Das Exit-Risiko
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WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162^45
Griff zur
Notbremse
Die SPD-Mitglieder entscheiden über ihre neuen Vorsitzenden – und
damit indirekt über die Zukunft der Bundesregierung. Denn die
meisten Kandidaten wollen vor allem eines: raus aus der GroKo.
Für Vizekanzler Olaf Scholz geht es ums politische Überleben.
D
ietmar Woidke (SPD) hat das Ja-
ckett abgelegt, die Ärmel seines
Shirts hochgekrempelt und dreht
sich um, was bei seiner Statur
von 1,96 Metern immer einen ge-
wissen Eindruck hinterlässt.
Brandenburgs Ministerpräsident redet jetzt zu den
Besuchern, die ganz hinten in der Ecke im Sprem-
berger Biergarten „Zur Post“ sitzen. „Die Branden-
burger müssen am 1. September die Wahl so tref-
fen, dass dieses Land weiter stabil regiert werden
kann“, ruft Woidke ihnen zu.
Es ist Mittwoch, noch elf Tage bis zur Landtags-
wahl in Brandenburg. Seit der Wende hat die SPD
hier ununterbrochen den Ministerpräsidenten ge-
stellt. Jetzt droht im SPD-Kernland des Ostens der
Machtverlust. Aber es geht dieses Mal um viel
mehr als um die Staatskanzlei in Potsdam. Es geht
darum, die AfD als stärkste Kraft im Land zu ver-
hindern. Und es geht um die Große Koalition in
Berlin. „Wir brauchen eine Große Koalition in Ber-
lin, die gut arbeitet“, ruft Woidke. „Die Große Ko-
alition hat doch schon viele Probleme gelöst, das
müssen wir den Menschen offen sagen.“
Woidke kämpft, aber es wird eng. Derzeit liegt
die AfD in Umfragen mit etwas mehr als 20 Prozent
vorn, dahinter rangieren SPD, Grüne und Linke mit
16 bis 18 Prozent etwa gleich auf. Damit steht die
SPD in Brandenburg im bundesweiten Vergleich
noch ziemlich gut da. Wenn am gleichen Tag in
Sachsen gewählt wird, könnte die Partei dort laut
Umfragen ein einstelliges Ergebnis einfahren, ge-
nau wie bei den Wahlen am 27. Oktober in Thürin-
gen (siehe Grafik Seite 50).
Einen Tag zuvor, am 26. Oktober, will die SPD
das Ergebnis ihres Mitgliederentscheids zur neuen
Parteivorsitzenden bekanntgeben. Eigentlich sollte
die Wahl der SPD neuen Schwung verleihen. Die
geplante neue Doppelspitze, die 23 Regionalkonfe-
renzen, auf denen sich die Kandidaten präsentie-
ren sollen, und den danach angesetzten Mitglieder-
entscheid feiert die SPD als „Festival der Demokra-
tie“. Doch die Zusammensetzung des
Bewerberfeldes und die sich abzeichnenden Wahl-
schlappen im Osten drohen aus der „Mission Auf-
bruch“ eine „Mission Exit“ zu machen: Die Wahr-
scheinlichkeit wird immer größer, dass die SPD auf
ihrem Parteitag im Dezember die Notbremse zieht
und aus der Bundesregierung austritt.
Vom Wechsel in die Opposition versprechen sich
weite Teile der Partei bessere Aussichten bei der
nächsten Bundestagswahl. Von den 24 Bewerbern
für den Parteivorsitz plädiert bislang nur das Duo
Klara Geywitz und Olaf Scholz uneingeschränkt für
die Fortführung der Koalition. Alle anderen sind of-
fen dagegen oder halten sich bedeckt – selbst Kan-
didaten, die Mitglied der Bundesregierung sind wie
Europa-Staatsminister Michael Roth.
Bei dem linken Flügel der SPD wird der Austritt
aus der Koalition schon sehr konkret durchge-
spielt. Die seit vielen Jahren schwelende Sinnkrise
der SPD hätte dann den maximal möglichen polti-
schen Kollateralschaden ausgelöst. 2020 über-
nimmt die Bundesrepublik die EU-Ratspräsident-
schaft, gleichzeitig kämpft das Land gegen den
wirtschaftlichen Abschwung. Der „Spexit“, der so-
zialdemokratische Abschied aus der Bundesregie-
rung, würde Deutschland ausgerechnet zu einem
besonders heiklen Zeitpunkt in eine Regierungs-
krise stürzen und womöglich auf Monate hinaus
politisch lähmen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass es dazu kommt?
Mit welchen Machtoptionen könnte die Union wei-
terregieren? Und wie realistisch sind die Träume
der Sozialdemokraten, in der Opposition zu neuer
Stärke zu finden?
Bloß keine Neuwahlen!
Was die Große Koalition bislang noch zusammen-
hält: Keiner der beteiligten Partner hat ein Interes-
se an Neuwahlen. Die würde ein Auszug der SPD
aus der Bundesregierung zwar nicht zwingend aus-
lösen. Die Union könnte auch erneut versuchen,
ein Jamaika-Bündnis mit FDP und Grünen zu
schmieden. Oder Angela Merkel macht mit einer
Minderheitsregierung weiter und sucht sich ihre
Mehrheiten im Parlament von Fall zu Fall. Ein Sze-
nario, dem unter anderem Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble (CDU) viel abgewinnen kann.
Doch wenn das schiefgeht, droht eben doch ein
vorzeitiges Votum des Wählers. Und das fiele nach
derzeitigem Stand verheerend aus. Die SPD ran-
giert in der aktuellen Sonntagsfrage für den Bund
bei 13,5 Prozent, das sind noch einmal sieben Pro-
zentpunkte weniger als das ohnehin bereits misera-
ble Wahlergebnis der letzten Bundestagswahl. Die
Union steht in der gleichen Umfrage bei gerade mal
25 bis 29 Prozent. Hinzu kommen die Patzer von
Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Im Fal-
le von Neuwahlen droht der Partei direkt ein inter-
ner Machtkampf um die Kanzlerkandidatur.
Die Spitzen von Union und SPD tun deshalb der-
zeit alles, um die Koalition zu retten. Die Stimmung
im Koalitionsausschuss vergangenen Sonntag bei
Schnitzel und Kartoffelsalat war auffallend harmo-
nisch. Beide Seiten winkten ein Mieten-Paket durch
und bekannten sich zur Koalition. Dass der nächste
Koalitionsausschuss nur einen Tag nach den Wah-
len in Ostdeutschland stattfinden soll, wird als Zei-
chen gewertet, auch im Falle der absehbaren Wahl-
klatschen weiter gut zusammenarbeiten zu wollen.
Nichts darf die Ruhe stören. Als Wirtschaftsminis-
ter Peter Altmaier (CDU) im Koalitionsausschuss ei-
nen kleinen Aufstand gegen das Soli-Abbau-Gesetz
von Olaf Scholz probte und auch Gutverdiener ent-
lasten wollte, sprangen ihm weder Angela Merkel
noch CSU-Chef Markus Söder zur Seite. Alles hat sich
dem Koalitionsfrieden unterzuordnen. Die Zwangs-
ehe soll unter allen Umständen fortgeführt werden.
In der Union wird hinter vorgehaltener Hand ge-
schimpft, Merkel und Kramp-Karrenbauer machten
mittlerweile jeden Quatsch der SPD mit, am Ende
womöglich auch eine Grundrente ohne Bedürftig-
keitsprüfung, nur um die Regierung irgendwie am
Leben zu halten. Kanzleramtschef Helge Braun und
Arbeitsminister Hubertus Heil bereiten derzeit ei-
nen Kompromiss zur Grundrente vor, eine Arbeits-
gruppe soll dann die Details klären.
Königsweg fehlt
Mit welcher Möglichkeit hat die
SPD bessere Erfolgsaussichten bei
der nächsten Bundestagswahl?
29 %
Bis zur
nächsten
Bundestags-
wahl in der
GroKo bleiben
16 %
Weiß nicht
23 %
Zur Mitte der
Legislaturperiode
im Herbst 2019
die GroKo
verlassen
31 %
Weder, noch
Zu 100 % Fehlende = Rundungsdifferenzen;
716 Befragte
HANDELSBLATT • Quelle: Yougov
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