Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

S


ie hat sich selbst um dieses hohe
Amt beworben. Peking hat es ihr
übertragen. Es auszuüben muss
zurzeit die Hölle sein.
Am Dienstagmorgen betritt Carrie Lam,
62, die Regierungschefin von Hongkong,
den Garten vor ihrem Amtssitz. Sie trägt
ein blaues Kostüm, der Oleander blüht, die
Vögel zwitschern. Eine Oppositionsgruppe
will ihr eine Petition gegen Polizeigewalt
übergeben. Sie geht auf einen der Män-
ner zu, er greift sofort
nach ihrer Hand und
lässt sie nicht mehr los.
»Hongkong wird mit
Lügen regiert!«, ruft
der Mann. »Korrupte
Polizei!«, skandieren
die anderen. Leibwäch-
ter eilen herbei, um
Lam loszureißen.
Sichtbar erschrocken
kehrt sie in den klima-
tisierten Regierungssitz
zurück, dort wartet be-
reits das Hongkonger
Pressekorps. Die Jour-
nalisten bestürmen sie
mit Fragen. Manche
brüllen sie an, ohne auf
Antworten zu warten: »Reden Sie nicht
über ›die Polizei‹ und ›die Leute‹. Was ist
Ihre eigene Verantwortung?«
»Belehren Sie nicht die Reporter. Tun
Sie Ihre Arbeit, und antworten Sie!«
»Sind Ihre Hände von Peking ge -
bunden?«
»Ja oder nein? Präzise Antwort!«
Lam antwortet ausweichend, formelhaft
und schwach. An einer Stelle ringt sie mit
den Tränen. Die Kameras klicken.
Als sie die Pressekonferenz nach einer
halben Stunde abrupt beendet und den
Raum verlässt, schreit ihr jemand nach:
»Frau Lam, viele Bewohner fragen, wann
Sie sterben werden!«
Die Frustration und die Aggression, die
sich in den vergangenen zehn Wochen in
Hongkong angestaut haben, sind bis in die


zivilen Rituale des öffentlichen Alltags vor-
gedrungen. Fast täglich kommt es inzwi-
schen zu Demonstrationen und Gegen -
demonstrationen, zu blutig endenden Poli -
zeieinsätzen und Schlägereien. Der Stadt,
die wie sonst nur Singapur als asiatisches
Vorbild an Effizienz, Disziplin und Urbani -
tät galt, droht die Zerrüttung ihres gesell-
schaftlichen und politischen Gefüges. Von
einem »Abgrund, in dem alles zugrunde
geht«, spricht Lam am Dienstagmorgen.
Der Blick in diesen
Abgrund lässt schau-
dern – nicht nur die
Regierungschefin und
die pekingfreundliche
Wirtschafts- und Finanz -
elite der Stadt, die mit
am meisten zu ver -
lieren hat. Auch viele
Chinakritiker sehen in-
zwischen vor allem
die Risiken der füh -
rerlosen, dezentralen
Demonstrationen, an
deren Rändern es zu-
nehmend zu Ausschrei-
tungen kommt – auch
wenn der Protest Erfol-
ge erzielt hat.
In welchen Abgrund Chinas Führung
selbst hinabschaut, deutet das Regime seit
der Besetzung und zeitweisen Schließung
des Hongkonger Flughafens Anfang der
Woche durch die Verschärfung seiner Spra-
che an. Die Proteste trügen »erste Anzei-
chen von Terrorismus«, kommentierte das
für Hongkong zuständige Büro der Volks-
republik am Montag. Sie seien »quasi
terroristisch«, schob es am Mittwoch nach.
So fingen die Kader an zu reden, bevor sie
vor 30 Jahren den Aufstand auf dem Platz
des Himmlischen Friedens niederschlugen.
Genau davor, einem zweiten Tianan-
men-Massaker, warnt nun Gary Locke, der
frühere US-Botschafter in Peking und
bislang nicht als Mann der Übertreibungen
bekannt. Im Gegensatz zu seinem Präsi-
denten Donald Trump, der am Dienstag

per Twitter die Erkenntnis amerikanischer
Dienste mitteilte, dass Peking an der Gren-
ze zu Hongkong Truppen versammelt.
Inzwischen gibt es Satelliten- und sogar
chinesische Propagandabilder von den
Truppentransportern. Wer noch Zweifel
an der weltpolitischen Bedeutung dieser
Krise hatte – damit sind sie endgültig aus-
geräumt.
Welche Taktik, welche Ziele verfolgen
die Protestierenden zehn Wochen nach Be-
ginn der Demonstrationen? Wie weit sind
sie, wie weit ist Peking bereit zu gehen, um
seinen Willen durchzusetzen? Worauf
müssten sich Regierung und Opposition in
Hongkong einigen, um eine chinesische
Intervention zu vermeiden? Und welche
Rolle könnte, wenn überhaupt noch, Regie-
rungschefin Carrie Lam dabei spielen?

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Ausland

Feindliche


Übernahme


HongkongDie chinesische Regierung fährt an der Grenze Militär
auf, die Protestbewegung will nach der Besetzung des

Flughafens Hunderttausende mobilisieren. Und nun schaltet sich
auch noch US-Präsident Donald Trump ein. Von Bernhard Zand

THOMAS PETER / REUTERS
Regierungschefin Lam
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