er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
A

n einem lauen Sommerabend,
kurz nach den Massakern in El
Paso und Dayton, stehen in Fair-
fax, einem Vorort von Washing-
ton, D. C., mehrere Hundert Demonstran-
ten an einer Ausfallstraße und zünden Ker-
zen an. Hinter ihnen erhebt sich ein blauer
Klotz aus Glas und Beton, man sieht ihn
schon von der Autobahn, die aus der
Hauptstadt herausführt. Hoch oben leuch-
ten feuerrot fünf Wörter: »National Rifle
Association of America«.
Im Gebäude scheint sich niemand für
die Demonstranten zu interessieren. In
einigen Büros brennt noch Licht, sonst ist
alles ruhig. Die Mitarbeiter
der NRA, der mächtigsten
Waffenlobby der Welt, ken-
nen das schon: dass Protest-
märsche aufziehen, wenn
wieder einmal ein Schütze
Menschen niedergemäht hat.
Nach den beiden Massakern
am vergangenen Wochenen-
de stand eine kurze Notiz auf
der NRA-Website: Man fühle
mit den Opfern der Familien,
werde aber weiter für das
Recht der Amerikaner eintre-
ten, Waffen zu tragen. Sechs
Zeilen für 31 Tote, das musste
genügen.
Unten auf der Straße
stimmt eine Frau »We Shall
Not Be Moved« an, ein Lied
aus der US-Bürgerrechts -
bewegung, der Gesang steigt hoch an der
Glasfassade. Dann klettert Reverend Da-
vid Miller auf ein kleines, improvisiertes
Podium, ein kräftiger Mann mit grauem
Hemd und Kollar. Man dürfe sich nicht
schon wieder mit den ewig gleichen Phra-
sen abwimmeln lassen, ruft der Geistliche:
»Die Zeit des Innehaltens und der Gebete
ist vorbei. Nun ist die Zeit da, endlich zu
handeln!«
»Amen!«, ruft die Menge zurück,
»Amen, Amen!« Der Reverend lässt sich
anstecken von der Leidenschaft, die ihn an
diesem Abend umgibt. Schüler sind gekom-
men, Studenten, eine Kongressabgeordne-
te der Demokraten. Sie tragen Schilder mit
sich, auf denen »Unser Blut, eure Hände«
steht, sie strecken Bilder mit den Opfern
des Blutbads in El Paso in die Höhe.


Natürlich, sagt der Reverend, es habe
schon so viele Massaker gegeben. Nach
dem Attentat in der Sandy-Hook-Grund-
schule in Connecticut im Jahr 2012, bei
dem 26 Menschen starben, darunter 20 Kin -
der, habe er gedacht, es würde sich endlich
etwas ändern. Dasselbe nach dem Massa-
ker in einer Highschool in Parkland, Flori-
da, im Jahr 2018, mit 17 Toten. Selbst die
Proteste der überlebenden Parkland-Schü-
ler haben keine Änderung des Waffen-
rechts bewirkt. Aber nun, sagt der Geist -
liche, sei man wirklich an einer Wegmarke
angelangt. »Nun beginnt sich der Tanker
zu drehen.« Er überlegt eine Weile und

blickt in den Abendhimmel: »Ich hoffe es
zumindest.«
Es mangelt in diesen Tagen nicht an
Mahnungen, endlich innezuhalten, zur
Vernunft zu kommen angesichts der Ge-
walt und des Hasses in den USA. Allein
2019 wurden etwa 250 Menschen bei Mas-
senschießereien getötet.
Das Wort »Amoklauf« trifft auf Patrick
Wood Crusius’ Tat in El Paso, wie auf die
meisten Massenerschießungen, nicht zu; der
mutmaßliche Schütze war wütend, aber er
suchte sich seine Opfer nicht wahllos aus. Er
fuhr zehn Stunden, von einem Vorort von
Dallas nach El Paso an der mexikanischen
Grenze, wo der Anteil der Latinos an der Be -
völkerung besonders hoch ist. Er wählte für
das Blutbad einen Walmart aus, dessen Ge-
schäft auf dem regen Grenzverkehr beruht.

Crusius wollte nicht nur morden, er woll-
te ein politisches Zeichen setzen. Er hatte
ein Vorbild: den Attentäter von Christ-
church, der in zwei Moscheen in Neusee-
land 51 Menschen erschoss – und sich sei-
nerseits auf den Rechtsextremisten Anders
Breivik berief, der 2011 in Oslo und auf
der Insel Utøya 77 Menschen tötete.
Crusius’ Tat sollte ein Terrorakt sein, er
wollte offenbar all jene in Angst und Schre-
cken versetzen, die nicht weiß sind, und
damit seine Rassenideologie verbreiten,
seine Angst vor Job-Automatisierung und
Überbevölkerung. »Ich verteidige mein
Land gegen einen kulturellen und ethni-
schen Austausch, der durch
eine Invasion verursacht
wird«, schreibt Crusius in ei-
nem vierseitigen Pamphlet,
das kurz vor der Tat online
ging. Er wiederholt darin
die rechtsextreme Verschwö-
rungstheorie, dass die Bevöl-
kerung Amerikas »ausge-
tauscht« werden solle.
Nach den islamistischen
Anschlägen vom 11. Septem-
ber 2001 begann der dama -
lige US-Präsident George
W. Bush zwei Kriege, die
Tausende US-Soldaten das
Leben kosteten. Er schuf ein
neues Ministerium für Hei-
matschutz, das 240 000 Men -
schen beschäftigt und jedes
Jahr mindestens 40 Milliar-
den Dollar verschlingt. Es sollte die USA
vor allem vor ausländischen Attentätern
schützen. Aber nun wird immer deutlicher,
dass eine vielleicht größere Bedrohung da
heranwächst, wo sie kaum jemand vermu-
tet hat: in ruhigen, baumbeschatteten Vor-
orten wie Allen, Texas, wo Crusius wohnte
und sich radikalisierte, bis er schließlich
ein Sturmgewehr in sein Auto packte und
sich aufmachte in Richtung mexikanische
Grenze.
Holger Esser konnte es nicht glauben,
als er die Nachrichten aus El Paso hörte.
Der Softwareingenieur aus Düren lebt seit
über 20 Jahren in den USA. Er kannte Cru-
sius flüchtig, sie lebten in derselben Straße
und grüßten sich, wenn Esser morgens mit
seiner Hündin Millie spazieren ging. Esser
hatte nie viel über ihn nachgedacht, einen

74 DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019

Ausland

Weißer Terror

USADas Massaker von El Paso ist die Folge eines neuen rassistischen Extremismus in den


Vereinigten Staaten. Donald Trump müsste als Präsident die Nation einen, aber
er hat ein Klima des Hasses geschaffen, das er nun kaum noch unter Kontrolle bekommt.

UPI / LAIF
Videobilder des El-Paso-Attentäters Crusius: Angst und Schrecken
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