er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
in Kleingruppen. Der Termin ist verbind-
lich für alle, für Kinder mit und ohne Mi-
grationshintergrund. Das Wort »Test« ver-
meiden die Pädagogen dabei bewusst, die
Kinder sollen sich wohlfühlen.
Hauptsächlich geht es darum, wie gut
sich die zukünftigen Erstklässler auf
Deutsch verständigen können. Gleichzei-
tig schauen die Gutachter aber auch, ob
die Kinder anderswo Unterstützung benö-
tigen: Ob die Feinmotorik stimmt, zeigt
sich, wenn die Kinder ein Dreieck aus Pap-
pe zunächst benennen, dann ausschneiden
und aufkleben müssen. Ob sie über ein
grobes Verständnis von Zahlen verfügen,
lässt sich mit einem kleinen Würfelspiel
herausfinden. Ob die Hand-Augen-Koor-
dination funktioniert, wird deutlich, wenn
die Kinder einen Gummiball fangen sollen.
Wenn Defizite auffallen, müssen diese
Kinder ein Jahr lang verpflichtend die Vor-
schule besuchen, wo sie zusätzlich sprach-
lich gefördert werden. Das betrifft rund
17 Prozent eines Jahrgangs. Ein Platz ist
ihnen gewiss. Kinder mit Förderbedarf ha-
ben Vorrang vor allen anderen Bewerbern.
Rund 40 Kinder nehmen jedes Jahr zwi-
schen November und Januar auf einem
kleinen Holzstuhl in ersten Stock eines
Verwaltungszweckbaus im Stadtteil Eilbek

Platz. Ihnen gegenüber, ebenfalls auf ei-
nem der winzigen Stühle, sitzt dann Anne -
gret Koch, Schulleiterin der Grundschule
Wielandstraße, und lächelt einladend.
Schon auf den Treppenstufen, die zum
Besprechungsraum hinaufführen, hat
Koch die Bewegungen des Kindes studiert.
Hält es sich am Geländer fest? Setzt es die
Füße gerade auf? Die Eltern warten zu-
nächst im Erdgeschoss, auch das ist eine
erste Herausforderung: Begleitet das Kind
die Lehrerin gern? Oder mag es sich nicht
von Mama oder Papa trennen? Letzteres
könnte darauf hinweisen, dass das Kind
sozial-emotional nicht so reif ist, wie es in
dem Alter sein sollte.
Im Besprechungsraum greift Koch in
ihre »Zauberkiste«, wie sie sie nennt. Spä-
testens damit ist ihr die volle Aufmerksam-
keit ihres Gegenübers gewiss – sofern das
Kind so aufgeweckt und neugierig ist wie
ein durchschnittliches Vorschulkind. Ne-
ben zwei Puzzles à 15 Teilen befinden sich
darin Knetmasse, eine Schere, ein Klebe-
stift, verschiedene geometrische Formen
aus Pappe, Würfel und vier Tierfiguren
aus Hartgummi: ein Krokodil, ein Frosch,
ein Schwein und ein Eichhörnchen. Die
Tiere sind nicht zufällig gewählt. »Kr, F,
Sch und Ch sind schwierige Laute, die

längst nicht jedes Kind deutlich ausspre-
chen kann«, sagt Koch.
Im Hamburger Vorstellungsgespräch
geht es nicht nur um Unterstützung der
Schwachen, sondern auch um Förderung
der Starken. An einem Freitagmorgen im
November vergangenen Jahres hockt ein
Blondschopf im Kapuzenpulli auf dem
Holzstuhl in Annegret Kochs Bespre-
chungsraum. Die Worte fallen wie von
selbst aus seinem Mund. Gleichzeitig legt
er in Windeseile das Puzzle zusammen.
»Ich nehme zuerst die Randteile, deshalb
bin ich so schnell«, erklärt der Junge selbst-
bewusst. »Gut machst du das«, lobt Koch
und zieht das erste Gummitier hervor.
»Ein Krokodil! Das hat die meiste Kraft
in den Hinterbeinen!« Sprachförderung
braucht dieser Junge nicht, das ist schnell
klar. Stattdessen wird Koch später mit
den Eltern erörtern, ob der Schlaukopf
vielleicht ein Jahr früher eingeschult wer-
den könnte.
Oft genug können Kinder keine einzige
der Tierfiguren benennen, weil sie zu Hau-
se mit einer anderen Sprache als Deutsch
aufwachsen. In solchen Fällen lässt sich
Koch auf Paschtu, Arabisch oder Türkisch
etwas über die Tiere erzählen, auch wenn
sie selbst den Sinn der Worte nicht kennt.
»So merke ich zumindest, ob die Kinder
verstehen, was ich gefragt habe – oder ob
sie mich nur mit großen Augen anschau-
en.« Gelegentlich holt sie dann die Eltern
zum Übersetzen dazu.
Kinder mit solchen Sprachschwierigkei-
ten werden in der Vorschule im Regelfall
von Pädagogen mit einer Zusatzausbil-
dung im Bereich »Deutsch als Zweitspra-
che« unterrichtet, gibt die Schulbehörde
an. Am Ende werde »jedes Kind pünkt-
lich eingeschult«, twitterte SPD-Bildungs -
senator Ties Rabe vor wenigen Tagen in
Richtung Linnemann.
Was in Hamburg Standard ist, scheitert
anderswo schon am Personal. Der Markt
für Pädagogen mit Expertise in Sprach -
förderung ist leer gefegt, in den meisten
Bundesländern mangelt es ohnehin an
Lehrkräften und Erziehern.
Auch in Berlin müssen jene, die den
Sprachtest nicht bestehen, verpflichtend
ein Jahr lang den Kindergarten besuchen,
um die Defizite aufzuholen. Zumindest in
der Theorie. 2018 nahmen nur rund 650
Kinder teil, viermal so viele wurden auf-
gefordert, kamen aber gar nicht erst.
Außerdem wurde bekannt, dass rund
400 Kinder, die erwiesenermaßen nicht
ausreichend Deutsch sprachen, trotz
Pflicht nie in einer Kita angekommen wa-
ren. Ein Grund: Es fehlten Kitaplätze –
und Kindern, die so dringend Unterstüt-
zung brauchten, konnte nicht geholfen
werden. Miriam Olbrisch
Mail: [email protected], Twitter: @olbi

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 35

PHILIPP SCHULZE / PICTURE ALLIANCE / DPA

Sprache nicht beherrscht, hinkt vom ersten Tag an hinterher

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