SEITE 12·DIENSTAG, 27. AUGUST 2019·NR. 198 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
S
ie sind sich nie begegnet, und es
gibt auf keiner Seite ein Zeugnis,
das auch nur die leiseste Wahrneh-
mung des anderen vermuten las-
sen könnte. Die Rede ist von den beiden
dunkelsten, melancholischsten Schriftstel-
lern der neueren deutschsprachigen Lite-
ratur: Franz Kafka und Georg Trakl. Im Ta-
gebuch und den Aufzeichnungen des Älte-
ren, der so gut wie keine Lyrik geschrie-
ben hat, finden sich immer wieder Phanta-
sien der Selbstzerstörung – so etwa ein No-
tat, das er später selbst zitiert: „Mein Le-
ben habe ich damit verbracht mich gegen
die Lust zu wehren es zu beenden.“ Der an-
dere, vier Jahre jünger, der fast ausschließ-
lich Gedichte verfasst hat, schrieb in
einem Brief vom November 1913: „Es ist
ein so namenloses Unglück, wenn einem
die Welt entzweibricht“, und ein Jahr spä-
ter hat er in der Verzweiflung eines Kriegs-
einsatzes – er war als Sanitäter überfor-
dert – seinem Leben ein Ende gesetzt.
Die Vergleichbarkeit des Pragers Kafka
mit dem Salzburger Trakl, etwa wenn es
um ihre durchaus problematischen Ver-
hältnisse in der Familie oder zu Frauen
geht, bleibt im Rahmen der Spekulation.
Selbst dass sie beim selben Verlag ange-
heuert haben, bei dem renommierten
Kurt Wolff in Leipzig, stiftet keine wirk-
liche Begegnung: Kafka brachte das Frag-
ment „Der Heizer“, Trakl seine schmale
Auswahl der „Gedichte“ in der prominen-
ten Reihe „Der jüngste Tag“ heraus, nur
wenige Monate voneinander getrennt.
Aber eine imaginäre Begegnung der bei-
den muss wohl im Bereich der Abbildun-
gen erfolgt sein. Aus Briefen Kafkas an
Max Brod wissen wir, dass er gelegentlich
Hefte der Halbmonatsschrift „Der Bren-
ner“ gelesen hat – in der zweiten Julinum-
mer des Jahres 1913 fand er dort einen kri-
tischen Text von Ulrike Brendel (das ist
Leopold Liegler) über Max Brod: „Eine
technische Kritik mit psychologischen
Ausblicken“. Zu den vielfach im „Bren-
ner“ vertretenen Autoren des Kreises um
Ludwig von Ficker, den Herausgeber der
Zeitschrift, gehörte Trakl. Dasselbe Heft,
in dem Brendels Text erschien, brachte die
Erstpublikation seines Gedichts „Kind-
heit“, von dem wir natürlich nicht wissen,
ob Kafka es dort zur Kenntnis nahm. Aber
auf der gegenüberliegenden Seite muss er
geradezu an einer Zeichnung hängenge-
blieben sein: Sie zeigt einen sitzenden
Mann, der vor sich herunter auf den Tisch
blickt und dabei in offensichtlicher Ver-
zweiflung eine Hand über den Kopf
schlägt, während die andere auf dem
Tisch aufliegt.
Es ist eine Zeichnung des „Brenner“-
Karikaturisten Max von Esterle, als „Wid-
mung für Georg Trakl“ charakterisiert.
Der mag von Trakls früher im „Brenner“
abgedrucktem Gedicht „In ein altes
Stammbuch“ inspiriert worden sein, wie
Otto Basil vermutet hat: „Schaudernd un-
ter herbstlichen Sternen / Neigt sich jähr-
lich tiefer das Haupt.“ Trakl richtete Fi-
cker jedenfalls aus: „Die Zeichnung, die
Herr Esterle mir gewidmet, hat mir eine
sehr tiefe Freude bereitet.“ Esterle schrieb
zurück: „Sollte sie Ihnen Freude machen,
so wäre mein Wunsch erfüllt, Ihre Einsam-
keit für einige Monate mit Zuversicht und
Trost zu bevölkern.“
Dass auch Kafka sich von Esterles
Zeichnung angesprochen gefühlt haben
dürfte, geht aus anderen Dokumenten her-
vor. Zum einen hat ihn die Technik von
Zeichnungen und besonders deren Nähe
zum Holzschnitt durchaus interessiert –
einen seiner weniger bekannten publizier-
ten Texte widmete er etliche Jahre später
einer Ausstellung von „Tatra-Bildern von
Anton Holub“: Dieser Zeichner war, so be-
richtet es Max Brod in seiner Ausgabe der
Kafka-Briefe, als Berufsoffizier der tsche-
chisch-slowakischen Armee eine „Lokal-
größe der Zipser Gegend“, und seine of-
fenbar „dilettantischen Landschaftsbil-
der“ dürften kaum den Texten Kafkas ent-
sprechen; er sympathisierte mehr mit Ho-
lubs Aquarellen „aus abendlichen Stim-
mungen mit ihrem düsteren Ernst“. „Vor
allem aber“, schreibt Kafka weiter, „gefal-
len die Federzeichnungen. Mit ihrem zar-
ten Strich, ihrem perspektivischen Reiz, ih-
rer wohlbedachten bald holzschnittmäßi-
gen, bald mehr der Radierung angenäher-
ten Komposition sind es erstaunlich ach-
tungswerte Leistungen.“
Die Tatsache, dass er diesen Text über-
haupt verfasst hatte, beschäftigte Kafka
noch einmal, wenn er in einem späteren
Brief daran erinnert, dass er „einmal
Kunstkritiker der Karpathenpost war“, ob-
wohl er „überhaupt, wie ja viele Men-
schen wahrscheinlich, keinen primären
Blick für die bildende Kunst“ habe. Des-
halb sind auch die Gelegenheiten sehr rar,
Kafka wie hier in Verbindung mit zeit-
genössischer Kunst zu bringen.
Die von Esterle festgehaltene Geste
einer sich statt nach außen gegen sich
selbst richtenden Abneigung hat Kafka
überdies, und das ist erstaunlich, selbst in
einer Zeichnung beschäftigt: Max Brod
veröffentlichte im Anhang zu seiner 1937
erschienenen Biographie des Freundes
eine Reihe von Zeichnungen Kafkas, de-
ren Originale nicht zugänglich waren, sich
aber nach der Vermutung von Friederike
Fellner im Nachlass Brods befinden könn-
ten, der unlängst in Jerusalem der Öffent-
lichkeit vorgestellt wurde (F.A.Z. vom
- August). Darunter sind auch sechs Figu-
ren in unterschiedlichen Haltungen, deren
eine im Seitenprofil gezeigt wird: Sie sitzt
nicht an einem Tisch, aber mit auf die
Brust abgewinkeltem Kopf auf dem Bo-
den, die rechte Hand liegt auf dem spitz
angewinkelten Bein, die linke flach auf
dem ausgestreckten anderen Bein.
Aber vor allem entspricht das Motiv aus
Esterles „Widmung für Trakl“ einer Auf-
zeichnung, die Kafka in seiner Zürauer
Zeit festgehalten und später für die geplan-
te Aphorismensammlung abgeschrieben
hat: „Den ekel- und hasserfüllten Kopf auf
die Brust senken“, so lautet die von Kafka
durchgezählte Nummer 42 des Konvolu-
tes. MATHIAS MAYER
Es geht im ästhetischen Diskurs das Ge-
fühl dafür verloren, dass es problemati-
sche Aspekte hat, Fragen der Gerechtig-
keit mit denen der Kunst zu vermischen
- nicht, dass man es vollständig ver-
meiden kann oder soll. Aber es gerät
vollkommen in den Hintergrund, dass es
schwierig ist, außerästhetische Tat-
sachen aus dem Kontext des Kunstwerks
mit der Erörterung seiner Bedeutung ar-
gumentativ zu vermengen. Ist es derzeit
wirklich wichtiger, wer ein Kunstwerk
geschaffen hat, als zu fragen, was es dar-
stellt, was es bedeutet und wie es gear-
beitet ist?
Jan Lauwers, Autor, Regisseur, Schau-
spieler und Gründer der Needcompany,
hat zur Frage des Politischen in der
Kunst gesagt, es sei besser, die Proble-
me, die Kunst aufwerfe, zu bearbeiten
und die Lösungen dann ins Leben zu
übertragen, als umgekehrt. Das ist rich-
tig, und es heißt, ein Kunstwerk zu-
nächst dahingehend zu prüfen, welche
kunstimmanenten Fragen es aufgreift
und wie es diese behandelt.
Am Fall der Choreographien Merce
Cunninghams (1919 bis 2009) kann man
Folgendes beobachten: Sind Kunstwerke
fünfzig Jahre oder älter und sind deren
Fragen nach wie vor virulent, handelt es
sich um Klassiker. Das konnte beim Festi-
val Tanz im August jetzt das Ballet de
Lorraine, seit 2011 von dem Schweden
Petter Jacobsson geleitet, aufs glücklichs-
te demonstrieren: mit Cunninghams
Stück „RainForest“ von 1968 in Andy
Warhols Ausstattung und mit seinem
„Sounddance“ von 1975, in Kostümen
und Dekor des britischen Malers Mark
Lancaster, großartig einstudiert vom Ex-
Cunningham-Tänzer Thomas Caley. Für
beide Werke schuf David Tudor die ener-
gische, atmosphärische, live-elektroni-
sche Musik, die im Auditorium aus allen
Richtungen auf das Publikum herab-
strömt und Bühnengeschehen und Par-
kett wie umhüllt. Während „RainForest“
Vogelgekecker durchklingen lässt, dazu
Warhols silberne heliumgefüllte Kissen-
ballons umherfliegen und im Weg sind
wie Lianen, Blattwerk und tückische
Wurzeln, schlüpfen in „Sounddance“
zehn Tänzer nacheinander und in unter-
schiedlichem zeitlichen Abstand auf die
Szene – durch ein und denselben Schlitz
in der Rückwand, die mit üppig drapier-
ten, sandfarbenen Stoffen bedeckt ist
und ihre Öffnung verbirgt. Die Tänzer
tragen hellgelbe Oberteile und graue
Beintrikots.
In einem seiner gefilmten Vorträge, ge-
nannt „Mondays with Merce“, sagte ein
lachender Cunningham ein halbes Jahr
vor seinem Tod, Lancasters Stoffdrape-
rien gäben der Szenerie etwas von einem
„Geisterschloss“ (a haunted castle). Der
Begriff „Sounddance“ ist dem Anfang
von „Finnegans Wake“ entliehen: „In the
beginning was the sounddance“, heißt es
bei James Joyce. Auch einige der Rätsel
um seinen Regenwald hatte der Choreo-
graph einmal lachend enthüllt. Da war
es Colin Turnbulls Buch „The Forest
People“, das ihn inspiriert hatte, insbe-
sondere die Beschreibung, wie der hoch-
gewachsene Forscher versucht hatte, den
Pygmäen, zu denen er Kontakt aufge-
nommen hatte, durch den Wald zu fol-
gen. Dabei waren sie ihm, leichtfüßig
und um ein Vielfaches geschickter, im-
mer wieder entsprungen oder kriechend
im Unterholz verschwunden. Turnbull
hingegen waren, je mehr er sich beeilte,
desto heftiger die Zweige und Äste entge-
gengeschlagen. Im Stück sieht man eine
Tänzerin auf die silbernen Luftkissen zu-
kriechen und schlängelnd am Boden zwi-
schen ihnen verschwinden. Auch gibt es
Bewegungen, die an das Entlanghan-
geln, Hochklettern oder Entheddern er-
innern. In „RainForest“ entfaltet das Be-
wegungsgeschehen die gelassene Schön-
heit sich selbst überlassener, geheimnis-
voller Natur.
In „Sounddance“ werden Tänzerinnen
ständig gehoben, weggetragen, umge-
dreht, mit dem Kopf nach unten gehal-
ten. Virtuos spielen die Hebungen alle
Möglichkeiten durch, dem Publikum den
menschlichen Körper in allen Positionen
und Ansichten zu zeigen. Tänzer dürfen
fliegen, was an sich schon den Betrach-
ter neidlos glücklich stimmen kann.
Doch was nun sind die Fragen des Tan-
zes, die diese Kunstwerke zeitlos beant-
worten? Und wie könnte man diese Ant-
worten auf das Leben übertragen, wie
Jan Lauwers es vorschlägt?
Zunächst handelt es sich in Cunning-
hams Werken um multiperspektivische
Arbeiten. Anders als in klassischen Bal-
letten, in denen die Solisten in der Mitte
tanzen und das Ensemble drum herum
oder dahinter, fragte sich Cunningham,
wie es zu schaffen sei, dass alle Punkte
auf der Bühne gleich wichtig und gleich
interessant wären. Seine Tänzer wech-
seln ab und sie treten nicht in die Büh-
nenmitte, um etwa ihre Soli auszufüh-
ren. Wie kann ein tänzerisches Gesche-
hen synchron organisiert sein – mehrere
Aktionen finden zur gleichen Zeit statt –
und doch nicht unisono? Der Choreo-
graph inszeniert häufig mehrere parallel
laufende Aktionen, und wie in der Wirk-
lichkeit, im Regenwald, im Gespenster-
schloss, in der Literatur, wo mehrere
Stimmen durcheinanderreden oder es
einen Bewusstseinsstrom gibt, dem wir
folgen, oder wie auf einer Straßenkreu-
zung, wenn wir vom zehnten Stock eines
Gebäudes auf sie herunterblicken, so er-
eignet sich Tanz bei Cunningham. Seine
Kunst atmet Freiheit und Gleichheit und
ein Absehen von persönlichen Befind-
lichkeiten und Stimmungen. Zufallspro-
zesse führte er nicht ein, um sich wichtig
zu machen oder cool zu sein, sondern um
eine größere künstlerische Abweichung
in den Bewegungen und der Dynamik
und den Raumstrukturen zu erreichen,
als es ihm selbst, einem einzelnen Künst-
lersubjekt voller vorgefertigter Ideen, in
den Sinn gekommen wäre.
Übertragen aus dieser Kunst auf das
Leben, könnte man beschließen, Freude
an der Komplexität, an den Überra-
schungsmomenten der Wirklichkeit zu
empfinden, sich vom Tempo inspirieren
zu lassen, sich frei, energiegeladen und
beschenkt zu fühlen. Multiperspektivi-
sches Gestalten könnte man demokra-
tisch nennen. Die anderen mit den „Tän-
zeraugen“ im Hinterkopf hinter sich zu
„sehen“, sie im Rücken zu spüren, so
dass man nie kollidiert, könnte zu einem
wachen, hochsensiblen Umgang mitein-
ander führen – zum Beispiel auf dem
Gehweg oder im Fahrstuhl oder in der Po-
litik der Gesellschaft. Wieso im Pro-
grammheft des Festivals von Cunning-
hams „ideologischer Einfachheit“ und
„körperlicher Komplexität“ die Rede ist,
kann vielleicht die Direktorin Virve Suti-
nen erklären. WIEBKE HÜSTER
Eine Verwandtschaft
über Bilder
INNSBRUCK, im August
Marc Antonio Cesti habe einst hier ge-
wohnt, verkündet gegenüber vom Inns-
brucker Dom am Eckhaus der Pfarrgasse
eine Gedenktafel. Sie gilt dem seinerzeit
berühmtesten italienischen Opernkompo-
nisten neben Francesco Cavalli. Cesti wur-
de 1623 in Arezzo geboren und auf den
Namen Pietro getauft. Um eine gründli-
che musikalische Ausbildung zu erhalten,
ging er im Alter von vierzehn Jahren zu
den Franziskanern und nahm den Ordens-
namen Antonio an. Fälschlicherweise
wurde ihm irgendwann der immer noch
durch musikhistorisches Schrifttum geis-
ternde Vorname Marc angedichtet.
Zunächst wirkte Cesti als Organist und
Sänger in Kirchen und Theatern verschie-
dener italienischer Städte. Als er 1652 an
den Innsbrucker Hof von Erzherzog Ferdi-
nand Karl berufen wurde, um ein geplan-
tes Komödienhaus zu leiten, bekam er je-
nes Gebäude in der Pfarrgasse geschenkt.
Mehr als zehn Jahre blieb er in der Tiroler
Residenzstadt. Zusammen mit dem eben-
falls aus Arezzo stammenden Hofpoeten
Giovanni Filippo Apolloni schuf er dort
1655 die Festoper „L’Argia“ zu Ehren der
zum Katholizismus konvertierten Königin
Christine von Schweden. Der Dirigent
René Jacobs und der Regisseur Jean-Louis
Martinoty haben dieses Juwel frühbaro-
cken Musiktheaters 1996 am Entstehungs-
ort glanzvoll wiederbelebt.
Nach „L’Orontea“, Cestis heute bekann-
testem Musikdrama, folgte zum Karneval
1657 die dreiaktige Tragikomödie „La
Dori“, die mit zahlreichen Neufassungen
damals zu einer der beliebtesten Opern
avancieren sollte. Das Libretto mit dem ur-
sprünglichen Titel „La schiava fortunata“
stammte wiederum von Apolloni. Da Ces-
ti trotz Ermahnungen weiter für die Bühne
komponierte, wurde er von seinem Or-
densgelübde entbunden. Für die kaiserli-
che Hochzeit in Wien schrieb er 1668 die
Prunkoper „Il pomo d’oro“. Ein Jahr spä-
ter starb er in Florenz.
Nun wurde im 350. Todesjahr Cestis
zum Abschluss der Innsbrucker Fest-
wochen Alter Musik das einstige Erfolgs-
stück „La Dori“ wieder aus der Versen-
kung geholt. Im Tiroler Landestheater er-
hielt die mit Pause dreistündige Produk-
tion enthusiastischen Beifall. Kein Wun-
der: Auch heute noch bereitet die musika-
lisch hinreißend entfaltete Travestie-
Oper mit all ihren absichtlichen Verrückt-
heiten unmittelbares Vergnügen. Schon
die Vorgeschichte wartet mit haarsträu-
benden Zufällen auf. Die nikäische Kö-
nigstochter Dori glaubt, sie wäre eine
ägyptische Prinzessin, weil sie als Kind
von Piraten geraubt und am Nil mit der
dort verschollenen gleichnamigen Infan-
tin verwechselt wurde. Der persische
Prinz Oronte verliebt sich bei einem Aus-
landsaufenthalt in sie, wird vom Vor-
mund zurückbeordert und soll zu Hause
die nikäische Prinzessin Arsinoe heira-
ten. Schiffbrüche, Überfälle von See- und
Straßenräubern, Versklavungen und Be-
freiungen jagen sich schon vor Beginn der
eigentlichen Opernhandlung.
Als Gegengewicht zu augenzwinkern-
dem Klamauk, witzigen Dialogen, derben
Beschimpfungen und hämischen Anspie-
lungen mit buffoneskem Personal gibt es
zwei „hohe“ Paare, die sich im Labyrinth
ihrer Empfindungen verirren. Rätselhafte
Briefe zeitigen nicht nur tränennasse Ge-
fühlsduseleien, sondern auch hintergrün-
dige Betrachtungen zu Adoleszenz und
persönlicher Reife. Über all diese emotio-
nalen und szenischen Wechselbäder hat
Cesti seine betörend süße, ohrenschmei-
chelnde, oft rhythmisch belebte Musik aus-
gegossen. In schnellen Wechseln fügen
sich kurze Arien, Rezitative und Tänze
dem Fortgang der Geschehens an. Dieser
Komponist war nicht nur ein begnadeter
Melodiker, sondern verstand sich auch auf
harmonisch berückende Klangteppiche,
groovig versetzte Akzente, rasant zuge-
spitzte Ironie und resolute Wortgefechte.
Stefano Viziolis feine Innsbrucker In-
szenierung lässt der Musik stets den Vor-
tritt, ohne auf humorvolle Unterstützung
des Theaters zu verzichten. Barocke Sän-
gergesten und Tanzbewegungen sind inte-
griert in freie Personenführung und dar-
stellerische Abläufe, die auch ein köst-
liches Betrunkenenballett nicht ausschlie-
ßen. Entsprechend kombiniert Emanuele
Sinisis Bühne historisch bemalte Prospek-
te mit modernen Requisiten. Anna Maria
Heinreichs Kostüme verpassen frühbaro-
cker Mode einen orientalischen Touch.
Ottavio Dantone präsentiert „Dori“
am Uraufführungort in der Innsbrucker
Erstfassung. Vom Cembalo aus dirigiert
er seine Accademia Bizantina mit wei-
chen, fließenden Bewegungen, setzt
gleichwohl exakte Impulse für die perfekt
auf ihn eingespielten Musiker. Wie auf
Zehenspitzen kommt Doris wundervolle
Traummusik daher, rührend in zarten
Klangfarben, sanft verebbend. Für die
Wiederaufführung stehen exzellente jun-
ge Stimmen bereit. Unter ihnen sind vier
frühere Preisträger des Innsbrucker Cesti-
Wettbewerbs. Wenn kurz vor Schluss die
bis dahin in Männerkleidern singende
Francesca Ascioti als weibliche Dori aus
den Kulissen tritt und sich vokal alle An-
spannung vom Leib singt, ist das ein auch
musikalisch unglaublichercoup de théâ-
tre. WERNER M. GRIMMEL
Aufs schönste wiedererstanden
Das Ballet de Lorraine zeigt beim Berliner Tanz im August Merce Cunninghams „RainForest“ und „Sounddance“
Spätpubertäres Gefühlslabyrinth aus dem siebzehnten Jahrhundert
Ottavio Dantone und Stefano Vizioli bringen bei den Innsbrucker Festwochen Alter Musik Pietro Antonio Cestis Barockoper „La Dori“ an den Ort ihrer Entstehung zurück
Von Andy Warhol 1968 mit fluffigen Silberkissen ausgestattet, vom Ballet de Lorraine 2019 phantastisch getanzt: Szene aus „RainForest“ Foto Tanz im August
Nicht dessen Lyrik,
sondern die Umsetzung
eines Verses daraus
in ein Porträt: Was
Franz Kafka an Georg
Trakl interessierte.
Oben Kafkas Zeichnung, unten Max von
Esterles „Widmung an Georg Trakl“ aus
dem „Brenner“ Fotos Archiv
Junge Stimmen: Emóke Baráth und Pietro Di Bianco in „La Dori“ Foto Rupert Larl