er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
Deutschland

wie der Mensch, damit seine Interessen
zählten. Einzig relevant sei, ob es leidet.
»Was wäre denn sonst mit Babys oder
dementen Alten?«, fragt der Wissenschaft-
ler. Was deren mentale Fähigkeiten betref-
fe, lägen sie hinter Kühen und Schweinen
zurück. Faktische Gleichheit sei keine Vo-
raussetzung für das Recht darauf, berück-
sichtigt zu werden.
»Das Töten von Tieren lässt sich mit
dem Töten von Menschen nicht verglei-
chen«, sagt Singer, »ein Tier hat im Ge-
gensatz zum Menschen keine konkreten
Vorstellungen von einer Zukunft, keinen
Lebensplan, der ihm weggenommen wird,
sein Schaden ist also deutlich geringer.«
Das schmerzfreie Töten von Tieren lasse
sich demnach rechtfertigen, anders als
beim Menschen. Es sei demnach weniger
klar verwerflich, ein Tier zu töten, als ihm
ein schlechtes Leben zuzumuten.


Die Charta für das Tierwohl

Kanton Zürich, Schweiz, 2010. Die Schwei-
ne Marlon und Miss Twiggy werden in
einen Tiertransporter gepackt. Obwohl der
Lkw nur für 30 Schweine ausgestattet ist,
stopft der Transporteur 35 in den Lade-
raum. Er mischt zwei Gruppen, die sich
nicht kennen. Auf der Fahrt kommt es zu
Unruhen. Als die Schlachthofmitarbeiter
den Wagen öffnen, sind zwei Schweine be-
reits tot. Marlon und Miss Twiggy sind so
verletzt, dass sie notgeschlachtet werden
müssen. Den Fall übernimmt der Schwei-
zer Tieranwalt Antoine Goetschel. Er argu-
mentiert, der Transporteur habe das Leid
des einzelnen Tieres zur Gewinnmaximie-
rung mit einkalkuliert. Dem Tiertranspor-
teur wird wegen grob fahrlässiger Tierquä-
lerei eine Strafe von 3500 Schweizer Fran-
ken auferlegt.


Im Durchschnitt isst jeder Deutsche rund
60 Kilogramm Fleisch im Jahr und kommt
auf 1000 Tiere in seinem Leben; seit den
Fünfzigerjahren hat sich der Konsum mehr
als verdoppelt. Sollte man aus ethischen
Gründen auf Fleisch verzichten? »Das The-
ma auf den Verzicht des Einzelnen zu re-
duzieren finde ich ideologisch und lust-
feindlich«, sagt Antoine Goetschel. »Wenn
90 Prozent der Deutschen vom Fleisch-
konsum überzeugt sind, dann stellt sich
die Frage, wie man die Lage der Tiere ver-
bessert, ohne utopistische Veganismus -
debatte.«
Der Jurist serviert in seinem Büro in der
Zürcher Innenstadt Kaffee mit Biomilch
und Buttercroissants. Goetschel hat mit
seinem Verein Global Animal Law eine
Uno-Konvention zum Schutz des Tieres
entworfen, für die er bei den Vereinten
Nationen lobbyieren will. Er setzt auf ju-
ristische Institutionen. »Im Gegensatz zur
Ethik lässt sich das Recht durchsetzen.«


Bis 2010 war Goetschel Tieranwalt des
Kantons Zürich, damals eine besondere
Institution in der Schweiz, deren Aufga-
ben heute von einer Behörde wahrgenom-
men werden. Er hat sie mitbegründet,
»um den Tieren eine Stimme zu geben«.
Als Tieranwalt betreute Goetschel 700
Fälle. Er vertrat unter anderem zwei
Hamster, die einem Kunden im Bordell
zum Vergnügen anal eingeführt worden
waren und erstickten.
In der Schweizer Verfassung hat Goet-
schel mit seiner Initiative den Begriff der
»Würde der Kreatur« untergebracht. Die
Tierwürde gibt vor, dass man das Tier
nicht über die Maßen instrumentalisieren
darf, dass es einen Wert hat, der nicht
durch seinen Nutzen für den Menschen
bestimmt ist. Das deutsche Tierschutz -
gesetz geht weniger weit, die Tierwürde
ist nicht rechtlich verankert. Seit 2002
aber ist der Tierschutz Staatsziel. Nie-
mand darf einem Tier ohne vernünftigen
Grund Schmerzen, Leid oder Schaden
zufügen.
Damit, sagt Goetschel, könne man ar-
beiten. Das deutsche Problem sei vor al-
lem die Rechtsdurchsetzung. Was nützt
das beste Gesetz, wenn es nicht angewandt
wird? Tiere haben in Deutschland im ju-
ristischen Sinn nicht wirklich eine Stimme.
Es gibt keinen Tieranwalt, es gibt auch kei-
nen Lehrstuhl für Tierschutzrecht.

Der würdevolle Tod

Bauernhof Bodenkamp von Jens van Beb-
ber, 2019, Samern, Niedersachsen. Statt
wie früher 1800 leben nun 1000 Schweine
im Stall. Die Lüftung erfolgt nicht mehr
durch Ventilatoren, stattdessen ist der Stall

an den Seiten offen, Windnetze verhindern
Zugluft. Er ist in Zonen aufgebaut: eine
verdunkelte Ruhezone, in der die Schweine
schlafen, ruhen und kuscheln. Dort liegt
Stroh. Eine Fresszone, dort werden die
Schweine viermal täglich gefüttert. Das
Futter fällt von der Decke, sodass die
Schweine lange auf dem Boden wühlen
müssen, um es zu finden. Das entspricht
ihrem natürlichen Verhalten, ein Wild-
schwein verbringt drei Viertel seiner Aktiv-
zeit mit der Futtersuche.

Nur etwa 7 Prozent der Deutschen be-
zeichnen sich als Vegetarier. Aber 80 Pro-
zent halten das Leben von Tieren für ach-
tenswert. Die meisten möchten also Tier-
produkte nutzen, aber mit einem guten
Gewissen. Wie das funktionieren kann,
weiß Temple Grandin, Professorin für Tier-
wissenschaften und Beraterin der Fleisch-
industrie. Sie sitzt beim Frühstück im US-
Bundesstaat Colorado und kaut auf einem
Stück Schweinespeck.
Grandin ist Autistin, sie sagt von sich,
sie sei eine Art Mischwesen zwischen Tier
und Mensch. Sie könne sich in Rinder oder
Schweine hineinversetzen, weil sie in Bil-
dern denke wie Tiere. In den USA sind
40 Prozent aller Schlachtanlagen mit ihren
Erfindungen ausgestattet. Sie sagt, man
könne den Tieren die Angst nehmen. Oft
gehe es um einfache Dinge, etwa optische
Reize, die sie erschrecken. Grandin hat ei-
nen Katalog entworfen mit Grundsätzen,
um die schlimmsten Quälereien zu verhin-
dern: Kameras an Schlachthöfen zählen
dazu und Betäubungen, die sicher funk-
tionieren. Ihr Job ist es, den Tod der Tiere
angenehmer zu machen. Die Industrie -
beraterin ist sich einig mit den Philoso-
phen: Ein schmerzfreier Tod von Tieren
lässt sich rechtfertigen. Ein grausames Le-
ben nicht.
Es gibt Formen der Haltung, die Tieren
ein würdiges Leben erlauben, sogar jen-
seits des Biohofs. Die Schweinezucht von
Jens van Bebber auf dem Bauernhof Bo-
denkamp zum Beispiel. Früher stand er
unter dem Druck, immer günstigere Le-
bensmittel zu produzieren. Die Preise wur-
den von anderen diktiert. »Der konven-
tionelle Markt für Schlachtschweine ist ein
reiner Massenmarkt«, sagt van Bebber,
»Schweine werden nur als Fett, Eiweiß und
Wasser angesehen. Fleisch muss billig
sein.« Das habe er nicht mehr mitmachen
wollen, er hat die Zahl seiner Schweine re-
duziert und den Stall umgerüstet.
Möglich ist van Bebbers Form der
Schweinehaltung deshalb, weil er mit
Gleichgesinnten zusammenarbeitet. Der
Schlachthof garantiert ihm die Abnahme
von Schweinen zu einem höheren Preis.
Der Großhandel verkauft das Fleisch
unter der Marke Duke of Berkshire, die
mit besserem Geschmack und Tierglück

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MATT NAGER / DER SPIEGEL
Industrieberaterin Grandin
»Tieren die Angst nehmen«
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