Frankfurter Allgemeine Zeitung - 27.08.2019

(WallPaper) #1

SEITE 10·DIENSTAG, 27. AUGUST 2019·NR. 198 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Es fängt an wie eine kleine Geschichte
und plustert sich auch nie zum großen
Drama auf. Noah und Martin klauen in
sommerlicher Partylaune den Speer der
Athene vom Münchner Königsplatz, und
weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Tro-
phäe, fahren sie spontan nach Hause,
sechshundert Kilometer in das Kaff im
Rheinland, von wo sie vor zwei Jahren
auszogen. Nichts ist in der Heimat besser
als in München, höchstens der Anis-
geruch der Fenchelfelder und das specki-
ge Ledersofa im Wohnzimmer der ersten
Liebe. Die Einfamilien- und Architekten-
häuser am Ende der Spielstraße, die ver-
kehrsberuhigten Wohlfühlzonen mit
ihren Glasfassaden und Thujahecken,
Carports und Edeka-Käsetheken sind
hässlich wie überall, und für die Dageblie-
benen gibt es höchstens Praktika bei der
Sparkasse und freitags die Grillparty bei
den Nachbarn.
Noah aber gefällt diese kleine heile
Welt. Er braucht dringend eine „Auszeit“,
Entschleunigung bei Mama, zwinkerzwin-
ker. Seine Karriere als Teeniestar einer
Fernsehserie ist ins Stocken geraten; da
lässt man sich zu Hause gern bemuttern
und von den alten Freunden als heimge-
kehrter Odysseus feiern.
Bei Martin ist alles komplizierter. Er
kommt aus einer Mittelstandsfamilie, für
deren Spießigkeit er sich schämt, und ist
so durchschnittlich, dass es ihm selbst
wehtut. Noah ist seit Kindertagen sein
bester Freund, auch weil der ihn seine so-
ziale Privilegiertheit und intellektuelle
Überlegenheit nie spüren ließen, aber
jetzt steht der Speer zwischen ihnen. Als
Noah das blöde Ding in der Kiesgrube
entsorgt und um sein bisschen Karriere
zittert, weil die Sache auffliegen könnte,
ist der sonst so stille und demütige Mar-
tin außer sich: Wollten sie nicht immer
anders als ihre Eltern sein, mutiger, frei-
er, wahrhaftiger? Und jetzt denkt dieser
Egoist nur an seinen lächerlichen Ruf als
C-Promi.
Den Hass auf die selbstzufriedenen
„Bonzen“ hat Martin von seiner großen
Liebe Maria alias Mugo (wie „Mutter Got-
tes“). Sie wohnt im Plattenbau und jobbt
in der Tankstelle und konnte Noah noch
nie ausstehen. Martin war schon immer
verknallt in das ebenso kluge wie
unversöhnlich wütende Energiebündel,
aber seit ihm Noah fremd geworden ist,
himmelt er Mugo wie eine Heilige an.
Wenn er ihren alten Roller sieht, hüpft
sein Herz wie ein Flummi, ihre Sprüche
sind für ihn Orakel, und wenn er mit ihr
wie früher auf dem Dach des Regional-
bahnhofs sitzt, wird sogar das Hässliche
schön. Mugo ist seine Erlöserin, die Mut-
ter Gottes, die ihm Schutz und Schirm
und einen heiligen Zorn auf die Lauen
und Krämer gewährt. Mädchen sind klü-
ger, stärker, treuer und sowieso liebens-
werter als die dummen Jungs mit ihren
Dummejungenstreichen, und Martin ist
in diesem Sinne auch eines.
So weit wäre „Schöner als überall“ nur
eine klassische Spießerfarce, das Co-
ming-of-Age eines altklug schwadronie-
renden Holden Caulfield. Seit „Tschick“
werden auch ältere Herren und A-Promis
aus dem Fernsehmilieu auf der literari-
schen Suche nach ihrer verlorenen
Jugendzeit sentimental, so zuletzt Axel
Milberg in „Düsternbrook“ und Matthias
Brandt in „Blackbird“. Aber so einfach
macht es sich Kristin Höller nicht. „Alles
hier sieht aus wie eine Kulisse, wie die At-
trappe einer Provinz, hergerichtet für ei-

nen Kinofilm über wütende Jugendliche“,
aber es gibt weder eine Explosion noch
ein versöhnliches Happy End. „Es wird al-
les immer komplizierter, je länger man
darüber nachdenkt“: Niemand ist ganz
gut oder völlig schlecht, jeder ein Prisma,
ein verpixeltes Bild, ein Puzzle aus hun-
dert Teilen.
Mugo ist keine Heilige, nur ein „bocki-
ger Teenager“, hängengeblieben in der
Provinz, gescheitert mit ihren Ambitio-
nen und vorbestraft. Noah ist kein nar-
zisstisches Arschloch, seine Mutter nicht
die verzweifelte, frustrierte Vorstadt-
tussi, für die Martin sie hielt, und auch
dessen eigene Eltern sind keine peinli-
chen Gartenzwerge. Ja, sie legen Wert
auf Anstand und Eigenheim, sichern ihre
Tischdecken mit Klippern und schützen
den Partysalat mit Gummis überm Cello-
phan, aber sie lieben Martin auf ihre
scheue, ungelenke Weise. Wenn seine
Mutter ihm wortlos eine selbstgezogene
Tomate reicht, ist das „das Netteste über-
haupt, wie ein Griff an meinen Arm,
bloß in Form von Gemüse“.
Man muss Höller für solche Sätze
einfach mögen. Die Dreiundzwanzig-
jährige hat als Lokaljournalistin gelernt,
aus wenig eine runde Geschichte zu ma-
chen. „Schöner als überall“ ist eigentlich
nur eine kleine Erzählung über Weg-
gehen, Heimkehren und den Abschied
von der Kindheit, und das kann manch-
mal schon ziemlich sentimental werden.
Aber in diesem Romandebüt steckt so

viel Zartheit, Wahrheit und poetische
Originalität, dass es viel mehr ist als nur
ein charmantes Jugendbuch zum Knud-
deln. Man merkt der rhythmisch pulsie-
renden Prosa an, dass die Autorin aus
der Poetry-Slam-Szene kommt. Höller
setzt nicht auf sichere Pointen und stilisti-
sche Perfektion, sondern baut lieber
leicht verrutschte, unscharfe Metaphern
ein, damit Martins Monolog nicht zu
hemmungslos romantisch wird. Sie ver-
zichtet auf die üblichen Ingredienzien
des Pubertätsromans, auf popkulturelle
Distinktionen und Playlists zum Eingroo-
ven, und arbeitet viel mit „Und“-Ketten
und nachgestellten Partikeln wie „eigent-
lich“, „unbedingt“, „wahrscheinlich“
oder „später“ (spätestens seit Judith Her-
manns „Sommerhaus, später“ die Erken-
nungsmelodie gepflegter Melancholie).
Das alles schafft einen schönen, sommer-
lich leichten Rhythmus, und es stört
nicht einmal, wenn die Ölpfützen im
Neonlicht „super filmig“ schimmern,
manchmal.
„Schöner als überall“ ist erstaunlich ab-
geklärt, selbst die feministischen Duft-
marken bleiben diskret und „weich von
innen“. Damals, im Sommer am Ende
der Spielstraße, schien alles möglich.
Jetzt sind alle Auswege mit Käsetheken,
Carports und Alltagskram verbaut, aber
das ist kein Grund zum Verzweifeln. Mar-
tin kehrt allein nach München zurück. Er
hat jetzt keine Götter und Heiligen mehr,
aber ein paar Freunde fürs Leben, und er
weiß jetzt, was er will. Man muss keine
Speere in den Baggersee werfen, um Krei-
se zu ziehen. MARTIN HALTER

In der Kontroverse über den Ursprung des
Ersten Weltkriegs, die 2014 geführt wur-
de, stand die Befürchtung im Hinter-
grund, eine Dekonstruktion der besonde-
ren Schuld der Mittelmächte könnte eine
Generalprobe für den nächsten runden
Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Welt-
kriegs sein, also auch für ihn mehrere
Schuldige zu benennen. Eine Antwort dar-
auf, ob diese Sorge berechtigt war, steht
noch aus. Evident ist aber schon jetzt der
Versuch, für den achtzigsten Jahrestag des
Beginns des Zweiten Weltkriegs an Buch-
formate anzuknüpfen, die vor fünf Jahren
erfolgreich waren, etwa an dichte Be-
schreibungen des letzten Friedenssom-
mers oder an Titel, die weitreichende Neu-
deutungen suggerieren wie „Der Krieg,
den keiner wollte“ mit seinem Verweis auf
eine „andere Geschichte“.
Wer hier ein Pendant zu den „Schlaf-
wandlern“ erhofft, wird gründlich ent-
täuscht werden: Der Originaltitel von Fre-
drick Taylors Buch, „1939: A People’s Histo-
ry“, verweist auf die Tradition einer Ge-
schichte „von unten“. Es geht um den All-
tag der Bevölkerung in Großbritannien
und in Deutschland und ihre Reaktionen
auf die zwischen dem Münchener Abkom-
men im September 1938 und dem Kriegs-
ausbruch im September 1939 medial kom-
munizierte Politik. Beides ist in einer Dikta-
tur schwerer zu erheben als in einer libera-
len Demokratie; Taylor gelingt es dennoch,
für Großbritannien und Deutschland analo-
ge Quellen zu finden.


Neben Zeitungen sind das die von
„mass observation“ erhobenen Stim-
mungsbilder der britischen Öffentlichkeit,
Berichte der Exilorganisation der deut-
schen Sozialdemokratie sowie der natio-
nalsozialistischen Geheimpolizei, edierte
und unveröffentlichte Tagebücher und Er-
innerungen sowie die einschlägige politik-,
sozial- und konsumhistorische Forschung.
Taylor verweist einleitend auf Analo-
gien zwischen den späten dreißiger Jah-
ren und der Gegenwart: die Unübersicht-
lichkeit politischer Verhältnisse, die nur
teilweise überwundene Wirtschaftskrise
und damit verbundene abrupte politische
Richtungswechsel wie den Brexit. Aus-
gangspunkt seiner historischen Erzäh-
lung ist die Kriegsfurcht im Herbst 1938
und die Erleichterung der Bevölkerung
auf beiden Seiten darüber, dass der Krieg
doch noch – auf Kosten der Tschechoslo-
wakei – abgewendet werden konnte. Er
verfolgt dann die Resonanz auf Ereignis-
se wie die Besetzung Prags, die November-
pogrome, die IRA-Anschläge in Großbri-
tannien, den wachsenden deutschen
Druck auf Polen und das Publikwerden
des Hitler-Stalin Pakts.
In systematischeren Exkursen geht es
um die Auswirkungen der Kriegsvorberei-
tungen auf den Alltag, etwa das Einbud-
deln von „Anderson shelters“ gegen Luft-
angriffe in Vorgärten oder die Einführung
einer militärischen Grundausbildung für
junge Männer in Großbritannien, um Über-

schneidungen und Differenzen des Kino-
programms, das in beiden Ländern nicht
zuletzt durch amerikanische Filme be-
stimmt blieb, um die Nutzung des Fernse-
hens, um Motorisierung und Urlaubsrei-
sen, besonders um den Abstand zwischen
der relativ wohlhabenden Konsumgesell-
schaft Großbritanniens und den weitge-
hend leeren Wohlstandsversprechungen in
Deutschland mit seinen nur scheinbar ega-
litären „Kraft durch Freude“-Reisen. Weite-
re wichtige Themen sind die immer weiter
gehende Ausgrenzung von Juden aus der
deutschen Gesellschaft und der Beginn
des Nachdenkens über Atombomben in
Deutschland und den Vereinigten Staaten.
Das gut zu lesende, an Anekdoten rei-
che Buch verbindet allgemeinhistorische,
alltagshistorische und sozialhistorische
Perspektiven. Es vertritt keineswegs die
These, „keiner“ habe den Krieg gewollt:
Hitler und sein engster Zirkel hätten ihn
allenfalls gerne etwas länger hinausgezö-
gert. Für Deutschland liegt der Fokus al-
lerdings stark auf Personen, die sich aktiv
gegen die NS-Diktatur einsetzten oder zu-
mindest punktuell Kritik übten. Dagegen
treten diejenigen, die bereitwillig „dem
Führer entgegenarbeiteten“, einen Krieg
für richtig oder unvermeidbar hielten, zu-
rück – wozu beiträgt, dass als Endpunkt
der Geschichte der September 1939 ge-
wählt wird, als die großen Siege Hitlers
noch ausstanden. Für Großbritannien be-
tont das Buch Widerstände gegen den

Krieg, etwa in der rechten Presse, die ei-
ner weiteren Entspannung das Wort rede-
te und durchaus mit antisemitischen Kom-
mentaren operierte, oder bei dem Massen-
publikum, das Sir Oswald Mosley als briti-
scher Faschistenführer im Sommer 1939
mobilisieren konnte – gewiss mit einigem
Recht, vielleicht aber auch etwas zu sehr.
In Hauke Friederichs „Funkenflug“ ist
der gewählte Zeitraum noch deutlich en-
ger, reicht vom 1. August bis zum 1. Sep-
tember 1939. Was machten Hitler, Gö-
ring, Goebbels, Himmler und Heydrich,
aber auch andere gut bekannte Persönlich-
keiten wie Stalin und seine Tochter, die Fa-
milie Thomas Manns, Unity Valkyrie Mit-
ford (die Hitler vergötternde Schwägerin
Oswald Mosleys), die Geschwister Scholl
und ihr Freundeskreis, der schwedische
Laiendiplomat Birger Dahlerus, Carl Ja-
cob Burckhardt als Völkerbundskommis-
sar in Danzig, John F. Kennedy als Stu-
dent auf Europareise, Graf Ciano als Mus-
solinis Außenminister und so weiter in je-
nen Tagen? Trotz der beeindruckenden Bi-

bliographie und Danksagungen ans Bun-
desarchiv sind echte Überraschungen bei
diesem Personaltableau nicht zu erwar-
ten. In einer fast artifiziell simplen Spra-
che und mit zahlreichen Wiederholungen,
die es erlauben, an jedem Tag in die Ge-
schichte einzusteigen, werden Handlun-
gen der ausgewählten Personen im letzten
Friedensmonat dargestellt. Meist ge-
schieht das zuverlässig, manchmal stutzt
man: Von Hitlers Berghof zu Hitlers Kehl-
steinhaus, beide bei Berchtesgaden, sollen
6512 Kilometer Straße gebaut worden
sein? Und Stalin hätte im orthodoxen
Priesterseminar in Tiflis unter „Praktiken
der Jesuiten“ gelitten?
Jenseits solcher Petitessen gibt ein wei-
terer Punkt zu denken. Anders als bei Tay-
lor, der explizit nur die deutsche und die
britische Gesellschaft in den Blick
nimmt, ist bei Friederichs nicht klar, war-
um etwa die französische Perspektive
praktisch nicht präsent ist. Steckt dahin-
ter die These, nur die Verhandlungen zwi-
schen Berlin und London seien relevant,

da potentiell ergebnisoffen gewesen, oder
ein impliziter Vorgriff auf 1940, als Frank-
reich, aber nicht Großbritannien, weitge-
hend aus dem Krieg ausschied?
Der enge Zeitraum eines Monats hat
eindeutig Vorteile, bringt aber auch ein
Problem mit sich: Er suggeriert eine Un-
übersichtlichkeit der weltpolitischen
Lage, die in den ausgehenden dreißiger
Jahren – anders als vor 1914 – dann doch
nicht gegeben war. Die Debatten um 1914
haben gezeigt, dass die ideologischen und
lebenspraktischen Unterschiede zwischen
den europäischen Reichen vor dem Ersten
Weltkrieg so groß nicht waren. Das war
zwischen den Diktaturen und den Demo-
kratien der späten Zwischenkriegszeit völ-
lig anders. Gewiss: Die Allianz zwischen
Deutschland und der Sowjetunion gegen
Polen markierte einen überraschenden
Wendepunkt, und sie ließ kurzfristig eine
analoge Allianz zwischen Mussolinis Ita-
lien und Großbritannien möglich erschei-
nen, wie ein ähnlicher Fokus auf das Jahr
1940 zeigen würde. Es ist aber kein Zufall,
dass sich beide Bündnisperspektiven ent-
weder gar nicht realisieren ließen oder
nur kurz Bestand hatten. Insofern ist die
historische Aussagekraft einer kurzen Vor-
geschichte des Zweiten Weltkriegs eben
doch begrenzt – es gab keine echten Alter-
nativen zu dem militärischen Konflikt, für
den die Auseinandersetzungen um Dan-
zig, den „Korridor“ und die Integrität Po-
lens nur der Anlass, nicht die Ursache wa-
ren. ANDREAS FAHRMEIR

W

ann haben Sie zuletzt an ei-
nem Ort in Europa länger
als fünfzehn Minuten keine
menschengemachten Geräu-
sche gehört? Genau. Diese Erfahrung
ist eine der treibenden Kräfte, die Leute
wie Gordon Hempton dazu bringen, Auf-
nahmen von Naturklängen zu erstellen,
um verschwindende Habitate zu doku-
mentieren. Diese Feldaufnahmen die-
nen aber auch dazu, die Hörerin staunen
zu machen, zum Zuhören anzuregen;
und so werden die Klänge gleichzeitig ei-
ner künstlerischen Bearbeitung zugäng-
lich gemacht.
An dieser Stelle setzt David Rothen-
bergs Buch über Nachtigallen in Berlin
an: Er reist nach Berlin, hört die Gesän-
ge der Nachtigallen, spielt mit – oder ne-
ben – ihnen Musik und denkt über die Er-
fahrungen nach, die er dabei macht. Auf
seiner Klarinette improvisiert er zur Mu-
sik der Vögel, sucht nach Tönen, welche
die Klänge der Vögel zurückwerfen, spie-
gelt sie und spielt mit ihnen. Er hat in Ge-
genwart von Walen, Affen und Drosseln
gespielt, mit, vor oder neben ihnen musi-
ziert. Doch mit den Gesängen der Nachti-
gallen geht Rothenberg einen Schritt wei-
ter, ist doch der nächtliche Gesang von
luscinia megarhynchos stärker roman-
tisch verklärt als der aller anderen Vögel.
Sein Buch ist eine Art Collage; ein
Werk voller Selbstreflexion, wissenschaft-
licher Erkenntnisse und Esoterik, aber
auch ein Zeugnis überbordender Freude
an der Musik, an der Improvisation und
am Spielen. Rothenberg ist von Haus aus
kein Biologe, sondern Musiker und Philo-
soph, was auch seinen entspannten Um-
gang mit den vielen präsentierten For-
schungsergebnissen erklärt. Sein Buch mä-
andert in viele Richtungen – vor allem er-
fahren die Leser einiges über die verschie-
denen Milieus, in denen der Autor sich be-
wegt: Da ist die international besetzte Ber-
liner Szene von experimentellen elektroni-
schen Musikerinnen und Musikern, die
dann mit Rothenberg und den Nachtigal-
len nachts im Treptower Park Musik ma-
chen. Auch die Naturklangsucher – die
„field recordists“ wie Gordon Hempton
und Bernie Krause – werden vorgestellt,
und Vogelforscherinnen und -forscher der
FU Berlin haben ihren Auftritt.
Zwischen all diesen Menschen und Ein-
flüssen steht Rothenberg, der die Gesän-
ge Berliner Nachtigallen aufnimmt, ver-
zerrt, sampelt, sie den Vögeln wieder vor-
spielt. „Inter-species music“ nennt er das.
Dabei changiert er zwischen dem Musi-
ker, der sich betont demütig in die Natur
einreiht und sich glücklich schätzt, mit
dem alten Lied der Nachtigallen Kontakt
aufnehmen zu dürfen, und dem Musiker,
der sich der Klänge des Vogels bedient,
nämlich die Naturklänge als Vorlage für ei-
gene Musik verwendet. Wozu Rothenberg
sogar Jahr für Jahr zur selben Zeit im Jahr
nach Berlin fliegt, um einen bestimmten

Vogel l zu hören und mehr oder weniger
gemeinsam mit ihm zu musizieren.
Wer einmal im Frühsommer mit dem
Fahrrad durch einen Berliner Park fuhr
und, vom Singen einer Nachtigall über-
rascht, verdutzt stehenblieb, wird Ro-
thenbergs Faszination und seinen unbän-
digen Spaß an der Idee, in die Klangwelt
der Nachtigallen einzusteigen, nachvoll-
ziehen können. Natürlich ist er nicht der
Erste, der mit diesen Vögeln musiziert:
Schon seit 1924 übertrug die BBC jedes
Jahr im Frühling ein Konzert der Cellis-
tin Beatrice Harrison mit Nachtigallen

aus ihrem Garten. Auf der Platte aus
dem Jahr 1927 steht „Nightingales and
Beatrice Harrison“, auch wenn die Cellis-
tin Kompositionen von Dvořák und
Brahms spielte, sodass die Vogelstim-
men bloß schmückendes, exotisches Bei-
werk waren. Rothenberg geht den umge-
kehrten Weg und lässt auf seinem Album
mit Korhan Erel und Berliner Nachtigal-
len (Berlin Bülbül, 2015) den Vögeln
auch musikalisch den Vortritt.
„Was Musik ist, was Musik sein kann“
war der Untertitel des letzten Buches des
2017 verstorbenen Musikwissenschaft-

lers Christian Kaden über „Das Unerhör-
te und das Unhörbare“. Und auch bei
„Nightingales in Berlin“ stellt sich die
Frage: Dürfen wir uns ein Urteil darüber
anmaßen, was als Musik gelten kann, ob
die Klänge der Vögel Musik sind, wo sie
doch schon lange vor unserer eigenen Er-
findung der Musik ertönten? Rothen-
bergs assoziationsreiches Buch feiert
nicht nur die Freiheit der Improvisation,
sondern macht auch deutlich, dass über-
all Musik ist und sein kann. Man muss sie
nur hören wollen, oder noch besser: ein-
fach mitmachen. JUTTA TOELLE

Frederick Taylor: „Der Krieg,
den keiner wollte“. Briten
und Deutsche: Eine andere
Geschichte des Jahres 1939.
Aus dem Englischen von
Helmut Dierlamm und
Heide Lutosch.
Siedler Verlag, München


  1. 432 S., geb., 30,– €.


Hauke Friederichs:
„Funkenflug“. August 1939:
Der Sommer, bevor der
Krieg begann.

Aufbau Verlag, Berlin 2019.
376 S., Abb., geb., 24,– €.

Kristin Höller: „Schöner als
überall“. Roman.

Suhrkamp Nova, Berlin 2019.
221 S., geb., 18,– €.

David Rothenberg:
„Nightingales in Berlin“.
Searching for the Perfect
Sound.

University of Chicago Press,
Chicago 2019.
184 S., Abb., geb., 22,99 €.

Ein Unterstand für den Luftschutz passt in jeden Vorgarten


Deutscherund britischer Alltag im Sommer 1939: Frederick Taylor und Hauke Friederichs versammeln Zeugnisse der Gesellschaften vor dem Kriegsausbruch


Speerwerfen in der


rheinischen Provinz


Viel mehr als ein charmantes Jugendbuch zum
Knuddeln: Kristin Höllers Debüt „Schöner als überall“

Er hat noch einen Vogel in Berlin


Hast du in Berlin das je gehört? Der Gesang der Nachtigall wird stärker verklärt als der aller anderen Vögel. Foto Science Photo Library


Nachts im Treptower


Park wird zwischen-


artlich musiziert:


David Rothenberg


taucht in die Klangwelt


der Nachtigallen ein.

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