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ahre ihres Lebens hat Monika D. in
einer »rosa Wolke« verloren. Nach
ihrer Erinnerung saß sie fast immer
zu Hause, wurde erst nachmittags richtig
wach und verließ nur selten das Haus. Und
wenn, dann meist, um in der Apotheke
Nachschub zu holen, weil die Tropfen zur
Neige gingen, die so zuverlässig ihre
Sorgen vertrieben.
»Wenn die Flasche leer war, habe ich in
der Praxis angerufen und ein neues Rezept
bekommen«, sagt D. Sie habe häufig gar
nicht mit dem Arzt gesprochen. Die Re-
zepte seien per Post gekommen. Oder sie
habe sie auch mal aus dem Zeitungskasten
vor der Praxis geholt, wo sie hinterlegt
gewesen seien.
Monika D. sagt, in diesen Jahren habe
sie sich isoliert, den Kontakt zu Freunden
abgebrochen. Sie arbeitete kaum noch,
lebte von Hartz IV. Wenn sie unangeneh-
me Gefühle spürte oder es vor ihren Au-
gen flimmerte, habe sie sich nicht die
Mühe gemacht, die Tropfen auf einen Löf-
fel zu geben. »Auf die Hand und zack«,
sagt sie. Irgendwann sei sie bei einer Dosis
von 100 Tropfen pro Tag gewesen. »Ich
hatte keine Verspannungen mehr«, berich-
tet sie. »Nur noch Friede, Freude, Eier -
kuchen.«
Über einen Zeitraum von 14 Jahren ver-
schrieb der Hausarzt Monika D. Valiquid,
Tropfen mit dem Wirkstoff Diazepam.
Und das, obwohl das Mittel je nach Er -
krankung lediglich wenige Wochen und
nur in Ausnahmefällen auch länger verab-
reicht werden soll, eben weil es so schnell
ab hängig macht. Als D. ihre Tropfen end-
lich absetzte, litt sie nach eigenen Angaben
unter schwersten Entzugssymptomen. Nun
will sie Genugtuung und hat den Mediziner
wegen gefährlicher Körperverletzung an-
gezeigt. Außerdem fordert sie in einem
Zivilprozess Schmerzensgeld von ihm.
Schätzungen zufolge sind in Deutsch-
land rund 1,5 Millionen Menschen von be-
stimmten Schlaf- und Beruhigungsmitteln
abhängig, oft von Tranquilizern. Der Fall
von Monika D. ist extrem, das Problem
existiert jedoch schon lange. Seit Mitte der
Sechzigerjahre, kurz nach der Einführung
der Präparate mit dem Wirkstoff Dia -
zepam durch den Pharmakonzern Hoff-
mann-La Roche, berichtet die Fachpresse
über die süchtig machende Wirkung des
vermeintlichen Wundermittels. Die Rol-
ling Stones widmeten den Pillen kurz da-
nach das Lied »Mother’s Little Helper«.
1988 warnte der SPIEGELin einer Titel-
geschichte vor den Gefahren der Tranqui-
lizer-Abhängigkeit.
Nichtsdestotrotz ist die Zahl der Süch-
tigen seit den Achtzigerjahren weiter ge-
stiegen. Diazepam und die übrigen Mittel
aus der Familie der Benzodiazepine helfen
bei akuten Angst- und Schlafstörungen,
Krämpfen und werden zur Muskelent -
spannung vor Operationen eingesetzt. »Es
sind wichtige Arzneimittel, aber mit klarer
zeitlicher Begrenzung«, sagt der Pharma-
kologe Gerd Glaeske von der Universität
Bremen.
Etliche Mediziner verschrieben offen-
bar die Angstlöser wider besseres Wissen,
so Glaeske. Ältere Patienten, meist Frauen,
bekämen das Medikament besonders
häufig verordnet. Sie fühlten sich nicht
mehr gebraucht, entwertet, litten unter
Schlaflosigkeit und Depressionen – und
würden dann schnell abhängig. »Es ist
furchtbar, dass Ärzte, die das mitkriegen
müssen, nicht reagieren«, sagt Glaeske,
der die Verordnung von Tranquilizern
untersucht hat.
Monika D. ist heute 60 Jahre alt. Nicht
alle Details ihrer bedrückenden Geschichte
lassen sich überprüfen, aber der SPIEGEL
konnte Gutachten und Gerichtsunterlagen
einsehen. Der Rechtsanwalt des beschul-
digten Arztes wollte sich gegenüber dem
SPIEGELnicht äußern.
Nach ihren Schilderungen hatte Monika
D. keinen leichten Start ins Leben. Sechs
Geschwister, der Vater starb früh, die Mut-
ter »trank gern mal ein Gläschen«, und
dann sei da noch der zudringliche Paten-
onkel gewesen. Sie brach die Schule ab,
wurde schwanger, heiratete mit 20. Am
Tag der Hochzeit, so berichtete sie es einer
von der Staatsanwaltschaft Köln beauftrag-
ten Gutachterin, habe ihr Bräutigam mit
40 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019
Deutschland
Süchtig auf Rezept
JustizÜber 14 Jahre gab ein Hausarzt einer Patientin Valiquid – dabei
macht das Mittel schon nach Wochen abhängig. Der Fall
zeigt, wie leichtfertig manche Mediziner Tranquilizer verordnen.
Geschädigte Monika D.
»Auf die Hand und zack«