liegt? Ihr Ergebnis: Die geringeren Löhne und die
an Aufbau oder Erhalt von Arbeitsplätzen geknüpf-
te Investitionsförderung, die die Lohnstückkosten
im Osten konkurrenzfähig halten sollte, würden in-
zwischen eher den Druck mindern, die innerbe-
triebliche Effizienz zu steigern. Die Kleinteiligkeit
der Wirtschaft sei ein Problem, allerdings vor allem
deshalb, weil die ostdeutschen Unternehmen da-
durch weit weg von den relevanten Forschungs-
und Entwicklungsabteilungen des Landes liegen:
Von fast 61 Milliarden Euro, die die deutsche Wirt-
schaft 2015 für Forschung und Entwicklung aus-
gab, entfielen weniger als fünf Milliarden Euro auf
Ostdeutschland.

Investoren bleiben fern
Verwunderlich ist dabei, dass viele Wähler in Sach-
sen, Brandenburg und Thüringen ihre eigene wirt-
schaftliche Lage ganz anders wahrnehmen als die
ihrer Region. In Sachsen schätzen 81 Prozent der
Bürger ihre eigene wirtschaftliche Situation als po-
sitiv ein. Das habe zwar „auch mit der Bescheiden-
heit der Sachsen zu tun“, wie AfD-Mann Urban
sagt, bevor er auf den noch immer gewaltigen
Niedriglohnsektor in Sachsen verweist. Doch frü-
her waren die Löhne noch niedriger, die Jobs knap-
per und unsicherer. Inzwischen hingegen halten
rund drei Viertel der Ostdeutschen ihren Arbeits-
platz für sicher, genauso viele wie im Westen. Wo-
her also kommt die ostdeutsche Wut, der Frust?
Die Bereitschaft, aus Protest rechts zu wählen und
dabei den mühsam erreichten Wohlstand aufs
Spiel zu setzen?
Die SPD-Politikerin Petra Köpping, Integrations-
ministerin in Sachsen und Kandidatin für den Par-
teivorsitz, hat über den langen Schatten der Nach-
wende-Erfahrungen 2018 ein Buch veröffentlicht:
„Integriert doch erst mal uns“, heißt es und liefert
Erklärungen, warum die Willkommenskultur ge-
genüber den Flüchtlingen gerade in Ostdeutsch-
land so schlecht ankam: weil sie im eigenen Emp-
finden auf diese Willkommenskultur verzichten
mussten. „Wir müssen uns mit den Demütigungen,
Kränkungen und Ungerechtigkeiten aus jener Zeit
beschäftigen“, schreibt Köpping. Etwa der Treu-
handanstalt, die in den frühen 90er-Jahren die
DDR-Betriebe privatisierte. Die habe 80 Prozent

der Unternehmen an westdeutsche Geschäftsleute
verkauft, aber nur sechs Prozent an ehemalige
DDR-Bürger – wohl auch, weil die selten genug Ver-
mögen hatten oder einen Kredit bekamen. Häufig,
so Köpping, hätten sich westdeutsche Firmen da-
mit Konkurrenz vom Hals geschafft, was heute al-
lerdings nur noch anekdotisch zu belegen ist.
Man muss Köpping nicht in jedem Punkt folgen,
um zu erkennen: Die von vielen im Westen geheg-
ten Klischees vom starrsinnigen, unselbstständigen
und larmoyanten DDR-Bürger werden der Nach-
wendezeit nicht gerecht. Allein 1990, schreibt Köp-
ping, machten sich 60 000 Ostdeutsche selbststän-
dig. Viele scheiterten am fehlenden Kapital. Anders
als die Gründerzeit der Bundesrepublik nach dem
Zweiten Weltkrieg war 1990 eben nur im Osten ei-
ne Stunde null. Im Westen stand die kapitalkräftige
Konkurrenz längst bereit.
Und dann, so ließe sich diese Erzählung fort-
schreiben, lässt ausgerechnet die erste Kanzlerin
mit DDR-Biografie eine Million Flüchtlinge ins
Land, anstatt sich um ihre ostdeutschen Landsleu-
te zu kümmern. Das alles hat zu einem Mangel an
dem beigetragen, was der Bevölkerungswissen-
schaftler Reiner Klingholz als „Gefühl der Selbst-
wirksamkeit“ bezeichnet: Viele Menschen in Ost-
deutschland hätten das Gefühl, dass sie die Gesell-
schaft, in der sie leben, kaum beeinflussen können,
weder durch Wahlen noch durch Ehrenamt.
Mittwoch vergangener Woche, im brandenburgi-
schen Spremberg. Es sind noch elf Tage bis zur

Wahl. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD)
steht inmitten von 130 Besuchern, die an diesem
lauen Sommerabend in den Biergarten „Zur Post“
gekommen sind. Es riecht nach Bratwurst, Bier
und Zigarettenkippen, unter den aufgespannten
Sonnenschirmen leuchten bunte Lichterketten in
den Abend hinein.
Woidkes Mission an diesem Abend wird schnell
klar: versuchen, den Menschen ihre Ängste zu neh-
men. Natürlich werde Brandenburg mit seiner gro-
ßen Lausitzer Kohleregion sich verändern, wenn
Deutschland wie vereinbart bis 2038 aus der Kohle-
verstromung aussteigt. Aber die Politik kümmere
sich. Der Bund stelle der Lausitz allein 17 bis 18 Mil-
liarden an Hilfsmitteln bereit, das sei „verdammt
viel Geld“. Doch an diesem Abend in Spremberg
wird auch deutlich, wie trist und zugleich aufge-
bracht die Stimmung auf der Straße ist. Ein Wahl-
kämpfer aus Woidkes Team formuliert es so: „Die
Menschen hier denken: Erst nehmt ihr uns die
Glas- und Textilindustrie weg, dann unsere Kinder
und Enkel, die in den Westen abhauen. Und jetzt
auch noch die Kohle.“ Hinzu komme das latente
Gefühl, bei Löhnen und Renten immer noch gegen-
über dem Westen benachteiligt zu werden. Mit
Wahlkampfveranstaltungen komme man „kaum ge-
gen die Stimmung an“, sagt der Wahlkämpfer. Ei-
gentlich ginge das nur in einem langen Eins-zu-eins-
Gespräch. Da würden viele Menschen irgendwann
merken, dass es ihnen eigentlich gar nicht so
schlecht gehe. Doch dazu fehle selbst einem volks-
nahen Politiker wie Woidke, der in Brandenburg
fast jeden Sportverein kenne, die Zeit.
Wenn am Sonntag im Osten gewählt wird, müs-
sen sich die 5,4 Millionen Wahlberechtigten ent-
scheiden: zwischen einer Politik, die sich den He-
rausforderungen der Zukunft stellt, und einer, die
in der Vergangenheit leben will. Ein neuer Master-
plan Ost könnte die Lösung sein. Ein intelligenter
Mix aus mehreren der fünf Strategien, die das Han-
delsblatt auf den kommenden Seiten vorstellt.
Solch ein Masterplan kann helfen, die wirtschaftli-
che Lücke zwischen Ost- und Westdeutschland zu
schließen. Er kann aber auch das Gefühl der Zu-
rücksetzung lindern, das viele Ostdeutsche seit
mittlerweile einem Vierteljahrhundert empfinden.
Solch ein Masterplan kann allerdings wenig be-
wirken, wenn die Ostdeutschen aus lauter Frust die
AfD zur stärksten politischen Kraft machen. Eine
Politik, die auf mehr Braunkohle und weniger Mig-
ranten setzt, wird Brandenburg und Sachsen nicht
voranbringen – im Gegenteil.

Brandenburger CDU-Kandidat
Senftleben (l.): Eins-zu-eins-
Gespräche mit dem Wähler.

OSTKREUZ

Aufmarsch der
rechtsextremen
Partei „Der Dritte
Weg“ in Plauen:
Der ausländer -
feindliche Ruf
Sachsens dürfte
sich weiter
zementieren.

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Ostkreuz,

Ostdeutschlands unsichere Zukunft


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WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167^45


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