er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
Schleswig-Holstein

Hamburg

Bremen 41
22
14
14
11
4

Berlin 43 %


Anteil der Schulen

Hessen

Bayern

Nordrhein-Westfalen

Die Schulen erheben den Anteil der Kinder mit nicht deutscher Familien-
sprache häufig, indem die Eltern bei der Anmeldung danach gefragt werden.
Die Angaben sind daher nicht immer exakt vergleichbar. Unter den Schülern
mit nicht deutscher Familiensprache können auch Kinder sein, die gut
Deutsch sprechen.
Quelle: SPIEGEL-Anfrage in den Bundesländern 2018

Zweitsprache Deutsch
Grundschulen, bei denen die Mehrheit der Kinder
zu Hause kaum Deutsch spricht

E


s gibt sie wirklich: Kinder, die am
ersten Schultag mit einer gefüllten
Schultüte und großen Erwartungen
erscheinen, aber die Willkommensworte
der Lehrerin nicht verstehen. Ingrid König
hat viele von ihnen unterrichtet.
König leitete bis Anfang 2019 eine
Grundschule im Frankfurter Stadtteil
Griesheim, eine »Brennpunktschule«, wie
König selbst sagt. Zwischenzeitlich hatten
nur 9 ihrer 275 Schüler keinen Migrations-
hintergrund. »Ich habe Erstklässler erlebt,
die auf Deutsch nicht einmal ›Guten Tag‹
sagen können«, erzählt König. »Wie soll
die Schule diesen Kindern das Lesen oder
Rechnen beibringen?«
Diese didaktische Frage trieb bislang vor
allem Bildungsexperten und Praktiker in
sozialen Brennpunkten um. Eine hitzige
politische Debatte wurde daraus erst, als
CDU-Fraktionsvize Carsten Linnemann sie
mit der Forderung verband, eine Vorschul-
pflicht müsse her, Kinder mit sehr schlech-
ten Deutschkenntnissen hätten auf einer
Grundschule »noch nichts zu suchen«.
Linnemann musste sich rechtfertigen. Ihm
wurde vorgeworfen, er wolle Migranten-
kindern Bildungschancen rauben und Stim-
mung gegen Einwanderer machen.
Einige sprangen ihm jedoch bei. Sie sehe
»Handlungsbedarf bei der sprachlichen För-
derung«, sagte Baden-Württembergs Kul-
tusministerin Susanne Eisenmann (CDU).
Allerdings sei Ausgrenzung der falsche
Weg. Der Präsident des Deutschen Lehrer-


gig vom Wohnort und dem sozialen Hinter -
grund, Zugang zu einer bedarfsgerechten
Sprachförderung ermöglichen«, mahn-
ten Experten des Mercator-Instituts für
Sprachförderung und Deutsch als Fremd-
sprache schon in einer Analyse im Jahr
2013 und kamen zu einem vernichtenden
Schluss: »Diese Chancengerechtigkeit ist
durch die aktuelle Praxis in den Bundes-
ländern nicht gegeben.«
Als Positivbeispiel gilt Hamburg. Das
»Verfahren zur Vorstellung Viereinhalbjäh-
riger«, wie es im Behördendeutsch heißt,
gibt es in der Hansestadt seit mehr als zehn
Jahren. Es ist sehr aufwendig, hat sich aber
genau deshalb bewährt.
Im IQB-Ländervergleich für Grundschu-
len aus dem Jahr 2016, einer Art Deutsch-
land-Pisa, erreichten deutlich mehr Ham-
burger Viertklässler die Mindeststandards
im Lesen als etwa in Berlin – obwohl
der Anteil der Schüler, die zu Hause eine
andere Sprache sprechen als Deutsch, in
beiden Ländern hoch ist. In Hamburg sind
das aktuell 26,7 Prozent der Kinder, so
viele wie nie zuvor.
Gut eineinhalb Jahre vor der Einschu-
lung stellen sich die dortigen Eltern und
Kinder in der Grundschule des Einzugs -
gebiets vor, manchmal einzeln, manchmal

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Deutschland

Sag mal: Krokodil


BildungViele Bundesländer prüfen vor der Einschulung, wie gut Kinder
Deutsch sprechen – allerdings mit sehr unterschiedlichem
Erfolg. Nicht alle, die Förderung brauchen, bekommen sie auch.

Schulanfänger in Niedersachsen:Wer die

verbandes Heinz-Peter Meidinger bekann-
te: »Ich bin ein absoluter Anhänger von
bundesweiten, flächendeckenden Sprach-
standstests bei Drei- und Vierjährigen.«
Sprache gilt als Schlüssel für eine ge -
lungene Integration, schulischer Erfolg als
Eintrittskarte in ein ertragreiches Berufs-
leben. Wer nicht gut Deutsch spricht, tut
sich meist auch in anderen Fächern schwer,
zeigen Studien. Wie soll man eine Mathe-
matik-Textaufgabe in eine Rechnung über-
setzen, wenn man die Wörter nur schwer
versteht?
Wenn ein Kind in der Grundschule
schlechte Noten schreibt, wird es vermut-
lich nicht auf ein Gymnasium wechseln.
Solche Kinder »können ihr Potenzial nicht
entfalten und die Chancen nicht nutzen,
die ihnen das deutsche Schulsystem bieten
kann«, sagt Ingrid König, die ihre 30-jäh-
rige Erfahrung in dem Buch »Schule vor
dem Kollaps« zusammengefasst hat. »Sie
hinken vom ersten Tag an hinterher.«
Das betreffe durchaus auch deutsch-
stämmige Erstklässler. Manchen falle es
schwer, in flüssigen, zusammenhängenden
Sätzen Bilder aus einem Bilderbuch zu be-
schreiben. Ihnen werde so gut wie nie vor-
gelesen, die Pädagogin spricht von »chro-
nischer Vernachlässigung im Elternhaus«.
In fast allen Bundesländern sind Sprach-
tests längst gängige Praxis. Allerdings
herrscht föderaler Wildwuchs. Rund 20 Ver -
fahren sind bundesweit im Einsatz, hat
das Deutsche Jugendinstitut 2016 ermittelt.
Sie heißen »Heidelberger Auditives Scree-
ning in der Einschulungsuntersuchung«
(»HASE«) in Baden-Württemberg, »Kin-
der-Sprachscreening« (»KiSS«) in Hessen
oder »Besuch im Pfiffikushaus« in Nord-
rhein-Westfalen.
Das Problem ist: Sie unterscheiden sich
stark im Umfang, in den abgefragten Fer-
tigkeiten und in der Auswahl der unter-
suchten Kinder. In manchen Ländern müs-
sen ausnahmslos alle vorsprechen, andere
testen nur solche Kinder, die keine Kita
besucht haben. Thüringen verzichtet ganz
auf eine gesonderte sprachliche Prüfung.
Auch die Konsequenzen sind höchst
unterschiedlich. Während Kinder, die nicht
ausreichend Deutsch sprechen, in Nieder-
sachsen verpflichtend ein Sprachprogramm
besuchen müssen, sind die sogenannten
Vorlaufkurse in Hessen freiwillig.
»Sprachstandsverfahren müssen so an-
gelegt sein, dass sie jedem Kind, unabhän-
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