30 WIRTSCHAFT & FINANZEN WELT AM SONNTAG NR.34 25.AUGUST2019
ehr Stahl, mehr Beton,
kompliziertere Sicher-
heitscodes: Das wün-
schen sich die Kunden
von Markus Hartmann.
Über geringe Nachfrage kann sich der
Tresorhersteller aus Paderborn nicht
beschweren. „Wenigstens zu Hause
wollen die Leute ihr Erspartes sicher
wissen“, sagt er.
VON ANNE KUNZ
Bedroht sehen es seine Kunden aber
nicht in erster Linie durch Räuber –
sondern durch Mario Draghi. Der noch
amtierende Präsident der Europäischen
Zentralbank hat die Zinsen in den letz-
ten Jahren auf ein bis dahin nicht vor-
stellbares Niveau gesenkt.
Selbst Privatleute müssen
für große Summen auf
dem Konto inzwischen
Negativzinsen bezahlen.
Und Draghi hat jüngst an-
gekündigt, dass sich daran
vorerst nichts ändern
wird. Das hat absurde Fol-
gen. Frankfurter Banker
erzählen, dass Institute
darüber nachdenken, Tre-
sorräume wieder in Be-
trieb zu nehmen, um dort
große Mengen Bargeld zu
bunkern – weil die EZB
darauf keinen Strafzins
erheben kann.
Ob es tatsächlich so
kommen wird, ist fraglich.
Doch die Gedankenspiele
offenbaren Verzweiflung,
nicht nur bei den Banken.
Seit Jahren müssen deut-
sche Sparer beobachten,
dass sich ihr zurückgeleg-
tes Geld nicht mehr ver-
mehrt. Die Grundlagen
des Wirtschaftssystems
stehen Kopf. Ohne Zins ist
die Funktionsweise des
Kapitalismus fundamental
gestört. Der Zins fördert
Wachstum, indem er die Bereitstellung
von Kapital für Investitionen belohnt.
Er verhindert die schlimmsten Kredit-
exzesse, indem er mit größerem Ausfall-
risiko steigt. Und er animiert zur Akku-
mulation von Vermögen, weil er dieses
vor Wertverfall schützt und vermehrt.
Der Zins ist der Preis des Geldes. Heute
muss es allerdings heißen: Er war.
Die Situation wird sich bald weiter
verschärfen. Schon im September könn-
te die EZB den Zins noch weiter ins Mi-
nus drücken. Dann könnten Banken be-
ginnen, anders als bisher nicht nur von
Groß-, sondern auch von ganz normalen
Kunden Verwahrgebühren für ihnen an-
vertrautes Geld zu verlangen. Bayerns
Ministerpräsident Markus Söder (CSU)
hat bereits ein Verbot negativer Zinsen
vorgeschlagen, um die Bürger vor den
Folgen der Politik der EZB zu schützen.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
lässt seine Beamten prüfen, ob das ver-
fassungsrechtlich möglich wäre.
„Mittlerweile ist ein Punkt erreicht,
an dem es an die Substanz unseres Ge-
sellschaftssystems geht“, sagt der ehe-
malige Bundesverfassungsrichter Paul
Kirchhof. „In einer Welt ohne Zins sind
zentrale Eigenschaften des Geldvermö-
gens und damit des Eigentums gestört.“
Sparer würden durch die aktuelle Situa-
tion genötigt, ihr Geld möglichst
schnell auszugeben und seien damit in
ihrer Verfügungsfreiheit beschränkt.
Zudem sei die Funktion von Geld als
Mittel zur Bewahrung von Werten ge-
stört. „Damit sind wichtige Eigenschaf-
ten des Eigentums verletzt, die das
deutsche Grundgesetz unter Schutz
stellt“, so Kirchhof.
WELTFREMDE STRATEGIE Der ge-
sellschaftliche Sprengstoff ist enorm.
Der Verzicht auf sofortigen Konsum
wird nicht mehr durch Zins und Zinses-
zins belohnt. Schon Schulkinder müs-
sen heute manchmal erkennen, dass das
Geld auf ihrem Sparbuch weniger wird
und nicht mehr. „Dass es keinen Anreiz
zum Sparen mehr gibt, führt zu hoher
Verunsicherung“, sagt Stefan Schneider,
Chefvolkswirt für Deutschland bei der
Deutschen Bank.
Dabei ist es durchaus die Absicht der
Zentralbank, den Menschen die Lust
am Sparen zu verderben. Um die Ent-
wertung des Geldes zu verhindern, so
ihr Kalkül, sollen es die Bürger lieber
ausgeben und damit die Wirtschaft an-
heizen. Der Ökonom Peter Bofinger
glaubt allerdings, dass diese Strategie
kontraproduktiv ist. „Ökonomische
Modelle, in denen durch niedrigere
Zinsen oder gar Minuszinsen die Er-
sparnisse zurückgehen und der Kon-
sum ansteigt sind absolut weltfremd.
Das Gegenteil ist der Fall“, sagt er.
Durch die niedrigen Zinsen werde es
immer schwieriger, ausreichend für das
Alter vorzusorgen. Um auf die ge-
wünschte Summe zu kommen, müss-
ten die Bürger nun mehr Geld zurück-
legen. Erschwerend komme hinzu, dass
die Deutschen viel zu wenig in Aktien
und Immobilien investieren würden.
Auf dem Sparbuch ist die Geldentwer-
tung jedoch besonders stark.
Wie stark das kapitalistische System
bereits unterminiert ist, offenbart die
Situation der Unternehmen. Trotz der
historisch niedrigen Zinsen wagen sie
es kaum, zu investieren. Damit drohen
sie bei wichtigen Innovationen zurück-
zufallen. Ein Zustand, der in der ökono-
mischen Theorie bisher nur in Kombi-
nation mit wirtschaftlicher Stagnation
denkbar war. „Wir befinden uns aktuell
in einer historischen Anomalie, die in
keine ökonomische Theorie passt“, sagt
Stefan Homburg, Profes-
sor an der Universität
Hannover. Für ihn ist es
unerklärlich, dass die Kre-
ditnachfrage nicht stärker
ansteigt. „Bei einem Zins
von Null haben viele Sach-
werte einen unendlich ho-
hen Gegenwartswert, es
lohnt sich dann immer, zu
investieren, und fast jeder
Preis ist dann denkbar“,
sagt Homburg. Trotzdem
sei es noch immer nicht
zu einer dramatischen
Verteuerung gekommen.
Offenbar seien die Banken
bei der Kreditvergabe res-
triktiver als bisher ange-
nommen, glaubt er.
AUSWEGSLOSEine Rol-
le spielen dürften auch
Unsicherheit und Angst.
„Viele Investoren glauben
mittlerweile, dass der
niedrige Zins und die Viel-
zahl globaler Risiken, wie
etwa der drohende Brexit,
zeigen, dass wir uns in ei-
ner extrem fragilen Situa-
tion befinden“, sagt Deut-
sche-Bank-Chefvolkswirt
Schneider. Ein weiter fallender Zins ha-
be daher eine negative Signalwirkung
und könnte dafür sorgen, dass die Un-
ternehmen noch weniger investieren.
Offenbar seien die Erwartungen we-
sentlich wichtiger als der Zins.
Wirkungslos ist der niedrige Zins
dennoch nicht. Er hält marode Unter-
nehmen durch Kreditspitzen künstlich
am Leben. Die Selbstheilungskräfte der
Wirtschaft werden verhindert. Der
Ökonom Hans-Werner Sinn spricht von
„Zombie-Unternehmen“ – und fürchtet
ein wirtschaftliches Siechtum.
Die Situation ist quasi auswegslos: Ei-
ne Kurskorrektur, ein baldiger Zinsan-
stieg, würde die Wirtschaft zum Kolla-
bieren bringen. In den USA denken Öko-
nomen daher bereits um. In einem aktu-
ellen Papier bezweifelt der frühere Har-
vard-Präsident Larry Summers, dass die
Geldpolitik – und damit der Zins – wei-
terhin die zentrale Rolle bei der gesamt-
wirtschaftlichen Stabilisierung spielen
könnte. Es wäre das Ende es Kapitalis-
mus, wie wir ihn bisher kennen.
Du sollst nicht sparen!
TTTresor statt Geldanlage resor statt Geldanlage Auf Bares wird kein Strafzins erhoben
GETTY IMAGES
/TIPP HOWELL
Mit ihrer Zinspolitik
will die Notenbank
die Bürger dazu
bringen, ihr Geld
auszugeben. Sie
stellt damit das
Wirtschaftssystem
auf den Kopf
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Quelle: Bundesbank, Peter Bofinger
Sparen
in Prozent des verfügbaren gesamt-
wirtschaftlichen Einkommens
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Staat Private Haushalte
Nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften
Finanzielle Kapitalgesellschaften
RELEASED
lässt seine Beamten prüfen, ob das ver-
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fassungsrechtlich möglich wäre.
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Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
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Folgen der Politik der
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vorgeschlagen, um die Bürger vor den
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lässt seine Beamten prüfen, ob das ver-
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fassungsrechtlich möglich wäre.
TELEGRAM:
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„Mittlerweile ist ein Punkt erreicht,
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an dem es an die Substanz unseres Ge-an dem es an die Substanz unseres Ge-TELEGRAM:
t.me/whatsnws
Folgen der Politik der
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lässt seine Beamten prüfen, ob das ver-
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lässt seine Beamten prüfen, ob das ver-
fassungsrechtlich möglich wäre.fassungsrechtlich möglich wäre.t.me/whatsnws