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iere fühlen nicht, Tiere denken
nicht, sie haben auch kein Be-
wusstsein, so sahen es die Men-
schen über Jahrhunderte, so se-
hen es viele noch heute. Deshalb ignorie-
ren sie auch einen Zustand wie diesen:
Eine Sau wird künstlich besamt. Man hält
sie in einem engen Stand aus Metallgit-
tern gefangen. Sie steht bis zu vier Wo-
chen lang den ganzen Tag am selben
Fleck. Sie schläft dort, uriniert, sie son-
dert Exkremente ab. Hochschwanger
kommt sie später wieder unter einen en-
gen Metallkorb in der Abferkelbucht.
Rund drei Wochen nach der Geburt
nimmt man dem Tier die Ferkel weg, um
sie zu mästen und zu schlachten. So in
etwa sieht das Leben einer normalen
deutschen Zuchtsau aus.
Die abstrakte Form eines Filets oder
Koteletts lässt uns Verbraucher vergessen,
woher das Fleisch in der Kühltheke
kommt. Inzwischen drängt sich das The-
ma aber stärker ins Bewusstsein: Wie viel
Leid ist einem Tier zuzumuten? Inzwi-
schen ist es auch in der Politik angekom-
men. Es geht um einen respektvollen Um-
gang mit dem Tier, die Sorge um sein
Wohlergehen, die Regeln, die man dafür
aufstellen müsste, und die Frage, wie sich
das alles finanzieren ließe. Politiker von
SPD und Grünen forderten zuletzt, die
Mehrwertsteuer auf Fleisch zu erhöhen.
Doch löst teureres Fleisch automatisch
auch die Probleme im Stall?
Julia Klöckner (CDU), Bundesland-
wirtschaftsministerin, will ein neues
Label einführen, um ab 2020 Produkte
hervorzuheben, die mehr Tierwohl ge-
währleisten, als der gesetzliche Min -
deststandard erfordert. Doch Initiativen
wie diese kratzen allesamt an der Ober-
fläche von sehr grundsätzlichen Fragen:
Welche Würde schreibt die Gesellschaft
einem Tier zu? Braucht es einen neuen
ethischen Kodex für den Umgang mit
ihm?
Der Blick auf das Tier hat sich verän-
dert, auch weil sich die historischen Um-
stände gewandelt haben. Durch die In-
dustrialisierung wurde die Landwirt-
schaft intensiviert. Der technische Fort-
schritt hat sie hocheffizient gemacht; die
Kosten wurden minimiert, die Bestände
maximiert, die gezüchteten Rassen wur-
den produktiver. Der Staat förderte die
Entwicklung mit Milliarden Euro. Doch
diese Art der Massenproduktion behagt
vielen nicht mehr. Selbst bei Fleischlieb-
habern hat sich der Blick auf das Tier ver-
ändert, auch deshalb, weil die Wissen-
schaft neue Erkenntnisse gewonnen hat.
Tiere, das ist die Kernbotschaft, seien
dem Menschen näher als lange angenom-
men. Sie sind soziale Wesen mit vielfälti-
gen Gefühlen und haben sogar eine Art
Bewusstsein.
Der brutale Tod
Schlachthof in Oldenburg, Niedersachsen,
- Ein dunkelbraunes Rind purzelt
durch die Öffnung. Um sein rechtes Hin-
terbein zieht sich eine Schlinge, mit einem
Seilzug wird der schwere Mastkörper nach
oben gewuchtet. Das Tier hängt jetzt
kopfüber an nur einem Bein und fährt so
seinem Ende entgegen. Es zappelt. Es win-
det sich. Der Schlachter sticht in die Hals-
schlagader. Ein Blutschwall schießt heraus.
Das Tier erlebt in diesem Moment seinen
Tod in einem nicht bewusstlosen Zustand.
Die Bilder stammen aus einem Video, das
Tierschützer heimlich auf dem Schlachthof
gefilmt haben.
Es ist nicht einfach, in Deutschland einen
Schlachthof zu besuchen. Wem es doch
gelingt, der sieht Schweine, die das Blut
anderer Schweine riechen können. In
Gruppen laufen sie in eine Art Aufzug, wo
sie mit CO
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betäubt werden, es folgen der
Stich in die Halsschlagader, das Ausbluten.
Kontrollen an Schlachthöfen ergeben,
dass Betäubungen nicht immer funktionie-
ren, dass Geräte schmutzig oder verrostet
sind, dass die Tiere in Wartegattern ohne
Witterungsschutz ausharren müssen. Der
Schlachthof in Oldenburg wurde später ge-
schlossen, als Folge des Videos stornierten
Großunternehmen Aufträge. Die Staats-
anwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Die-
ser Fall ist aufgeflogen, wie viele andere
es gibt, weiß niemand. Obschon immer
wieder debattiert, gibt es an deutschen
Schlachthöfen keine Kamerapflicht.
Dabei zeigt sich dort, dass die Probleme
schon weit vorher beginnen: Rinder, die
so hochgemästet wurden, dass sie wunde
Knöchel haben. Abgemagerte Milchkühe,
die es manchmal kaum schaffen, eigenstän-
dig den Lkw zu verlassen, mitunter müs-
sen die Tiere mit Elektrotreibern traktiert
werden. Schweine, denen der Ringel-
schwanz entfernt wurde, weil sie in den
konventionellen Ställen, wo ein großes
Tier 0,75 Quadratmeter Platz hat, so ge-
stresst und gelangweilt sind, dass sie sich
gegenseitig beißen und verletzen. Vor Ort
erfassen Tierärzte den Zustand der Tiere.
In Deutschland gibt es jedoch keine zen-
trale Datenbank, in die sie ihre Ergebnisse
einspeisen könnten.
Die Mutterliebe der Kuh
Ein Ort am mittelfränkischen Brombach-
see, 2016. Das Stierkalb Zeus wird im Alter
von drei Monaten an einen 500 Meter ent-
fernten Nachbarhof verkauft. Zeus’ braun-
weiße Mutterkuh Helga brüllt daraufhin
Tag und Nacht nach ihrem Jungen. Das
kleine Stierkalb hört sie und antwortet. Es
büxt immer wieder aus. Es springt über die
Boxenwand, läuft durchs Dorf, immer zum
Stall seiner Mutter. Nach mehreren Tagen
und Ausbrüchen hat der Bauer genug. Er
ruft bei einem Gnadenhof für gerettete Tie-
re an, Gut Aiderbichl. Zeus und Helga wer-
den abgeholt. Beide Tiere verhalten sich
beim anschließenden Transport völlig ru-
hig. Bis heute leben Kuh und Kalb in Eslarn
in der Oberpfalz.
Tiere seien seelenlose »Automaten«,
glaubte der französische Philosoph René
Descartes im 17. Jahrhundert. Er sprach
ihnen Denken, Gefühle und sogar ein
Schmerzempfinden ab.
Es ist noch kein Jahr her, dass der Bun-
destag mit einer Mehrheit aus CDU/CSU,
SPD und AfD entschied, das betäubungs-
lose Kastrieren männlicher Ferkel bis zum
siebten Lebenstag weitere zwei Jahre lang
zu erlauben, allen wissenschaftlichen Er-
kenntnissen zum Trotz. Wenn ein Ferkel
ohne Betäubung kastriert wird, ihm die
Hoden entfernt werden, dann schreit es in
einer anderen, höheren Tonlage als sonst.
»Wir haben dazu bioakustische Versuche
unternommen«, sagt der Verhaltensfor-
scher Birger Puppe, »die Tiere leiden unter
heftigen Schmerzen.«
Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich
der Wissenschaftler am Leibniz-Institut
für Nutztierbiologie in Dummerstorf,
Mecklenburg-Vorpommern, vor allem mit
einer Frage: Wie geht es dem Tier? Dabei
befasst er sich längst nicht mehr mit kör-
perlichem Schmerz, sondern mit psy-
chischem Befinden.
Das Gehirn von Rindern und Schwei-
nen ist ähnlich aufgebaut wie das des Men-
schen. »Wie wir sind sie in der Lage, Sin-
neseindrücke zu bewerten und in Gefühle
DER SPIEGEL Nr.33 / 10. 8. 2019 29
UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK / IMAGO IMAGES
Landwirtschaftsministerin Klöckner
Initiativen kratzen an der Oberfläche