Ostdeutschlands unsichere Zukunft
WOCHENENDE 30./31. AUGUST / 1. SEPTEMBER 2019, NR. 167^51
Allensbach-
Chefin Köcher:
Daten plus
Einordnung.
Désirée Good/13 Photo [M]
W
enn es darum geht, die Befindlich-
keit der Deutschen nicht nur zu
vermessen, sondern auch zu inter-
pretieren – dann führt kein Weg
am Bodenseestädtchen Allensbach vorbei. Dort lei-
tet Renate Köcher das Institut für Demoskopie, das
älteste deutsche Meinungsforschungsinstitut.
Frau Professor Köcher, in den ostdeutschen Bun-
desländern Brandenburg und Sachsen wird am
Sonntag gewählt. Was wird auffällig sein?
Wir selbst machen keine Umfragen zu Landtags-
wahlen, aber die bisherigen Umfragen der Kolle-
gen sind eindeutig: AfD und Grüne werden deut-
lich dazugewinnen. Die beiden großen Volkspar-
teien CDU und SPD werden dagegen erheblich Fe-
dern lassen müssen.
Während der Siegeszug der Grünen in ganz
Deutschland anhält, ist die AfD in den neuen Län-
dern ein besonderes Phänomen. Woran liegt das?
In Ostdeutschland existieren einfach viel weniger
gewachsene Parteibindungen. Und vor allem haben
wir uns in der Vergangenheit zu wenig mit der Fra-
ge beschäftigt: Was bedeutet die demografische
Entwicklung Ostdeutschlands eigentlich wirklich?
Klären Sie uns bitte auf!
Ostdeutschland hat eine völlig andere Altersstruk-
tur, da im Laufe der vergangenen 20, 25 Jahre rund
3,5 Millionen vorwiegend jüngere Menschen weg-
gezogen sind. Weite Landstriche dort haben des-
halb mittlerweile das Gefühl, keine Zukunft mehr
zu haben, weil sich dort die Einschätzung verfestigt
hat, dass die eigene Region für junge Leute nicht
attraktiv ist. Die demografische Struktur macht
gleichzeitig viele Regionen als Standort weniger at-
traktiv. Es fehlt an Perspektiven, die Infrastruktur
ist teilweise unbefriedigend, beispielsweise ist der
Ärztemangel in Ostdeutschland wesentlich ausge-
prägter vorhanden als im Westen.
Abgehängte Regionen gibt es auch im Westen ...
... allerdings deutlich weniger als in Ostdeutsch-
land. Die AfD ist ein Sammelbecken für Enttäusch-
te und die, die den Eindruck haben, dass in diesem
Staat alles falsch läuft. Früher fanden diese Leute
eher bei der Linken eine politische Heimat, heute
bei der AfD.
Eint da tatsächlich vor allem das diffuse Gefühl,
abgehängt zu werden? Oder geht es den Menschen
wirklich wirtschaftlich schlechter?
Die materielle Situation der meisten ostdeutschen
Bürger ist nicht schlecht: Die Arbeitslosigkeit ist auch
im Osten deutlich zurückgegangen, die Einkommen
und Renten sind im Durchschnitt gestiegen und da-
mit auch die Zufriedenheit mit der eigenen finanziel-
len Lage. Aber das alles kann bisher das weit ver-
breitete Gefühl nicht kompensieren, in einer Weg-
zugsregion zu leben, die ihre Jugend verliert. Über
40 Prozent der Ostdeutschen haben diesen Ein-
druck, mehr als zwei Drittel sind überzeugt, dass die
Chancen für junge Leute im Westen besser sind.
Ist die AfD also vor allem Profiteur eines demogra-
fischen Problems, weil die jungen Wähler, die
sonst eher irgendwo zwischen Links, Grün und
Mitte wählen, den neuen Bundesländern abhan-
dengekommen sind?
In Ost wie West setzte der Aufschwung der AfD mit
der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 ein. Aber in
Ostdeutschland kommt das demografische Pro-
blem hinzu. Das Statistische Bundesamt geht da-
von aus, dass dort in gut zehn Jahren auf 100 Men-
schen im erwerbsfähigen Alter 59 kommen, die
über 65 Jahre alt sind. Von solchen Zahlen ist der
Westen weit entfernt.
Was also tun?
Das ist die Frage, über die meines Erachtens in den
letzten zehn, zwanzig Jahren zu wenig debattiert
wurde. Anfangs wurden ja Sonderwirtschaftszonen
ins Gespräch gebracht, aber nicht ernsthaft weiter-
verfolgt. Auch Vorschläge aus der letzten Zeit, vor
allem die vitalen Zentren in Ostdeutschland zu för-
dern in der Hoffnung, dass sie auf größere Regio-
nen ausstrahlen, werden zu wenig diskutiert. Wir
brauchen viel intensivere, offene Debatten über die
faktischen Probleme. Stattdessen fokussiert sich
die Aufmerksamkeit und Aufregung auf die AfD-
Sympathien – das ist viel zu vordergründig.
Bei einer Studie Ihres Instituts kam im Winter he-
raus: Nur noch 44 Prozent der Ostdeutschen hal-
ten die hiesige Demokratie für die beste denkbare
Staatsform, im Westen sind es immerhin 77 Pro-
zent. Ähnlich misstrauisch werden auch Themen
wie Marktwirtschaft, Zuwanderung, Europa gese-
hen. Hilft auch diese Grundskepsis der AfD?
Ja. Es ist zwar nicht so, dass die Ostdeutschen an-
dere Gesellschafts- oder Wirtschaftssysteme favori-
sieren würden. Aber die Identifikation mit den be-
stehenden Systemen ist deutlich geringer.
Woran liegt das?
Da kann ich nur mutmaßen. Aber in Ostdeutsch-
land gibt es immer noch weitverbreitet das Gefühl,
dass es ein westliches System ist, das man zwar
übernommen hat, aber nicht selbst beeinflusst.
Müssten die Ostdeutschen da nicht viel aufge-
schlossener sein? Sie haben immerhin selbst jene
Revolution angezettelt, die zur Wiedervereini-
gung führte. Den Westdeutschen wurde ihre De-
mokratie eher von den Alliierten „verordnet“.
Die westdeutsche Bevölkerung hat nicht das Ge-
fühl, das System übernommen zu haben. In Ost-
deutschland gab es aber anfangs sogar eine Identi-
fikation gerade auch mit dem Wirtschaftssystem,
wie wir es so ausgeprägt im Westen nie gesehen
hatten. Das erodierte dann rasch, als nach dem ers-
ten Boom die wirtschaftliche Krise kam. Die Ent-
täuschung fiel dann umso größer aus.
Wir feiern bald 30 Jahre Mauerfall. Wie lange wird
es dauern, bis die Einheit wirklich vollzogen ist?
Die Bedeutung historischer Prägungen wird oft
und wurde auch hier unterschätzt. Es gibt keine
Stunde null. Die Menschen bringen immer ihre Ge-
schichte, ihre Prägungen und Vorstellungen mit
ein. Insofern würde ich keine Prognose wagen, wie
lange das Zusammenwachsen noch dauern wird.
Tatsächlich gibt es noch große Unterschiede.
Wo zum Beispiel?
Neben der Identifikation mit dem politischen und
wirtschaftlichen System sind es vor allem die re-
ligiösen Orientierungen, die Parteipräferenzen,
teilweise auch die Mediennutzung sowie be-
stimmte politische Positionen wie die Haltung zu
Russland. Im Osten ist etwa der Wunsch deutlich
ausgeprägter, mit Russland bessere Beziehungen
zu pflegen.
Gibt es auch Entwicklungen, die zum Optimismus
Anlass geben?
Natürlich: Zum einen die Entwicklungen auf dem
Arbeitsmarkt, die vitalen Zentren, die es in Ost-
deutschland ja durchaus gibt, aber auch bei den ge-
nerellen Wertvorstellungen gibt es durchaus einen
breiten Konsens.
Auch beim Thema Zuwanderung?
Ostdeutschland tut sich deutlich schwerer mit dem
Thema, obwohl es weit weniger Erfahrung damit
hat. Aber offensichtlich ist die Haltung zu Migration
eben auch eine Frage der Erfahrung und Gewöh-
nung. Und es spielen auch wirtschaftliche Rahmen-
bedingungen eine Rolle, die nach wie vor in weiten
Teilen Westdeutschlands besser sind. Zur Zeit der
Wachstumsschwäche 2000 bis 2005 wurde auch
im Westen die Haltung zu Migration kritischer.
Was sagen die bevorstehenden Wahlen über die
momentane Verfasstheit der gesamten Republik?
Die Volksparteien haben ja in Ost wie West an
Rückhalt verloren; das hat aber auch damit zu tun,
dass die Koalition in Berlin wie eine Zwangsehe
wirkt. Die Bevölkerung will eine starke, handlungs-
fähige Regierung und nimmt Volksparteien im All-
gemeinen übel, wenn sie zu viel Zeit auf interne
Auseinandersetzungen verwenden.
Warum erzielt die AfD eigentlich in abgehängten
Regionen Westdeutschlands keine ähnlichen Er-
folge wie in den neuen Bundesländern?
Es gibt teilweise regional enger begrenzt durchaus
Parallelen, aber die Bindungen an die etablierten
Parteien sind im Westen größer.
Haben die etablierten Volksparteien den Osten zu
lange vernachlässigt?
Nein, so würde ich das nicht sagen, aber Medien,
Politik und Gesellschaft haben sich zu wenig mit
den spezifischen Problemen auseinandergesetzt.
Uns wurde öfter vorgehalten, unsere Betonung von
Unterschieden zwischen Ost und West sei überholt
und schädlich. Erst die Wahlergebnisse der letzten
Zeit haben dazu geführt, dass wieder genauer hin-
geschaut wird.
Trauen Sie der SPD noch ein Comeback zu?
Mir klingt die Warnung eines Managers in den Oh-
ren, der mir sagte: „Das elfte Gebot heißt: Du sollst
nicht extrapolieren!“ Man ist immer in Versu-
chung, aus dem Moment heraus Entwicklungen
fortzuschreiben. Insofern sind viele zurzeit ver-
sucht, der SPD zu attestieren, dass sie ihre Zukunft
hinter sich hat ...
... zumal man sich schon sorgen muss, ob sie in
Sachsen die Fünf-Prozent-Hürde schafft.
Ich rate zur Vorsicht. Wer hätte den Grünen, die
bei der Bundestagswahl gerade einmal neun Pro-
zent erhalten haben, einen Sprung auf um die 25
Prozent zugetraut?
Frau Professor Köcher, vielen Dank für das Inter-
view.
Die Fragen stellten Christian Rickens und
Thomas Tuma.
Renate Köcher
„Sammelbecken für Enttäuschte“
Die Allensbach-Chefin über den
Bevölkerungsschwund in
Ostdeutschland und seine Folgen.
Demoskopin Köcher,
Jahrgang 1952, stu-
dierte VWL, Politik
und Soziologie,
arbeitete anschlie-
ßend beim Institut
für Demoskopie
Allensbach. Dort
stieg sie 1988 zur
Geschäftsführerin
auf.
Ratgeberin Köcher
ist Aufsichtsrätin bei
BMW und Infineon.
Außerdem ist sie
Vorstandsmitglied in
der Stiftung, die Aldi
Süd kontrolliert.
Vita
Renate Köcher
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