zu überschreiben«, sagt Puppe.
Verantwortlich dafür ist das
limbische System, eine Funk -
tionseinheit des Gehirns, die der
Verarbeitung von Emotionen
dient. Tiere fühlen eine Art von
Angst, Neugier, Freude und auch
etwas, das man Liebe nennen
könnte. Dabei spielen die glei-
chen Botenstoffe eine Rolle, die
auch den Menschen beeinflus-
sen: das Bindungshormon Oxy-
tocin, das Stresshormon Cor -
tisol, das Glückshormon Sero -
tonin.
Schweine haben Spaß daran,
Dinge zu erkunden und Neues
zu lernen. Sie hängen an ihrer
Mutter, beschützen ihre Jungen
und bauen Bindungen zu ande-
ren Tieren auf. Sie beschnüffeln
sich gegenseitig und schlecken
sich ab, sie kuscheln. Dass ihnen
das guttut, lässt sich messen. Ver-
suche mit Kühen deuten darauf
hin, dass die Tiere sogar so etwas
wie Empathie empfinden. Ein
Rind, das in eine neue Gruppe
kommt, scheint etwa den ge-
stressten Gemütszustand seiner
Artgenossen zu erkennen und reagiert
ebenfalls gestresst darauf.
Die kognitiven Fähigkeiten von Nutz-
tieren, auch Hühnern, sind erstaunlich.
Sie haben ein ausgeprägtes räumliches
Vorstellungsvermögen, sie können sich
Dinge merken, und sie sind sogar in der
Lage, sich zukünftige Ereignisse vorzustel-
len oder – wie bei Schweinen experimen-
tell gezeigt – sich in einem Spiegel selbst
zu verorten.
»Tiere sind die Opfer der Geschichte«,
sagt der israelische Historiker Yuval Noah
Harari. Erst trug der Mensch dazu bei, vie-
le große Säugetierarten auszurotten, dann
begann er, einzelne zu domestizieren. Das
Bankivahuhn etwa, ein in Südasien heimi-
scher wilder Vogel. Seine Nachfahren be-
völkern heute zu Milliarden den Erdball.
Gemeinsam mit Schweinen und Rindern
gehören Hühner zu den evolutionär erfolg-
reichsten Tierarten des Planeten, dank
dem Menschen. »Aber ihren kollektiven
Erfolg bezahlen sie mit immensem indivi-
duellem Leid«, sagt Harari.
In freier Wildbahn mussten die Vorfah-
ren der Schweine, Rinder und Hühner
einst miteinander kommunizieren. Sie
lernten für ihren Alltag, indem sie mit Art-
genossen spielten, eine starke Bindung zur
Mutter war für die Tiere überlebenswich-
tig. Viele dieser evolutionären Instinkte
existieren noch. Aber für das Überleben
und die Reproduktion sind sie nicht mehr
relevant. Mast, Medikamente und künst-
liche Besamung machen sie überflüssig.
Objektiv betrachtet, braucht ein Kalb sei-
ne Mutterkuh nicht mehr. Subjektiv aber
sehnt es sich nach ihr und leidet, wenn es
von ihr getrennt wird. »Wir haben die
Macht, die psychologischen und sozialen
Bedürfnisse von Tieren vollkommen zu
ignorieren«, sagt Harari, »während wir sie
zugleich zu einem Leben als Maschinen
verdammen, die Eier, Milch oder Fleisch
produzieren.«
Das Bewusstsein des Schweins
Leibniz-Institut für Nutztierbiologie in
Dummerstorf, 2019. Das Schwein Madame
rennt grunzend den Gang hinunter in die
Versuchsbox. Das Ringelschwänzchen we-
delt dabei. Das Tier ist aufgeregt. Madames
Lieblingsessen ist Käse. Sie steckt ihren
Kopf, die feuchte rosa Schnauze voran,
durch ein Fenster in der Versuchsbox. Zur
Belohnung erhält sie ein Schälchen mit ver-
schiedenen Snacks: Schokolinsen, Käse, Ap-
fel, Salzstangen und Rosinen. Sie verputzt
alles umgehend, wie man es von einem
Schwein erwartet. Doch binnen wenigen
Tagen wird sie dazu in der Lage sein, ge-
nau das nicht zu tun. Sie wird ihre Impulse
kontrollieren und auf sofortigen Genuss
verzichten. Stattdessen wird sie bis zu eine
Minute lang warten, auf ein Schälchen
mit Käse.
Lange Zeit galt als Besonderheit des Men-
schen, dass er im Gegensatz zum Tier ein
Bewusstsein besitze. Man kann es definie-
ren als die Gesamtheit aller psychischen
Vorgänge, durch die ein Mensch sich seiner
selbst und seiner Außenwelt gewahr wird.
Nun stellt sich immer öfter die Frage, ob
nicht auch Tiere ein Bewusstsein haben.
Die Forscher in Dummerstorf haben
den Marshmallow-Test aus der Human -
psychologie übernommen. Die Tatsache,
dass ein Schwein Futter liegen lässt, um
auf noch besseres zu warten, ist für sie ein
klares Indiz. »Das Schwein zeigt, dass es
eine Vorstellung hat von sich selbst, von
Zeitabläufen und möglicherweise von der
Zukunft«, sagt Verhaltensforscher Puppe.
Es handle sich also um einen »bewusst-
seinhaften Zustand«.
Der Ethiker Peter Singer, der an der Uni-
versität Princeton lehrt, gebraucht das
Wort »Speziesismus«, um den Blick des
Menschen auf das Tier zu beschreiben. Er
meint seine verzerrte Perspektive zuguns-
ten der eigenen Spezies, nur sie unterliege
demnach einem moralischen Wertegefüge.
Der Philosoph zieht Parallelen zum Se-
xismus, mit dem eine schlechtere Stellung
von Frauen gerechtfertigt wird, sowie zur
Rassenlehre des 19. Jahrhunderts, nach de-
ren Logik Schwarzafrikaner versklavt wer-
den durften. Das andere Geschlecht, die
andere Rasse, und nun eben die andere
Spezies wird als minderwertig betrachtet.
Gerechtfertigt werde die Ausbeutung von
Tieren mit Verweis auf die Unterschiede
zum Menschen.
Singer hält das für unzulässig. Er sagt,
im Grunde sei es irrelevant, wie wenig sich
Tiere und Menschen unterscheiden. Ein
Wesen müsse nicht möglichst genauso ver-
nunftbegabt, autonom oder moralisch sein
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HENNER ROSENKRANZ / DER SPIEGEL
Schweine im Stall:Gegenseitig beschnüffeln, abschlecken, kuscheln
DER SPIEGEL Nr.33 / 10. 8. 2019