er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1

eine Stelle streichen beim Polizei-
korps. Man könnte sich weniger
Mühe geben bei der Schneeräu-
mung im Winter. Man könnte den
Spielplatz im Stadtpark sich selbst
überlassen.
Eine Frau meldet sich: »Wir dür-
fen auf gar keinen Fall an unseren
Männern in Uniform sparen, unse-
re Gesetzeshüter sind die Schutz-
engel unserer Stadt.« Polizeichef
Steve Burns, ein Mann mit Igel -
frisur und mächtigem Brustkorb,
nimmt das zur Kenntnis. Er erklärt
später, dass der Polizeidienst in sei-
ner Gemeinde von besonderer Art
sei. »Um Verbrechen geht es hier
nicht so sehr«, sagt er. Hauptauf-
gabe sei eher, den Menschen das
Gefühl von Sicherheit zu vermit-
teln. Seine Klientel sei anspruchs-
voll. Die Bürger rufen ihn an, wenn
ein ortsfremder Spaziergänger
durch die Straßen geht. »Manche
Leute geben uns Bescheid, wenn
sie in Urlaub gehen, damit wir nach
ihrem Haus schauen.«
Abstriche an ihren öffentlichen
Diensten, an der Sicherheit vor
allem, wollen die Menschen von
Medina nicht, da sind sie sich einig.
Nun hat ein Bürger eine Idee: »Mi-
chael, darf die Verwaltung eigent-
lich private Spenden annehmen?«
»Ja, Mike, das dürfen wir.«
»Wenn also jemand sagen wür-
de, ich möchte der Truppe von
Polizeichef Burns einen weiteren
Beamten finanzieren, wäre das
möglich?«
»Theoretisch ja. Wenn sich je-
mand oder eine Gruppe von Leu-
ten verpflichtet, das Jahresgehalt
eines Polizisten zu spenden, ja, das
ginge.«
»Und wäre das dann nicht gene-
rell eine Möglichkeit, die Steuer -
erhöhung zu umgehen? Durch ei-
nen Spendenaufruf?«
Da steht sie also im Raum, die
Frage, ob nicht die Vermögendsten
freiwillig ihre Brieftaschen öffnen könnten,
damit nicht alle mehr zahlen müssen. Der
Vorschlag ist verständlich in einem Ort mit
einer solchen Ballung von Privatkapital
und karitativer Finanzkraft.
Aber was, wenn die Spendierlust plötz-
lich versiegt? Erhaltene Geschenke sind
im folgenden Jahr nicht einklagbar. Was
macht man dann? Entlässt man den ge-
spendeten Ordnungshüter, den Parkpfle-
ger, den Feuerwehrmann wieder? »Es ist
besser, eine Parkbank zu spenden als einen
Polizisten«, sagt Sauerwein. Grummelnde
Zustimmung im Saal.
Charity, das freiwillige Geben, gehört
zum Grundbestand amerikanischer Werte,


ken, und erhalten dafür Steuervor-
teile in der Gegenwart.
Spenden sei nobel, sagt Giridha-
radas, aber wenn es vor allem da-
rum gehe, dem Fiskus zu entkom-
men, verfehle es seinen Zweck:
»Der Staat braucht Steuern, keine
Almosen.« Vielmehr müsse das
System so verändert werden, dass
gigantische Reichtümer wie jene
von Bezos oder Gates gar nicht erst
angehäuft werden.
Auf den ersten Blick gehört die
Flucht des amerikanischen Privat-
kapitals vor der öffentlichen Hand
eigentlich nicht hierher, nach Me-
dina, wo ein lokales Gesetz die öf-
fentlichen Kassen auf Diät hält.
Tatsächlich aber gehöre es doch
hierher, meint Matt Gardner, Steu-
erexperte vom »Institute on Taxa-
tion and Economic Policy« (ITEP),
einem Thinktank in Washington:
»In Orten wie Medina schließt sich
der Kreis.« Dass eine Kleinstadt
bei Seattle, Heimatort von Ama-
zon, des aktuell drittwertvollsten
Unternehmens der Welt, in Finanz-
nöte geraten könne, sagt Gardner,
»hat am Ende auch damit zu tun,
dass Firmen wie Amazon auf bun-
desstaatlicher und nationaler Ebe-
ne ihre Steuern nicht zahlen«.
Amazon hat laut einer Analyse
von ITEP im vergangenen Jahr
keinerlei Bundessteuern auf seinen
Unternehmensgewinn von 11,2
Mil liarden Dollar entrichtet. Alle
»großen fünf« der Tech-Industrie –
Apple, Google, Facebook, Micro-
soft, Amazon – sind laut Gardner
»auf unterschiedliche Weise und zu
unterschiedlichen Zeiten als Steuer-
sünder hervorgetreten, sie sind ge-
radezu Meister auf dem Gebiet der
Steuervermeidung«.
Google, Facebook und Apple
haben über viele Jahre Irland als
Steuerschlupfloch benutzt, Apple
wurde dafür 2016 von der EU-Kom-
mission zu einer 15-Milliarden-Dol-
lar-Nachzahlung vergattert. Google ver-
schob vor zwei Jahren 23 Milliarden seiner
Gewinne zwecks Steueroptimierung auf
die Bermudas. Microsoft wandte ähnliche
Tricks an.
Das Geld, das deswegen fehlt, entgehe
allen, sagt Gardner: dem Land, dem Bun-
desstaat, der einzelnen Kommune, »die
dann irgendwann Mühe hat, ihre öffent -
lichen Dienstleistungen zu finanzieren«.
Man muss kein Mitleid haben mit
Medina. Den Menschen hier geht es gut.
Die Stadt ist kein Problemfall. Sie ist eine
Metapher. Guido Mingels
Mail: [email protected]

68 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019


Rathaus, Strand, Laden in Medina
Im Ort selbst kommt wenig an

und es ersetzt oder ergänzt vielerorts das
schwach ausgestattete Gemeinwesen. Die
Motive dahinter entspringen nicht immer
purer Selbstlosigkeit. Anand Giridharadas,
ein scharfer Kritiker der Wohltätigkeits-
praktiken von Amerikas Superreichen,
sagt: »Wir brauchen nicht mehr reiche
Menschen, die mehr Gutes tun. Wir brau-
chen mehr Reiche, die weniger Schaden
anrichten.«
Bei den vielen Neu- und Altmillionären
der Tech-Branche erfreuen sich gemein-
nützige Stiftungsfonds großer Beliebtheit:
Vermögende können solchen Einrichtun-
gen Geld überschreiben, das diese in Zu-
kunft für gute Zwecke auszugeben geden-

FOTOS: DANIEL BERMAN / DER SPIEGEL
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