er Spiegel - 10. August 2019

(John Hannent) #1
Flachbau. »Hier drin«, sagt er, »hier hat
er verhandelt.«
Es gibt wohl keinen Fotografen, der in
den Achtzigerjahren den Kollaps des Kom-
munismus so sehr aus der Nähe mitverfolgte
wie Niedenthal – erst für das amerikanische
Magazin »Newsweek«, dann für »Time«.
Niedenthal war keine 30 Jahre alt, als er am


  1. August 1980 mit seiner Kamera vor dem
    Tor der Werft stand. Es war der zweite Tag
    des Streiks und Niedenthal der erste auslän-
    dische Fotograf vor Ort. »Ich kam in den
    Raum mit einem langen Tisch«, erzählt er,
    »auf der einen Seite der Werftdirektor, auf
    der anderen ein Mann mit Schnurrbart. Mir
    fiel sofort auf, wie er den Direktor um den
    Finger wickelte. Er hatte keine Angst vor
    Autoritäten, er war dreist, auf eine gute Art.«
    Immer wieder hatten die Werftarbeiter
    zwischen Szczecin und Danzig gestreikt,
    1980 eskalierte der Protest. Er richtete sich
    gegen miese Arbeitsbedingungen, hohe
    Lebensmittelpreise und die Gängelungen
    durch die Partei. Die Kommunisten knick-
    ten vor dem Volkszorn ein. Als Wałęsa am

  2. August 1980 die Einigung mit dem
    Werftdirektor unterschrieb, war nicht
    mehr nur Niedenthal vor Ort, sondern
    auch die Weltpresse. »Er hatte den Streik
    als unbekannter Elektriker begonnen.
    Nach zwei Wochen kannte die ganze Welt
    seinen Namen.«


Die Menschen auf der Werft hatten un-
ter anderem eine freie Gewerkschaft, ein
Arbeiten in Würde gefordert. Und wer in
Würde arbeiten will, der will auch in Wür-
de leben. Der will am Ende: Freiheit und
Demokratie. Das ist das große Verdienst
der Solidarność, die in diesem »polnischen
August« begründet wurde: Sie bündelte
den Wunsch des Volkes. Und Lech Wałęsa,
der Mann an ihrer Spitze, verschob die
Grenzen des Möglichen. Er zermürbte sei-
ne Verhandlungspartner.
Wałęsa wurde 1943 in Popowo geboren,
das Dorf gehörte da noch zu Westpreußen.
Nach der Grundschule ging er auf eine
elektrotechnische Berufsschule und arbei-
tete fortan als Elektromechaniker.
Bei unserem zweiten Treffen hat Wa -
łęsa – für seine Verhältnisse – richtig gute
Laune, soll heißen: Er ist nur ein bisschen
genervt. Er erzählt, wie er das »Gewicht
des Kommunismus hochgehoben« und
weggeworfen habe. Wie er danach mit den
Japanern darüber verhandelte, den Polen
die Hälfte ihrer Staatsschulden zu erlassen.
»Ich bin ein Mann des geraden Weges.«
»Ich weiß, was das Volk hören will.«
Ich, ich, ich. Das Pronomen »wir« be-
nutzt Wałęsa selten.
Heute verbringt er seine Tage damit,
Schülern, Journalisten und Rentnergrup-
pen Audienzen zu gewähren. Jedes Tref-

fen wird für Facebook fotografiert. Wałęsa
postet viel im Internet. Er ist ein Mann,
der einmal sehr groß war. Und der einen
typischen Fehler beging: Er wollte immer
noch ein Stückchen größer sein.
Sitzt man ihm gegenüber, verzieht
Wałęsa keine Miene. Er doziert gern. Bes-
ser, man lässt ihn ausreden. Unser drittes
Treffen dauert nur elf Minuten, an deren
Ende mich der Leibwächter mit den Wor-
ten hinausbegleitet, für ein Interview müs-
se Wałęsa »in der richtigen Stimmung
sein«. Wałęsas Scheißegal-Haltung kann
durchaus etwas Erfrischendes haben.
Lech Wałęsa war nicht nur ein mutiger
Einzelkämpfer. Er war der Held der Mas-
sen – und wusste die Dissidenten des Lan-
des hinter sich, etwa den katholischen In-
tellektuellen Tadeusz Mazowiecki, später
Polens erster nicht kommunistischer Mi-
nisterpräsident nach dem Krieg.
Diese Leute hatten gegen die Partei re-
belliert, saßen zum Teil jahrelang im Ge-
fängnis. Und irgendwann verstanden sie,
dass den Kommunisten nur im Bündnis
mit den Arbeitern beizukommen war. Also
dienten sie sich als Berater an, stützten
Wałęsa und die Streikkomitees. Ihr Tenor:
Treibt die Streiks nicht zu weit. Verlangt
vorsichtige Zugeständnisse.
»Die Vorstellung, die Solidarność sei ein-
zig ein Siegeszug der Arbeiter gewesen,

DER SPIEGEL Nr. 33 / 10. 8. 2019 83

SIPA PRESS / ACTION PRESS
Politrentner Wałęsa: »Alle wollten einen Schnurrbart haben wie er«
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