er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

Ich-AG, die vom Staat gefördert und als
Errungenschaft gefeiert wurde. Dabei weiß
jeder Wirtschaftshistoriker, dass es sich beim
Anstieg der Zahl der Selbstständigen meist
um ein Krisensymptom handelt. Den Men-
schen wurde viel versprochen: Ihr könnt
der Schmied eures Glückes sein, in flachen
Hierarchien arbeiten, in Großraumbüros, in
Teams. Das war der Überbau für ein relativ
hartes Anspruchsdenken gegenüber dem
Individuum – dessen Leistung dauernd
bewertet wird, von Controllern, von Zerti-
fizierern, von Evaluierern, die einem sagen,
wo es langgeht. Für die breite arbeitende
Bevölkerung bleibt vom Neoliberalismus in
erster Linie die Wettbewerbsbürokratie.
SPIEGEL:Die rot-grüne Koalition mochte
sich dem Trend nicht entgegenstellen?
Wirsching:Im Gegenteil. Die Sozialde-
mokratie des 21. Jahrhunderts hat genau
dies propagiert, etwa im Blair-Schröder-
Papier. Englands Premier Tony Blair und
der Bundeskanzler haben gemeinsam für
einen »dritten Weg« geworben, den die
Sozialdemokratie in Zeiten der Globalisie-
rung gehen könne. Sie beschrieben eine
»pragmatische Wirtschaftspolitik«, in der
die Sozialsysteme reformiert werden und
der Arbeitsmarkt flexibilisiert wird.
SPIEGEL:Heute gelten Einschnitte wie
die Hartz-IV-Reform unter Sozialdemo-


kraten als Ursache für den Wähler-
schwund.
Wirsching:Hartz IV ist für mich nur eine
von mehreren Facetten. Die SPD hat sich
immer als Vertreterin der Industriearbei-
terschaft verstanden und sich zu wenig um
die vielen kleinen und mittleren Arbeit-
nehmer gekümmert.
SPIEGEL:Wie meinen Sie das?
Wirsching:Martin Schulz ist 2017 mit dem
Thema »soziale Gerechtigkeit« angetreten.
Wenn Sie heute aber in einen Betrieb gehen
und vor Arbeitnehmern, die seit 35 Jahren
in die Sozialkassen einzahlen, für die bedin-
gungslose Grundrente ohne Bedürftigkeits-
prüfung werben, dann trifft das nicht auf un-
geteilte Zustimmung. Diese Menschen arbei-
ten hart, zahlen Steuern, bleiben bei beschei-
denen Lohnzuwächsen von den Dividenden
der Liberalisierung ausgeschlossen. Die SPD
hat Schwierigkeiten, sich auf die Lebens -
praxis der breiten Schichten einzulassen.
SPIEGEL:Wie kommen die Volksparteien
aus ihrer Krise heraus, wenn der Preis der
Freiheit offenbar das Entstehen eines Mi-
lieus von Abgehängten ist?
Wirsching:Zunächst müssen die Parteien
sich klarmachen, dass mehr Freiheit auch
mehr Ungleichheit bedeuten kann. Dass
die Neoliberalisierung bei vielen Men-
schen das Empfinden der Deklassierung

hervorruft. Und dass es Leute gibt, denen
die Welt zu komplex geworden ist; die sich
zurückziehen auf Nationalismus und pro-
tektionistische oder sogar rechtsextreme
Positionen. Nicht nur in Deutschland.
SPIEGEL:Wo sehen Sie Parallelen?
Wirsching:Praktisch in allen Ländern,
besonders aber dort, wo es eine forcierte
Deindustrialisierung gab. In Frankreich
wurden im Norden und Osten die Textil-
und die Stahlindustrie abgebaut – dort ist
Marine Le Pen sehr stark. In Nordengland,
wo die Mehrheit für den Brexit gestimmt
hat. Und im Rust Belt der USA, wo die
Menschen für Trumps Verheißungen be-
sonders anfällig sind.
SPIEGEL:Die alte politische Landkarte
von links und rechts gilt nicht mehr?
Wirsching:Für manche, meist junge Men-
schen bietet der Internationalisierungs-
schub enorme Möglichkeiten. Aber für
viele auch gar keine, weil sie nicht das kul -
turelle oder intellektuelle Kapital haben,
um daran umfänglich zu partizipieren. Es
kann bei Weitem nicht jeder sagen: Ich
suche mir den besten Job in ganz Europa.
Oder in den USA oder in Singapur. Das
sind zwei Seiten derselben Medaille.
SPIEGEL:Herr Wirsching, wir danken Ih-
nen für dieses Gespräch.

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