Wasserbauingenieur Partei und Fraktion in Sach-
sen. Urban, ein schmaler Mann im grauen Anzug,
gibt sich betont wirtschaftsfreundlich. Seine Lei-
denschaft gilt dem Bürokratieabbau. Urban spricht
ruhig und überlegt, auch wenn er auf das Aufre-
gerthema Asylpolitik kommt, das für ihn so rele-
vant ist wie vor vier Jahren: „Zu den 100 000 Mig-
ranten, die seit 2015 nach Sachsen gekommen
sind, kommen täglich neue hinzu. Die Zahl der
Asylbewerber, die unsere Sozialsysteme belasten,
die oft kriminell werden und den Drogenhandel
verstärken, wird immer größer.“
AfD-Mann Urban spricht auch gern über die
Russlandsanktionen, die seine Partei ablehnt. Sie
hätten der sächsischen Wirtschaft geschadet, der
Export dorthin sei um 70 Prozent eingebrochen.
Dass der Einbruch schon vor den Sanktionen be-
gann und der Handel mit Russland von vornehe-
rein nur vier Prozent der sächsischen Exporte aus-
machte, erwähnt Urban nicht. Die AfD will eine
wirtschaftliche Annäherung an Russland. Sie ist
auch die einzige Partei, die den Ausstieg aus dem
Braunkohletagebau in der Lausitz grundsätzlich in-
frage stellt. Vieles von dem, was sie im Landtags-
wahlkampf fordert, ließe sich, wenn überhaupt,
nur auf Bundes- oder EU-Ebene durchsetzen. Über
die Russlandsanktionen entscheidet kein Landtag.
Den drohenden Fachkräftemangel sieht Urban
dagegen gar nicht so dramatisch. „Das ist erst mal
eine Prognose“, sagt der AfD-Landeschef. „Durch
die Digitalisierung werden viele Bürger ihren Job
verlieren.“ Urban nennt Speditionsfahrer, die
durch autonome Lkws arbeitslos werden könnten
und dann für andere Arbeitsplätze zur Verfügung
stünden.
Unternehmer Bismarck kennt das Argument,
die Automatisierung senke den Arbeitskräftebe-
darf: „Wir müssen uns keine Illusionen machen,
dass irgendwelche Technologien das alles kompen-
sieren werden.“ Terrot baut Rundstrickmaschinen.
Fast jeder dieser großen Apparate mit einer Krone
aus unzähligen Garnspulen, die unten zu Stoffflä-
chen für die Textilindustrie zusammenlaufen, geht
in den Export, nach China, Indien oder in die Tür-
kei. Ein Roboter, der diese Maschinen selbst baut,
ist bislang noch nicht erfunden worden.
2006 rettete Bismarck, der sich als „in Bayern
geborenen preußischen Wahl-Sachsen“ bezeich-
net, das Unternehmen vor der Schließung. Die an-
fangs 100 Beschäftigten hat Terrot seitdem etwa
verdoppelt. Jeder zehnte Angestellte ist ein Auszu-
bildender. Doch obwohl Bismarck wegen der
schwächelnden Weltwirtschaft zuletzt sogar Leute
entlassen musste, kann er seine Ausbildungsplätze
immer schwerer besetzen. Der „Wendeknick“ bei
den Geburten, bedingt durch die hohe Arbeitslo-
sigkeit nach der Wiedervereinigung und den Weg-
zug gerade junger Erwachsener in den 90er-Jah-
ren, schlägt nun voll durch: Die jungen Menschen,
die Bismarck jetzt gerne einstellen würde, sind nie
geboren worden. „Wenn einer hier von der Pike
auf lernt, braucht er bis zu neun Jahre, bis wir ihn
als volle Fachkraft einsetzen können“, sagt Bis-
marck. Die düstere Prognose der sächsischen Lan-
desregierung für den Arbeitskräftemangel im Jahr
2030 kann nicht erst 2029 abgewendet werden –
sondern nur jetzt.
„Wir müssen hochattraktiv für Fachkräfte sein“,
sagt Bismarck. Offiziell sei zwar auch die AfD für
Fachkräftezuwanderung, „die Ernsthaftigkeit“, so
Bismarck, „muss aber bezweifelt werden. Dafür
braucht es eben eine Willkommenskultur. Wenn
man gegenüber Flüchtlingen massiv die Stimmung
vergiftet, fühlen sich auch Fachkräfte nicht wohl.“
Das merkte Bismarck, als ihm ein türkischstämmi-
ger Bewerber aus Nordrhein-Westfalen absagte,
den Terrot für den Vertrieb einstellen wollte. „Ich
glaube nicht, dass sich meine Familie und ich in
Chemnitz wohlfühlen würden“, sei seine Begrün-
dung gewesen. 2016 gründete Bismarck den Ver-
ein „Wirtschaft für ein weltoffenes Sachsen“, um
dem rechten Ruch entgegenzuwirken. Mitglieder
sind Infineon, Wacker Chemie, aber auch rein
sächsische Unternehmen wie die Deutschen Werk-
stätten Hellerau, die weltweit Luxusjachten aus-
statten, oder eben Terrot. Am Ende der Podiums-
diskussion holt Bismarck einen Vertreter von VW
Sachsen auf die Bühne. Der weltgrößte Autoher-
steller, der in Zwickau ein Werk betreibt, tritt dem
Verein als 70. Mitglied bei.
Die Geschichte von VW in Sachsen ist ermuti-
gend, aber auch symptomatisch: Bis 1991 liefen in
Zwickau Trabis vom Band, die nach der Wende
keiner mehr wollte. VW übernahm das Werk. Heu-
te arbeiten 8 000 Menschen bei VW in Zwickau.
Derzeit wird Zwickau zum ersten Werk im Konzern
umgebaut, das nur noch E-Autos produziert – das
klingt nach Zukunft.
Konzerne forschen meist im Westen
Doch getroffen wurde die Entscheidung zur Elek-
trifizierung des Werks nicht in Sachsen, sondern
weit weg in Wolfsburg. Über Arbeitsplätze und In-
vestitionen in den neuen Bundesländern wird
auch heute noch selten vor Ort bestimmt, sondern
in westdeutschen oder ausländischen Konzernzen-
tralen. Bis heute gibt es keinen ostdeutschen Dax-
Konzern, kaum Manager mit Ost-Biografie und nur
wenige große Mittelständler. Unter den 500 größ-
ten deutschen Unternehmen hat nur eine Hand-
voll ihre Zentrale in den neuen Ländern.
Deutschlands erste Börsenliga dominieren nun
einmal Industriekonzerne alter Provenienz, auch
im Westen ist nach 1990 außer Wirecard kein neu-
er Dax-Konzern entstanden. Und große Familien-
unternehmen wachsen quasi per Definition über
Generationen hinweg.
Es gibt durchaus Beispiele erfolgreichen Nach-
wende-Unternehmertums: den Technologiekon-
zern Jenoptik. Oder die Rotkäppchen-Mumm-Sekt-
kellereien, die vom Volkseigenen Betrieb zum
größten Sekthersteller Deutschlands wuchsen.
Oder Büromarkt Böttcher, vom einstigen DDR-Spit-
zenturner Udo Böttcher aus Jena von einem Ko-
pierladen zu einem Online-Bürohändler mit mehr
als 350 Millionen Euro Umsatz aufgebaut. Doch die
Unternehmen sind noch zu klein, um ganze Städte
oder Regionen wirtschaftlich ziehen zu können.
Dass Konzerne und Großbetriebe in Ostdeutsch-
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten
Persönliche wirtschaftliche Lage
„Wie beurteilen Sie Ihre eigene
wirtschaftliche Lage?“
Ost
HANDELSBLATT Repräsentative Umfrage vom 5. bis 17.1.2019; 1 249 Befragte, deutsche Bevölkerung ab 16 Jahren • Quelle: Allensbach, IfD-Umfrage
Erwerbstätige insgesamt
10 %
Schlecht/
eher schlecht
37 %
Es geht
53 %
Sehr gut/
gut
12 %
Schlecht/
eher schlecht
35 %
Es geht
53 %
Sehr gut/
gut
West
„Glauben Sie, dass Sie einen sicheren
Arbeitsplatz haben?“
Ost
10 %
Nein
18 %
Unentschieden
72 %
Ja
10 %
Nein
16 %
Unentschieden
74 %
Ja
West
Demokratie und Wirtschaftssystem
„Glauben Sie, die bundesdeutsche
Demokratie ist die beste Staatsform?“
Ost
23 %
Nein
35 %
Unentschieden
42 %
Ja
10 %
Nein
13 %
Unentschieden
77 %
Ja
West
„Wie ist Ihre Meinung zum
Wirtschaftssystem in Deutschland?“
Ost
14 %
Habe keine gute
Meinung
35 %
Unentschieden
51 %
Habe eine gute
Meinung
21 %
Habe keine gute
Meinung
45 %
Unentschieden
34 %
Habe eine gute
Meinung
West
Äußerer Ring:
Vergleichszahl
1990
5 %
18 % 77 %
Studierende an der
Bauhaus-Universität
Weimar: Für Weltoffen-
heit steht Ostdeutsch-
land derzeit nicht
überall.
Ostdeutschlands unsichere Zukunft
1
(^44) WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167
+DQGHOVEODWW0HGLDURXSPE+ &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHDQQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP