Handelsblatt - 23.08.2019

(Rick Simeone) #1

Wirtschaftskriminalität


Schärfere Sanktionen für Unternehmen


Bundesjustizministerin
Lambrecht will gegen
kriminelle Unternehmen
Milliarden-Bußgelder
verhängen.

Heike Anger Berlin


D


eutsche Unternehmen sollen
die Folgen einer Straftat stär-
ker zu spüren bekommen.
Das will Bundesjustizministerin
Christine Lambrecht mit einem „Ge-
setz zur Bekämpfung der Unterneh-
menskriminalität“ erreichen. Einen
entsprechenden Entwurf stellte die
SPD-Politikerin am Donnerstag in
Berlin vor. „Die Sanktionen müssen
ein Anreiz für die Unternehmen sein,
sich rechtstreu zu verhalten“, sagte
Lambrecht. „Der Ehrliche darf nicht
der Dumme sein.“
Künftig sollen Unternehmen bei
Betrug, Korruption oder Umweltde-
likten Bußgelder von bis zu zehn Pro-
zent des Jahresumsatzes zahlen müs-
sen. Bei großen Konzernen können
hier zweistellige Milliardenbeträge
entstehen. Beispiel VW im Diesel-
skandal: Der Hersteller kam 2018 auf
Erlöse von knapp 236 Milliarden
Euro. Eine zehnprozentige Strafe
würde also 23,6 Milliarden betragen.
Dient eine Firma „allein oder über-
wiegend“ dazu, Straftaten zu bege-
hen, ist als „Ausnahmevorschrift“ so-
gar die Auflösung des Unternehmens
vorgesehen.
Anders als bisher soll es künftig
nicht mehr im Ermessen der Behör-
den der einzelnen Bundesländer lie-
gen, ob und wie gegen Delikte vorge-
gangen wird. „Staatsanwaltschaften
müssen gegen ein Unternehmen er-
mitteln, wenn es einen Anfangsver-
dacht auf eine Straftat aus einem Un-
ternehmen heraus gibt“, stellte Lam-
brecht klar. Verurteilte Unternehmen
sollen zudem in ein Register eingetra-
gen werden, das allerdings nicht öf-
fentlich zugänglich sein soll. Das
dürfte vor allem Familienunterneh-
men beruhigen, die vor einem „öf-
fentlichen Pranger“ gewarnt hatten.
Hat eine Straftat viele Verbraucher
geschädigt, liegt es aber im Ermessen
des Gerichts, eine Verurteilung zu
veröffentlichen.
Bislang kann gegen Unternehmen
bei Wirtschaftskriminalität nach dem
Ordnungswidrigkeitsrecht ein Buß-
geld von bis zu zehn Millionen Euro
verhängt werden. Diese Summe kann
kleine Unternehmen stark belasten,
wirkt aber bei Großkonzernen kaum.
Daneben ist die Gewinnabschöp-
fung möglich, die mit Straftaten er-
zielten Profite werden also eingezo-
gen. Dabei soll es auch in Zukunft
bleiben. Verbraucher werden es
künftig aber leichter haben, an Ent-
schädigungen zu kommen.
Strafrechtlich kann weiterhin nur
individuelles Fehlverhalten verfolgt
werden. Hier müssen sich Straftäter
aus Belegschaft und Management
verantworten.
In der Konsequenz würde ein neu-
es Gesetz zur Bekämpfung der Unter-
nehmenskriminalität dazu führen,
dass Unternehmen für mehr Compli-
ance-Maßnahmen sorgen müssen.
Denn so könnten sie bei Verstößen
belegen, dass sie sich um Rechtstreue
bemüht haben – was die Sanktionen
mildern oder sogar komplett verhin-
dern könnte. Zugleich soll das ge-
plante Gesetz auch den Umgang mit

unternehmensinternen Ermittlungen
regeln. Denn Unternehmen beauftra-
gen bei Unregelmäßigkeiten – häufig
angestoßen von Untersuchungen von
US-Behörden – Anwaltskanzleien
oder Wirtschaftsprüfer, um Sachver-
halte aufzuklären. Bislang war un-
klar, ob Informationen aus solchen
internen Ermittlungen später bei
staatlichen Ermittlungen durch die
Staatsanwaltschaft beschlagnahmt
und verwendet werden dürfen. Seit
dem VW-Abgasskandal und der da-
mit verbundenen Durchsuchung der
Kanzlei Jones Day hatte diese Frage
an Brisanz gewonnen. Jones Day hat-
te im Auftrag von VW den Diesel-
skandal untersucht. Die Staatsanwalt-
schaft beschlagnahmte die Befunde.
Der Gesetzentwurf soll laut Lam-
brecht nun „Rechtssicherheit“ für die
Unternehmen bringen. „Es muss klar
sein, dass diese Untersuchungen
auch beschlagnahmt werden kön-
nen“, sagte Lambrecht. „Wir wollen
den Staatsanwaltschaften ein schar-
fes und kein stumpfes Schwert in die
Hand geben.“
Union und SPD hatten bereits im
Koalitionsvertrag detailliert festge-
legt, neue Sanktionen für Unterneh-
men schaffen zu wollen. „Wir setzen
den Koalitionsvertrag eins zu eins
um“, erklärte Lambrecht. Sie rechnet
mit Unterstützung aus der Union.
Hier fielen die Reaktionen aller-
dings kritisch aus. Der stellvertreten-
de rechtspolitische Sprecher der Uni-
onsfraktion im Bundestag, Jan-Marco
Luczak (CDU), begrüßte zwar den
Ansatz, nicht die „Bestrafung“ in den
Mittelpunkt zu stellen, sondern An-
reize für effektive Compliance-Syste-
me in den Unternehmen zu setzen.
Er äußerte jedoch auch harsche Kri-
tik: Lambrechts Vorschlag, „dass im
Extremfall ein Unternehmen sogar
aufgelöst werden kann, lehne ich ab.“
Die Strafe träfe am Ende Mitarbeiter,
Aktionäre und Kunden – und damit
die Falschen. Der stellvertretende
CSU-Landesgruppenvorsitzende
Hans Michelbach sprach von einem
„Generalangriff auf die Unterneh-
men“ und bezeichnete Lambrechts
Gesetzentwurf als „ein Anreizpro-
gramm für Investitionsverlagerungen

in einer Zeit, in der Unternehmen
wegen der deutlich nachlassenden
Wachstumsdynamik noch viel genau-
er darüber nachdenken, wo sie als
Nächstes investieren.“ Es ist zu erwar-
ten, dass der Gesetzentwurf im Laufe
des parlamentarischen Verfahrens
noch Veränderungen erfahren wird.
Die Reaktionen der Opposition fie-
len gemischt aus. Der stellvertreten-
de FDP-Fraktionschef Stephan Tho-
mae warnte ebenfalls vor der Verla-
gerung von Unternehmen ins
Ausland. Anstatt einzelne Schuldige
zu ermitteln, drohten künftig alle Mit-
arbeiter sowie die Inhaber von Unter-
nehmen in Mitleidenschaft gezogen
zu werden. „Mit ihrem Gesetzent-
wurf schadet die Ministerin daher
der deutschen Wirtschaft mehr, als
dass sie ihr hilft.“ Niema Movassat,
Obmann der Linken im Rechtsaus-
schuss, lobte indes die Pläne: „Bis-
lang sind es stets einzelne Personen,
die verfolgt werden. Doch die Unter-
nehmen als solche kommen davon.
Das trifft nicht den Kern des krimi-
nellen Unrechts.“
Der Arbeitgeberverband BDA hält
ein neues Unternehmensstrafrecht
für unnötig: „Das bestehende Straf-
und Ordnungswidrigkeitsrecht bietet
heute schon umfassende Möglichkei-
ten.“ Der Verband „Die Familienun-
ternehmer“ warnte vor den Folgen
schärferer Unternehmenssanktio-
nen. „Die Höhe der Geldbußen, ob
man sie nun Strafe oder Sanktion zu
nennen vorzieht, dürfte künftig mit
einem Abbau von Arbeitsplätzen in
den betroffenen Unternehmen ein-
hergehen“, sagte der Vorsitzende
der wirtschaftsrechtlichen Kommissi-
on des Verbandes, Ulrich Herfurth,
dem Handelsblatt. Damit würden
Menschen für etwas bestraft, was an-
dere zu verantworten hätten. Der jet-
zige Entwurf könne nur „eine aller-
erste Diskussionsgrundlage“ sein.
Überlegungen und Entwürfe aus der
Wissenschaft und aus der Praxis
müssten mit einbezogen werden.
„Diese werden in Kürze vorgelegt“,
kündigte der Verband „Die Familien-
unternehmer“ an.


Kommentar Seite 15



Christine Lambrecht:
Die Bundesjustiz -
ministerin will
Unternehmen zusätz-
liche Anreize
für rechtstreues
Verhalten bieten.

Christoph Soeder/dpa


Die Höhe der
Geldbußen
dürfte künftig
mit einem
Abbau
von Arbeits -
plätzen in
den Unter -
nehmen
einhergehen.
Ulrich Herfurth
Die
Familienunternehmer

Forschungsergebnisse


Durchbruch


für Open


Access


Barbara Gillmann Berlin


D


ie Revolution rückt näher:
Schon bald könnten öffent-
lich finanzierte deutsche For-
schungsergebnisse für jedermann zu-
gänglich sein. Nach dem Wissen-
schaftsverlag Wiley hat nun auch
Springer Nature einen entsprechen-
den Open-Access-Vertrag mit der Wis-
senschaft unterzeichnet.
Seit vielen Jahren drängen For-
schung und Politik darauf, öffentlich
finanzierte Forschungsergebnisse frei
zugänglich zu machen. Ab Anfang
2020 soll dies für nahezu alle Publi-
kationen des Verlags Springer Nature
Realität werden. Das sieht ein Ab-
kommen mit dem „Deal-Konsortium“
der deutschen Wissenschaft vor, das
700 Hochschulen, Forschungsein-
richtungen und Bibliotheken vertritt.
Anfang 2019 war Deal bereits mit
dem Verlag Wiley einig geworden.
Künftig sollen beide Verlage eine fixe
Summe von 2 750 Euro pro veröf-
fentlichtem Artikel erhalten– die sie
im Gegenzug für jedermann weltweit
zugänglich machen. Das Copyright
bleibt künftig beim Forscher. Zudem
erhalten die Institute kostenlosen Zu-
griff auf nahezu alle sonstigen Veröf-
fentlichungen der Verlage, bis zu-
rück ins Jahr 1997. Das soll das tradi-
tionelle Verfahren ablösen, wonach
die Publikation Forscher nichts kos-
tet, sie aber teuer für wissenschaftli-
che Zeitschriften bezahlen, die zu-
dem jährlich vier bis fünf Prozent
teurer würden.
Kosten für die Wissen-
schaft könnten sinken
Die Einigung erhöht nun den Druck
auf Marktführer Elsevier, sich dem
neuen Regime anzuschließen. Else-
vier, Springer Nature und Wiley ver-
öffentlichen rund die Hälfte aller
wissenschaftlichen Artikel aus
Deutschland. „Es gibt derzeit keine
offiziellen Verhandlungen, aber Ge-
spräche mit Elsevier“, sagte der
Deal-Verhandlungsführer und lang-
jährige Hochschulrektoren-Präsident
Horst Hippler bei der Vorstellung
des Abkommens.
Nachdem nun Wiley und Springer
Nature dabei seien, hätten sich aber
„die Rahmenbedingungen geändert“.
Das heißt: Auch der Druck auf Else-
vier, günstige Konditionen anzubie-
ten, steigt. Die Pioniere Wiley und
Springer Nature hoffen indes, ihren
Marktanteil zulasten des Konkurren-
ten ausbauen zu können.
Die zentrale Abwicklung der Ab-
rechnung zwischen Verlagen und
den 700 Einrichtungen managt eine
Tochter der Max-Planck-Gesellschaft
(MPG). „Ich denke, dass die Verlage
unterm Strich weniger einnehmen
werden – aber sie hatten zuletzt auch
Riesengewinne“, sagte MPG-Direktor
Gerard Meijer, der die Abkommen
mitverhandelte. Am teuersten sei El-
sevier gewesen – viele Hochschulen
hatten daher Zeitschriftenabonne-
ments gekündigt. Nach einer MPG-
Studie habe der weltweite Markt für
wissenschaftliche Artikel schon 2015
ein Volumen von 7,6 Milliarden Euro
und rund zwei Millionen Artikeln ge-
habt. Fünf Prozent davon entfielen
auf Deutschland. Pro Stück seien das
also nach dem alten Subskriptions-
System rund 3 800 Euro pro Artikel.

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162^11

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