Gewaltdarstellungen, über sein Frauen-
bild? Ausgerechnet in einem Film über den
Mord an Sharon Tate? Oder spielt auch
dieses Werk wieder nur in Tarantinos ei-
gener Welt?
Die erste Überraschung: »Once Upon
a Time in Hollywood« ist kein brutaler
Thriller, sondern über sehr weite Strecken
- der Film dauert 2 Stunden und 41 Minu-
ten – eine Art Tragikomödie, eine nostal-
gische Liebeserklärung an das Los Angeles
von 1969.
Zweite Überraschung: Eine Nebenrolle
wird gespielt von Lena Dunham, der Erfin-
derin der Serie »Girls«. Der Twitterprotest
ihres Produzenten Judd Apatow gegen das
Projekt hat sie offenbar nicht gestört. Viel-
leicht war die Gage einfach zu gut. $$$$!
Dritte Überraschung: A star is born! Ta-
rantino hat eine großartige neue Schau-
spielerin entdeckt: Julia Butters spielt in
zwei Szenen mit Leonardo DiCaprio, dem
Oscarpreisträger. Gegen Butters’ Charisma
hat DiCaprio keine Chance. Vielleicht liegt
es auch darin, dass sie ein bisschen sich
selbst spielen darf, einen altklugen Kinder-
star nämlich, der in Drehpausen eine Bio-
grafie über Walt Disney liest. Julia Butters
ist zehn Jahre alt.
Nächste Überraschung, Zufall oder nicht:
Die Hauptfigur des Films ist ein Mann, der
den Höhepunkt seiner Karriere seit Jahren
hinter sich hat – und das auch weiß. Er
heißt Rick Dalton, ein mittel mäßiger
Schauspieler, mit großer Lust zur Übertrei-
bung verkörpert von Leo nardo DiCaprio.
Dalton war einst der Star einer Western-
fernsehserie, Plakate seiner Er folge hängen
in seinem Haus in den Hollywood Hills.
Mittlerweile schlägt sich Dalton mit Gast-
rollen durch; er spielt den Bösewicht, je-
nen Typen, der am Ende verprügelt wird
oder stirbt. Nicht einmal Auto darf Dalton
fahren, weil er im Suff seinen Führerschein
verloren hat.
Zum Glück hat er Cliff Booth (lässig:
Brad Pitt). Cliff war ursprünglich nur Dal-
tons Stuntdouble, bei gefährlichen Dreh-
arbeiten fiel er für ihn vom Pferd. Mitt -
lerweile ist er auch sein Chauffeur, sein
Hausmeister, sein bester Kumpel, viel-
leicht sogar sein einziger. Cliffs bester
Kumpel wiederum ist sein Hund, ein Pit-
bull. Herrchen und Hund passen perfekt
zusammen. Beide wirken harmloser, als
sie möglicher weise sind.
Denn über Cliff Booth hält sich das Ge-
rücht, er habe seine Frau umgebracht,
»und er ist damit durchgekommen«, wie
in einer Szene ein Kollege von Cliff be-
hauptet. Üble Nachrede? Tarantino löst
das Rätsel nicht auf. In einer kurzen Se-
quenz – Rückblende? Traum? – sieht man
Cliff und eine Frau auf einem Boot. Die
Frau schimpft, Cliff hält eine Harpune in
der Hand, das war’s. Doch allein der Ver-
dacht, er habe einer Frau Gewalt angetan,
hat Konsequenzen für Cliff: Ein Filmstudio
will nicht mehr mit ihm arbeiten. Man
kann darin eine Anspielung auf die #Me-
Too-Debatte erkennen.
In einer anderen Szene macht eine jun-
ge Frau dem Stuntman eindeutige Avan-
cen. Tarantino, wie Brad Pitt Jahrgang
1963, reizt in dieser Szene seine sehr spät-
pubertären Fantasien noch einmal aus, ein
Spiel mit dem Feuer. Aber er hat offenbar
mittlerweile verstanden, wann Schluss ist
mit lustig. Cliff weist die junge Frau ab,
Begründung: Sie sei noch nicht volljäh-
rig. Die hermetische Welt des Regisseurs
scheint durchlässiger zu werden für jene
Regeln, die außerhalb seiner Filme gelten.
Rick Dalton und Cliff Booth sind Taran-
tinos Erfindungen; die dritte Hauptfigur
von »Once Upon a Time in Hollywood«
gab es tatsächlich: die Schauspielerin Sha-
ron Tate, im Film Daltons Nachbarin, ver-
körpert von Margot Robbie. Wie eine
dunkle Wolke hängt Tates Schicksal über
diesem Film, eine Vorahnung. Die Zu-
schauer wissen, dass dieses Hollywood-
märchen in Wahrheit ein schreckliches
Ende nahm. Sie wissen aber auch, dass der
Regisseur in seinen Filmen mitunter die
Zeitgeschichte umschreibt.
Am 9. August 1969 wurde Sharon Tate,
26 Jahre alt, im achten Monat schwanger,
in ihrem Haus am Cielo Drive in den Hol-
lywood Hills von Mansons Anhängern mit
16 Messerstichen ermordet, gemeinsam
mit vier weiteren Menschen. Mit Blut
schrieben die Täter »Pig« an die Haustür.
Jeder Auftritt Margot Robbies in »Once
Upon a Time in Hollywood« wirkt deshalb
wie ein Abschied, ein Nachruf. In einer Sze-
ne geht sie ins Kino, es läuft »Rollkomman-
do«, eine Agentenkomödie von 1968 mit
Dean Martin – und mit Sharon Tate. Die
Schauspielerin schaut sich also ihren eige-
nen Film an, sie macht es sich im Kinosessel
bequem, ihre nackten Füße ruhen auf der
Lehne vor ihr. Sie genießt die Reaktionen
der anderen Zuschauer, sie strahlt, sie lacht.
Die Frau auf der Leinwand, im Film im
Film, ist allerdings nicht Margot Robbie,
sondern die echte Sharon Tate.
Es ist die berührendste Szene, die je in
einem Tarantino-Film zu sehen war.
Martin Wolf
DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 113
Time in Hollywood«-Premiere in Rom am 2. August: Nostalgische Liebeserklärung
RICCARDO ANTIMIANI / AP