Ostdeutschlands unsichere Zukunft
(^48) WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167
Fünf Strategien für den Osten
Wie lässt sich die wirtschaftliche Lücke zwischen alten und neuen
Ländern schließen? Handelsblatt-Redakteur Martin Greive stellt die
wichtigsten Ideen vor – und unterzieht sie einem Realitätscheck.
Investitionsprogramm
Mehr Wachstum erkaufen
An diesem Mittwoch machte die Bundesregie-
rung Nägel mit Köpfen. Die Große Koalition be-
schloss ein riesiges Hilfspaket für Kohleregionen.
Das Paket gebe den „Menschen Zukunft und
Hoffnung“, sagte Wirtschaftsminister Peter Alt-
maier (CDU). „Wir setzen damit ein Signal, dass
der Staat bereit ist, die Menschen zu unterstüt-
zen, sie nicht allein lässt. Die Regierung hält
Wort.“ Mit Geld wolle man Energie- und Techno-
logieregionen der Zukunft entwickeln.
Der Kabinettstermin vier Tage vor den beiden
Landtagswahlen im Osten war natürlich kein Zu-
fall. Aus dem insgesamt 40 Milliarden Euro
schweren Hilfsprogramm sollen allein 17 Milliar-
den in die Lausitz fließen, um den bis 2038 ge-
planten Kohleausstieg dort abzufedern. Der gro-
ße Geldregen soll dafür sorgen, dass Branden-
burger und Sachsen ihr Kreuz bei der
Landtagswahl nicht bei der AfD machen.
Bereits im Vorfeld des Gesetzesbeschlusses hat-
ten die Ost-Ministerpräsidenten Ideen entwi-
ckelt, wie die Hilfsmilliarden am besten einge-
setzt werden können. Im Bericht der Regie-
rungskommission „Wachstum, Strukturwandel
und Beschäftigung“, der im Januar vorgestellt
wurde, finden sich unzählige konkret durchge-
rechnete Vorschläge. Und damit von den ganzen
Ideen und dem vielen Geld schon vor den drei
ostdeutschen Landtagswahlen was ankommt,
wurden bereits im Frühjahr vor Gesetzesbe-
schluss 240 Millionen Euro freigegeben.
Für Sachsens Ministerpräsident Michael Kretsch-
mer (CDU) stehen „zuerst Infrastrukturprojekte
im Fokus, damit die Region besser und schneller
angebunden wird“. So müsse der Bund die ge-
genüber Polen gegebenen Zusagen zum Ausbau
deutsch-polnischer Bahnstrecken einhalten. In-
nerhalb Sachsens will Kretschmer den S-Bahn-
Verkehr besser miteinander verbinden. Eine gu-
te Anbindung an größere Städte soll nicht nur
weitere Abwanderung aus der Lausitz verhin-
dern, wenn dereinst die Zechen schließen. Die
frischen Milliarden für die Infrastruktur, so die
Hoffnung, könnten der Wirtschaft im Osten ins-
gesamt neuen Schwung verleihen.
Aus Sicht der ostdeutschen Betriebsräte reichen
die zugesagten 17 Milliarden Euro dafür aber
noch nicht aus. Auch abseits der Reviere gebe es
strukturschwache Regionen im Osten, teilten sie
die Woche nach einer Konferenz mit. Es müsse
darum gehen, überall zukunftssichere industriel-
le Arbeitsplätze zu schaffen, etwa auch bei den
Energieanlagenbauern, bei den Windkraftanla-
genherstellern oder den Autozulieferern.
Doch Experten sind bei so viel staatlicher Für-
sorge skeptisch. „Bei Straßen und Schienen gibt
es keine wesentlichen Engpässe im Osten. Die
Betoninfrastruktur steht“, sagt der Magdeburger
Ökonomieprofessor Karl-Heinz Paqué. Natürlich
seien geringfügig hier und da Verbesserungen
möglich. Aber die würden der Wirtschaft nicht
bahnbrechend helfen.
Auch wirft die Wunschliste der Ministerpräsi-
denten Fragen auf. Es gibt etliche Projekte, die
sinnvoll erscheinen. So sollen etwa 1,5 Millionen
Euro in ein Digitalisierungszentrum in Zeitz flie-
ßen. Aber in dem Papier der Regierungskommis-
sion finden sich auch Vorschläge, die mit Struk-
turwandel eigentlich nichts zu tun haben, wie
der Bau von Ortsumgehungen. Oder Anträge für
Projekte in Städten, die gar nicht in den Kohlere-
vieren liegen, wie die Renovierung des Naum-
burger Doms. Die Hilfsmilliarden sind deshalb
nicht nur eine Chance, sondern auch eine Ge-
fahr. Landes- wie Kommunalpolitiker wittern die
Möglichkeit, Vorhaben zu verwirklichen, die sie
immer schon machen wollten, unabhängig vom
Kohleausstieg. „Ich fürchte, die im Rahmen des
Kohleausstiegs bereitgestellten Mittel werden am
Ende nicht viel bringen“, sagt Ökonom Ragnitz.
Wo es dagegen ohne jeden Zweifel großen Nach-
holbedarf gibt, ist bei den Kommunikationsnet-
zen. „Von ihrem Ausbau würde der Osten profi-
tieren, mehr noch als der Westen“, sagt Paqué,
der auch Chef der liberalen Friedrich-Naumann-
Stiftung ist. Eine schnelle Internetverbindung sei
gerade für viele junge Firmen ein entscheiden-
der Faktor.
Neben einer besser ausgebauten Infrastruktur
setzen ostdeutsche Ministerpräsidenten auf eine
weitere Maßnahme: die gezielte Ansiedlung von
Bundesbehörden, so wie es Union und SPD kürz-
lich angekündigt haben. Die Idee dahinter: Mit
mehr Verwaltung vor Ort fühlt sich der Osten
nicht mehr so abgehängt. Und es entstünden
neue gut bezahlte Arbeitsplätze in ostdeutschen
Städten, wovon die gesamte Wirtschaft profitie-
re. Etwa wenn die Beamten in der Mittagspause
zum Imbiss um die Ecke gehen.
So die Theorie. In der Praxis bringt die Ansied-
lung wenig. Beispiel Umweltbundesamt: Die
Bundesbehörde mit ihren 1 500 Mitarbeitern
wurde 2005 von Berlin nach Dessau verlegt. Das
hat aber nicht dazu geführt, dass viele Beamten
nach Sachsen-Anhalt gezogen sind. Stattdessen
pendeln sie jeden Tag von Berlin nach Dessau.
„Wenn die Ministerpräsidenten fordern, Bundes-
behörden auf dem Land anzusiedeln, können sie
ja mit ihren eigenen Landesbehörden anfan-
gen“, ätzt Ökonom Ragnitz. Denn davor schre-
cken Landesregierungen zurück. Tun sie es
doch, merken sie, wie schwierig das ist. Die Lan-
desregierung in Brandenburg will das Wissen-
schaftsministerium 2023 von Potsdam nach Cott-
bus verlegen. Doch der Plan stößt auf Wider-
stand, auch aus den eigenen Reihen. „Die
Ansiedlung von Behörden ist doch keine ernst-
hafte Lösung“, sagt Ragnitz. Der Wegzug in klei-
nere Städte fernab des politischen Geschehens
verstärke nur das Problem der Behörden, über-
haupt Beamte zu finden.
Handelsblatt-Bewertung: Bei staatlichen
Investitionen im Osten kommt es aufs Detail an.
Straßen gibt es dort inzwischen genug, bessere
Datennetze sind wichtiger.
Jugendliche in
Welzow in der
Lausitz:
Perspektiven für
die Zeit nach dem
Kohleaus.
Alexander Rossbach / VISUM
17
MILLIARDEN
Euro Staatshilfe
sollen in die Lausitz
fließen, um den
Braunkohleausstieg
abzufedern.
Quelle:
Bundesregierung
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