K
ann das wirklich sein? Als ich das
Büro des Mannes betrete, der
vor 30 Jahren als Elektriker dazu
beitrug, dass der Kommunismus
stürzte, sitzt Lech Wałęsa an seinem
Schreibtisch und hat tatsächlich einen
Schraubenzieher in der Hand. Er trägt eine
Weste und macht sich an einem Gerät zu
schaffen, das aussieht wie ein altes Telefon.
»Bevor Sie reingehen: Erwähnen Sie
ihm gegenüber nicht Ihren Namen«, hatte
sein Mitarbeiter im Flur geflüstert. »Und
auch nicht, woher Sie kommen. Dieses Bla-
bla interessiert den Präsidenten nicht.«
Es ist ein Tag im April 2018, unser erstes
Treffen in Danzig. Links an einem Tisch
haben zwei Mitarbeiter Platz genommen,
rechts Wałęsa. Ich setze mich auf das mir
zugewiesene Sofa in der Mitte. Schwei-
gend sitzen wir auf unseren Positionen –
wie auf einer Bühne, bevor sich der Vor-
hang hebt.
Es dauert ein paar lange Minuten, dann
steht Wałęsa auf. Er läuft zum Sessel ge-
genüber, ganz vorsichtig lässt er
sich hineinfallen. Er schaut mich
nicht an, gibt mir nicht die Hand.
Statt »Guten Tag« sagt er: »Erste
Frage.«
Lech Wałęsa, 75 Jahre, Vater von
acht Kindern, Führer der Gewerk-
schaft Solidarność, Präsident der
Dritten Republik Polen, Ikone der
Freiheit, ein polnischer Held.
»Herr Wałęsa, wie war das da-
mals ...«
»Was weiß ich, wie das damals
war.«
»Was denken Sie heute über ...«
»Hören Sie, gute Frau. Ich denke
erst mal gar nichts. Ich bin hier
nicht zum Denken. Ich denke an
gute Luft oder an Vögel, und viel-
leicht daran, ob es zum Mittag
Rippchen gibt.«
Würde man Deutsche fragen,
welche historische Figur sie mit
Polen verbinden, würden die meis-
ten wohl Lech Wałęsa nennen.
Manche sagen, ohne ihn wäre es
nicht zum Fall der Berliner Mauer
gekommen.
In Polen allerdings ist die Frage
»Wie hältst du es mit Wałęsa?« zur
Gretchenfrage geworden. Für die
einen hat Wałęsa 1989 eine Revo-
lution angeführt, den anderen ging
er damals zu milde mit den Kommunisten
um. Egal, mit wem man spricht, alle reden
von den Wendejahren: Wer das heutige
Polen verstehen wolle, heißt es, müsse ver-
stehen, was vor 30 Jahren geschah.
»Wie er damals mit den kommunisti-
schen Machthabern verhandelte, war mu-
tig und einzigartig«, sagt Chris Niedenthal,
Fotograf.
»Alle wollten einen Schnurrbart haben
wie er«, sagt Robert Więckiewicz, Schau-
spieler.
»Nur der persönliche Kontakt mit ihm,
der war schwierig«, sagt Cezary Łazare-
wicz, Journalist.
»Er war ein abwesender Vater«, sagt Ja-
rosław Wałęsa. »Die Politik hat ihn mir ge-
stohlen.«
Nur der Erzfeind von Lech Wałęsa, Ja-
rosław Kaczyński, der starke Mann Polens,
der sagt: nichts.
Wałęsas Biografie klingt wie ein Drama
von Shakespeare: Er, der Dorfjunge, wird
Elektriker, dann Streikführer, schließlich
Präsident. Er trägt dazu bei, dass sich ein
marodes Land in ein wirtschaftlich erfolg-
reiches EU-Mitglied verwandelt. Trotz-
dem fällt er in Ungnade – beim Volk, bei
seinen Mitstreitern, in seiner eigenen Fa-
milie. Heute lebt er isoliert und einsam.
Wałęsa war dabei, als die Werftarbeiter
1970 rebellierten und Sicherheitskräfte
Streikende töteten. Er sorgte dafür, dass
mit Solidarność zehn Jahre später die erste
freie Gewerkschaft des Ostblocks entstand.
Er wurde unter Hausarrest gestellt, als die
Machthaber gegen Solidarność vorgingen
und das Kriegsrecht verhängten. 1989 ver-
handelte er über die ersten, halb freien
Wahlen, die das Ende der kommunisti-
schen Herrschaft einläuteten. Wandel
durch Verhandlungen – dieses Prinzip hat
Wałęsa mitgeprägt.
Drei Jahrzehnte nach dem Umsturz in
Warschau und dem Fall der Berliner Mau-
er gibt es jedoch nicht nur ein Polen, son-
dern zwei. Und auch diese Polarisierung
hat viel mit Wałęsa zu tun.
Das moderne Polen wird von
der nationalkonservativen, kirchen-
nahen PiS-Partei regiert, deren An-
hänger glauben, das Land müsse
noch viel tiefgreifender umgebaut
werden. Wałęsa sei kein Held. Er
sei mitschuldig daran, dass sich
Parteifunktionäre nach der Wende
bereichern konnten, während Ar-
beiter massenhaft ihre Jobs ver -
loren. Die Solidarność, die er einst
prägte, mit damals fast zehn Mil-
lionen Mitgliedern, ist nach rechts
gerückt und hat an Bedeutung ver-
loren. Die PiS und ihre Parteigän-
ger würden Wałęsa am liebsten
vom Sockel stürzen. Warum konn-
te er nicht mehr für das Land he-
rausholen? War er ein Spitzel des
kommunistischen Geheimdienstes?
Held! Verräter! Symbol! Witzfi-
gur! Legende! Schande! Der Streit
um Wałęsa ist zum Kulturkampf
geworden.
Chris Niedenthal läuft über die
Danziger Werft, auf der einst alles
seinen Anfang nahm. »Ich muss zu-
geben, ich erkenne kaum etwas
wieder«, sagt er. »Die meisten Ge-
bäude hier wurden abgerissen.«
Das neu erbaute Solidarność-Zen-
trum lässt er hinter sich, dann rüt-
telt er an der Tür zu einem alten
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Ausland
Held! Verräter! Witzfigur!
PolenAls Gewerkschaftsführer hat Lech Wałęsa vor 30 Jahren die Wende mitgestaltet.
Heute zeigt der Streit über ihn, wie sehr das Land gespalten ist. Von Emilia Smechowski
JACQUES LANGEVIN / AP
Gewerkschafter Wałęsa 1983: »Keine Angst vor Autoritäten«