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eld macht keine Geräusche. In
der Straße, an der Jeff Bezos und
Bill Gates nur ein paar Hundert
Meter weit voneinander entfernt
wohnen, der Evergreen Point Road in der
Kleinstadt Medina bei Seattle, ist es mitten
am Tag vollkommen still. Keine Menschen,
nirgends. Sogar die Vögel in den vielen im-
mergrünen Baumriesen scheinen sich das
Pfeifen zu verkneifen. Die wenigen Autos,
die langsam vorbeifahren, tun das mit
Elektroantrieb und so rücksichtsvoll wie
geräuschlos. Alles hier scheint zu sagen:
bitte nicht stören.
Einen einzigen Laden gibt es in dem
3000-Seelen-Ort im Nordwesten der USA,
den kleinen Medina Grocery & Deli, und
sein Inhaber erzählt hinter dem Tresen,
dass Bezos, der Amazon-Chef, dessen gi-
gantisches Anwesen gleich schräg gegen-
überliegt, manchmal vorbeikomme, um
sich einen Kaffee zu holen, »aber leider
haben wir ihn schon länger nicht gesehen«.
Gates wiederum, den Microsoft-
Gründer, sagt später eine Anwohne-
rin, habe sie kürzlich in der Straße
spazieren sehen, gemeinsam mit
Satya Nadella, dem heutigen Chef
seines Unternehmens.
Amazon-Chef Bezos steht im
globalen Index der Superreichen,
erstellt von der Wirtschaftsagentur
Bloomberg, auch nach der Tren-
nung von seiner Frau MacKenzie
auf Platz eins – mit einem Vermö-
gen von 112 Milliarden Dollar. Bill
Gates schafft es auf Rang zwei, mit
105 Milliarden. Steve Ballmer, auch
ein früherer Microsoft-Chef, der nur
ein paar Straßen weiter in Hunts
Point wohnt, ist 50 Milliarden
schwer. Medina, Postleitzahl 98039,
ist der siebtreichste Postbezirk der
USA.
Doch der Gemeinde, private
Heimstatt einiger der erfolgreichs-
ten Tech-Unternehmer der Welt,
geht das Geld aus. Der Ort in Hang-
lage gegenüber von Seattle hat für
das kommende Jahr ein Defizit von
einer halben Million Dollar prognos-
tiziert, wenn er seine Steuereinnah-
men nicht erhöhen kann. Medina
wird dann seine Polizei und Feuer-
wehr nicht mehr ordentlich bezah-
len, seine herrlichen Parks nicht
mehr ausreichend pflegen oder die
Badeaufseher seines Strandbads am schö-
nen Lake Washington nicht mehr finanzie-
ren können. »Die Werte der Immobilien
in Medina steigen zwar immer weiter an«,
sagt Gemeindevorsteher Michael Sauer-
wein, »aber leider können unsere Steuer-
einnahmen da nicht mithalten.«
Einem Gemeinwesen, das von einigen
der reichsten Menschen des Planeten be-
wohnt wird, geht das Geld aus? Das
scheint eine ziemlich überzeugende Para-
bel auf die Unzulänglichkeit und Unge-
rechtigkeit des amerikanischen Steuersys-
tems. Amerikas Superreiche spenden zwar
gern, aber Steuern zahlen sie kaum.
Bill Gates ist mit seiner in Seattle ansäs-
sigen Bill & Melinda Gates-Stiftung einer
der großzügigsten und prominentesten
Wohltäter der Welt. Und MacKenzie Be-
zos hat nach ihrer Trennung von Jeff die
Initiative »Giving Pledge« unterzeichnet
und sich damit verpflichtet, mindestens
die Hälfte ihres Vermögens für gemein -
nützige Zwecke zu spenden. Es fließt eine
ganze Menge Geld für Wohlgemeintes aus
Medina heraus. Bloß im Ort selbst kommt
erstaunlich wenig an. Anand Giridharadas,
Autor des im vergangenen Jahr erschiene-
nen Reichenreports »Winners Take All«,
sieht in Medina »ein eindrückliches Sym-
bol dafür, dass Philanthropie kein Ersatz
für gerechte Steuerabgaben sein kann«.
Einen Hundespaziergang von den mäch-
tigen, verschlossenen Pforten entfernt, die
zum 2500-Quadratmeter-Villenkomplex
der Bezos führen, liegt das kleine, hübsche
Rathaus von Medina, das gleichzeitig
Polizeistation ist. Michael Sauerwein und
seine Verwaltungskollegen haben die
Bürger an diesem Sommerabend zu einer
Informationsveranstaltung eingeladen, um
ihnen zu erklären, warum die Gemeinde
die Immobiliensteuer anheben will. Die
Finanzchefin ist da, die Bürgermeisterin
ist da, der Polizeichef ist da. Sie haben ein
paar bunte Schautafeln mit Tortengrafiken
aufgestellt. Nur wenige sind gekom-
men, ein gutes Dutzend vielleicht,
Sauerwein begrüßt die meisten mit
Vornamen. Jeff und Bill sind natür-
lich nicht dabei.
Sauerwein, mit Sakko, schlipslos,
ein etwas untersetzter Herr von
ausgesuchter Höf- und Sachlichkeit,
erzählt nun von Zahlen, die ziemlich
lächerlich erscheinen in einer Nach-
barschaft, wo vermutlich schon der
Wert des privaten Bootshauses dort
drüben das gesamte Stadtjahres -
budget in den Schatten stellt. Bill
Gates’ Haus, etwas weiter nördlich,
soll über 24 Badezimmer und einen
Trampolinraum verfügen.
»Wie ihr wisst«, sagt Sauerwein,
»sind wir eine kleine Gemeinde mit
einem aktuellen Budget von 6,9 Mil-
lionen Dollar für 2019. Und wir
haben ein ganz simples mathema -
tisches Problem: Unsere Ausgaben
sind in den vergangenen Jahren vor
allem wegen der Teuerung um 4,5
Prozent jährlich gestiegen, doch un-
sere Einnahmen nur um 2,5 Pro-
zent.« Medina ist zu über 40 Pro-
zent von Immobiliensteuern abhän-
gig, »und da haben wir leider im
* Oben: Ehepaar Melinda und Bill Gates in
Kirkland, Washington; unten: Amazon-Chef
Jeff Bezos mit Partnerin Lauren Sanchez in
Wimbledon.
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Wirtschaft
Reich, aber arm
GerechtigkeitIn der US-Kleinstadt Medina nahe Seattle wohnen mit Bill Gates und Jeff Bezos die
zwei reichsten Männer der Welt. Nun geht der Gemeinde das Geld aus. Wie ist das möglich?
SIMON STACPOOLE / WITTERS
Milliardäre Gates, Bezos*
»Philanthropie ist kein Ersatz für Steuern«
XINHUA / IMAGO