er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

achten die Monitore, drücken gelegentlich
eine Taste, sie stellen sicher, dass das Herz
schlägt, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im
Jahr. »Der Steamcracker muss immer lau-
fen, er liefert die Grundbausteine für große
Teile der Produktion«, sagt Claus Beck-
mann. Er leitet die Energie- und Klima -
politik bei BASF.
Je präziser die Techniker die Anlage
steuern, umso effektiver kann das Unter-
nehmen sie nutzen. Der zentrale Gedanke:
Was an Abfallprodukten und Abwärme
aufläuft, wird in anderen Betriebsteilen
wieder genutzt. Das System nennen sie
bei BASF den »Verbund«.
Der Verbund ist einer der Hebel, mit
denen der Chemiekonzern in den vergan-
genen drei Jahrzehnten den CO²-Ausstoß
halbieren konnte, während sich die Pro-
duktion verdoppelte. Das Management
hat vor 20 Jahren bereits die konzerneige-
ne Kohlezeche »Auguste Victoria« in Marl
verkauft und ist auf Gas umgestiegen. Die
drei Kraftwerke, die der Konzern in Lud-
wigshafen betreibt, erzeugen Strom und
heißen Dampf, der bei etlichen chemi-
schen Verfahren nötig ist.
Man kann nicht behaupten, dass BASF
untätig gewesen wäre, seinen ökologischen
Fußabdruck zu verkleinern – und doch ist
er noch immer gewaltig. Rund 21 Millio-
nen Tonnen an Treibhausgasen bläst BASF
jedes Jahr in die Atmosphäre, wie der CO²-
Bilanz zu entnehmen ist. Seit elf Jahren
veröffentlicht der Konzern die Zahlen.
Das macht längst nicht jedes Unterneh-
men. Die Ratingagentur ISS ESG bewertet
die Klimastrategie von 25 000 Firmen
weltweit, nur 3100 davon verraten Details
über die Schadstoffemissionen. Und von
ihnen könne bloß ein kleiner Teil überzeu-
gend darlegen, wie sie ihre Ziele erreichen
wollen, sagt Maximilian Horster, Leiter
des Bereichs Klimaanalyse und -bewer-
tung: »Das Gesamtbild ist ernüchternd.«
Der Mutterkonzern ISS ist ein mächti-
ger Akteur an den Finanzmärkten. Die Fir-
ma berät Großinvestoren, wie sie auf
Hauptversammlungen bei wichtigen Ent-
scheidungen abstimmen sollen. Seit 2017
bezieht ISS auch Klimarisiken systema-
tisch in die Firmenbewertung ein. Das er-
höht den Druck auf die Unternehmen, den
Abbau von CO²voranzutreiben.
Zwar verfassen fast alle Dax-Konzerne
Klimaberichte. Aber 24 der 30 Unterneh-
men im deutschen Leitindex stuft ISS in
puncto Klimaschutz als Minderleister oder
Nachzügler ein, kein einziges erhält auf ei-
ner vierstufigen Skala die Bestnote. »Auch
die deutsche Industrie«, sagt Horster, »gibt
kein gutes Bild ab.«
Kleinere Unternehmen zeigen noch
weniger Engagement. »Im Mittelbau gibt
es viele Firmen, die nicht über ihren öko-
logischen Fußabdruck berichten«, sagt
Horster, geschweige denn versuchen wür-


den, ihn systematisch zu verkleinern. Aus-
gerechnet die Unternehmen, die den in-
dustriellen Kern Deutschlands ausmachen,
die Maschinenbauer, Autozulieferer, Che-
miefirmen und Baustoffbetriebe, geben
sich offenbar zu wenig Mühe.
Die Landesbank Baden-Württemberg
(LBBW) kommt in einer neuen Studie zu
dem Ergebnis, dass zwar viele etwas tun –
aber noch immer viel zu wenig. Selbst
klimabewussten Firmen aus dem verarbei-
tenden Gewerbe gelinge es nur, den CO²-
Ausstoß um 1,7 Prozent jährlich zu redu-
zieren. »Das ist eindeutig zu niedrig«, sagt
der LBBW-Analyst Volker Stoll. Um die
Klimaziele zu erreichen, wäre eine Reduk-
tion um 2,6 Prozent nötig.
Dabei betreiben zumindest die umwelt-
bewussten Firmen einigen Aufwand. Sie
installieren Sparbeleuchtung und moderne
Druckluftanlagen, sie dämmen Hallen
oder nutzen Abwärme. Und dennoch hät-
ten selbst Vorzeigebetriebe in den vergan-
genen drei Jahren kaum messbare Fort-
schritte erzielt. »Die einfachen Energie-
sparpotenziale sind abgeerntet«, sagt Stoll.
Was aber kann ein Industriebetrieb
dann tun? Wie bringt man Mitarbeiter, die
bisher darauf geeicht waren, Umsatz und
Gewinn zu steigern, künftig dazu, die Kli-
mabilanz zu verbessern? »Mit klaren Vor-

gaben«, sagt Christian Knell, Deutschland-
chef von HeidelbergCement.
Seit dem Kaiserreich baut die Firma
Kalkstein ab, zermalt, brennt und mischt
ihn mit anderen Zusatzstoffen zu Zement.
Das Verfahren setzt in großem Stil Treib-
hausgase frei, ein Fünftel der industriellen
Treibhausgasemissionen in Deutschland
stammt aus der Zementproduktion.
Das Management von Heidelberg -
Cement ist schon länger klimabewusst: Be-
reits 2003 verabschiedete der Konzern
nach eigenen Angaben eine interne Nach-
haltigkeitsrichtlinie. Doch formulierte man
dort Ziele eher wie politische Absichts -
erklärungen und moralische Appelle. Heu-
te gelten klare, messbare Vorgaben.
Bis 2030 will HeidelbergCement den
CO²-Ausstoß gegenüber 1990 um 30 Pro-
zent reduzieren, so hat es der Vorstand be-
schlossen. Daraus leitet das Unternehmen
für jeden Geschäftsbereich jährliche Re-
duktionsvorgaben ab, jedes Werk muss ein
Konzept erarbeiten, wie es sie erfüllt. Der
Anreiz: Weniger CO²-Ausstoß bedeute ei-
nen höheren Ertrag – und für die verant-
wortlichen Manager einen höheren Bonus.
»Das ist ein unternehmerischer Ansatz«,
sagt Knell. Der Zementhersteller gebe den
Abteilungen eine Art Werkzeugkasten an
die Hand. Wie sie ihre Ziele erreichten, sei
ihnen überlassen.
Kreativer Freiraum genügt freilich nicht,
um den Klimaschutzgedanken in die
Werks hallen zu tragen. Der Umbau der
deutschen Industrie benötigt vor allem
massive Investitionen. Um die Emissionen
bis 2050 um 95 Prozent zu verringern,
müssten die Unternehmen bis zu 230 Mil-
liarden Euro investieren, schätzt die Un-
ternehmensberatung Boston Consulting
Group (BCG). Rund 120 Milliarden Euro
kostete es, das 80-Prozent-Ziel zu errei-
chen. Die letzten Meter sind, wie so oft,
die schwierigsten: Um auf 95 Prozent zu
kommen, müssten die Unternehmen noch
mal rund 110 Milliarden Euro drauflegen.
Die Berater haben detailliert aufgelistet,
welche Veränderungen nötig wären. Unter
anderem müssten 55 Zementwerke ihre
Öfen modernisieren, 150 000 Pumpen aus-
tauschen, 800 000 Antriebe wechseln und
20 Millionen Leuchten ersetzen. Die Fa-
briklandschaft würde runderneuert. Aber
das reicht nicht. Für echte Sprünge beim
Klimaschutz müssten die Unternehmen
kühner denken.
Deshalb skizzieren Entwicklerteams in
den Konzernen das lange Unvorstellbare:
wie eine ganz und gar grüne Zukunft für
ihr Unternehmen aussehen könnte. So
forscht HeidelbergCement an Verfahren,
wie Beton recycelt werden könnte. Der
verbaute Beton nimmt mit der Zeit zum
Teil wieder CO²auf. Wird der Baustoff
zerlegt, lassen sich die CO²-freien Kom -
ponenten erneut in die Produktion ein -

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Wirtschaft

Schmutzige Industrien
Treibhausgasemissionen deutscher
Industriebranchen 2018

Preis von Emissionszertifikaten
in Euro je Tonne CO2-Ausstoß

Quelle: Umweltbundesamt/DEHSt

Quelle: Refinitiv Datastream
2006 2010 2015 2019

Chemie

17,8

Eisen
und Stahl

37,9

Raffinerien

24,0

Zement

20,0

Sonstige mineral-
verarbeitende Industrie

8,6

Industrie-
und Baukalk

7,4

Andere
8,7

in
Millionen Tonnen
CO2-Äquivalente

30

20

10
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