D
ie saarländische Stahlindustrie
steht unter existenziellem Druck.
Dafür gibt es strukturelle Gründe,
die durch konjunkturelle Unsicher-
heiten weiter verschärft werden.
Bei Saarstahl wird ab September Kurzarbeit gefah-
ren – die Lage ist also ernst. Wir unternehmen
viel, um uns an das veränderte Umfeld anzupas-
sen. Innerhalb der saarländischen Stahlindustrie
werden wir erneut Schritte unternehmen, um die
Effizienz zu steigern und die Kosten zu senken.
Das wird ein anstrengender, teilweise auch
schmerzhafter Prozess, der die saarländische
Stahlindustrie grundlegend verändern wird. Aber
am Ende werden wir betriebswirtschaftlich gut
aufgestellt sein.
Dabei haben wir in den vergangenen Jahren ei-
niges erreicht. Insbesondere haben wir innovative
Produkte entwickelt, die auf der ganzen Welt ge-
fragt sind. Wir machen die Energiewende erst
möglich. Beispiel Offshore-Wind: In diesem Jahr
wird die Herstellung von Blechen für Gründungs-
strukturen von Offshore-Windrädern ein Viertel
unserer Produktion bei Dillinger ausmachen. Da-
für haben wir rund 600 Millionen Euro investiert.
Doch zum Überleben wird all das nicht reichen.
Denn die Stahlindustrie – in ganz Deutschland –
trägt gegenüber außereuropäischen Wettbewer-
bern Mehrbelastungen in den Bereichen Energie-,
Umwelt- und Arbeitskosten. Hinzu kommen stei-
gende Kosten, um die Klimaziele zu erreichen. Al-
lein das CO 2 -Zertifikatesystem wird in naher Zu-
kunft zu jährlichen Mehrkosten von über 100 Mil-
lionen Euro in unseren Unternehmen führen –
weit weg von jeder wirtschaftlichen Realität. Dabei
wird hier bereits der sauberste Stahl der Welt pro-
duziert. Allein am Stahlstandort Dillingen haben
wir seit 2008 mehr als 500 Millionen Euro in den
Umwelt- und Klimaschutz investiert.
Die Konkurrenz auf dem Weltmarkt kann ohne
diese Kosten und damit billiger produzieren. Im-
mer mehr Stahl mit einem deutlich höheren
CO 2 -Footprint drängt auf den Weltmarkt und auch
auf den europäischen Markt. Der saubere heimi-
sche Stahl kann dagegen nicht bestehen.
Eine absurde Situation. Die sauberste Stahlin-
dustrie der Welt muss sich fragen: Haben wir noch
eine Zukunft am Standort Deutschland? Und kön-
nen wir es unternehmerisch noch vertreten, in
den Standort Deutschland zu investieren? Oder
müssen wir über kurz oder lang CO 2 -intensive In-
dustrien dahin verlagern, wo Klimaschutz einen
geringeren Stellenwert hat? Für den Klimaschutz
wäre damit nichts gewonnen, dem Klima ist es
egal, wo es zerstört wird.
Umso größer wäre der Schaden für den Indus-
triestandort Deutschland. Am Stahl hängen in
Deutschland direkt und indirekt rund 3,5 Millio-
nen gut bezahlte, sozialversicherungspflichtige
Jobs – im Saarland allein rund 20 000. Eine natio-
nale Industriepolitik braucht eine starke Stahlwirt-
schaft. Es ist kein Zufall, dass ein Drittel aller bran-
chenübergreifenden Patente mit Stahlbezug aus
Deutschland kommt.
Wir dürfen unsere Augen vor der Realität nicht
verschließen. Wasserstoff etwa wird als Klima-
Wundermittel diskutiert, ist allerdings in der groß-
industriellen Anwendung erst in der Pilotphase,
verursacht hohe Umstellungskosten und ist mit ei-
nem deutlich höheren Energiebedarf verbunden.
Wenn Deutschland Technologieführer bleiben
soll und wir nicht das Problem irgendwo in die
Welt verlagern wollen, müssen wir jetzt handeln
und dafür sorgen, dass es auch in 30 Jahren eine
Stahlindustrie in Deutschland gibt. Mit der Bereit-
stellung von bezahlbarem CO 2 -freiem Strom und
den entsprechenden Netzen kann Politik helfen.
Und mit einer Förderlandschaft, die – um CO 2 -op-
timierte Innovationen wie die Wasserstofftechno-
logie möglich zu machen – neben Erstinvestitio-
nen wie Umstellungskosten auch laufende
Mehrkosten abdeckt, um international wettbe-
werbsfähig zu sein. Mit dem klaren Bekenntnis
zur Fortsetzung der Safeguard-Politik, um zumin-
dest auf dem europäischen Markt sauberen Stahl
nicht schlechterzustellen als Importstahl mit deut-
lich höherem CO 2 -Footprint. Und indem sie einen
Rahmen schafft, der hiesigen Unternehmen den
Austausch über vielversprechende Technologie -
pfade ermöglicht, ohne dafür kartellrechtliche Ri-
siken eingehen zu müssen. In anderen Branchen
sind solche Foren längst Alltag.
Die saarländische Stahlindustrie steht – seit
nunmehr über 400 Jahren – zum Standort
Deutschland. Wir wollen nicht ins Ausland verla-
gern. Aber die Politik darf uns auch nicht in eine
Situation versetzen, die uns dazu zwingt, diese
Haltung zur Diskussion zu stellen!
Nationale Industriepolitik und Klimapolitik
müssen verheiratet werden. Nur eine funktionie-
rende Industrie wird auch weiterhin Wohlstand
sichern und Akzeptanz für Klimapolitik schaffen.
Klimaschutz
braucht Industrie
Zu hohe Umweltauflagen könnten
energieintensive Branchen zwingen, ins
Ausland zu gehen, warnt Tim Hartmann.
Eine absurde
Situation. Die
sauberste
Stahlindustrie
der Welt muss
sich fragen:
Haben wir
noch eine
Zukunft am
Standort
Deutsch-
land? Der Autor ist Vorsitzender der Vorstände
von Dillinger und Saarstahl.
Die Gegenmeinung von Thomas Jorberg,
Vorstandschef der GLS-Bank, lesen Sie
in der Montagsausgabe.
Dillinger [M]
Gastkommentar
(^64) WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162
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