Handelsblatt - 27.08.2019

(lily) #1

S


echs Jahrzehnte lang hat der Nieder-
gang der Steinkohle das Ruhrgebiet ge-
quält. 140 Bergwerke, mehr als eine
halbe Million Beschäftigte im Jahr 1956.
Diverse misslungene Versuche, Konzer-

ne zu Leitinvestitionen zu locken, neue Medien-


unternehmen aufzubauen. Im Süden gelang die


Transformation einigermaßen mit einem Netz-


werk aus IT-, Logistik- und Kulturzentren, For-


schungseinrichtungen, neuen Hochschulen und


attraktiver Stadtentwicklung. Im Norden kämpfen


die Menschen bis heute mit den Folgen des Struk-


turwandels. Haben wir unsere Lektion gelernt an-


gesichts des Braunkohle-Exitus spätestens 2038?


Betroffene Regionen in NRW, Brandenburg, Sach-


sen und Sachsen-Anhalt können fit werden für ei-


ne Zukunft ohne Braunkohle. Nötig ist allerdings


mehr als „Zuschütten mit Milliarden“. Innovation


tut not.


Schauen wir gen USA, wo Innovationsgeist seit


Pioniertagen lebt. Etwa nach dem Sputnik-


Schock, als die Sowjetunion die USA beim Wett-


rennen in den Weltraum plötzlich überholt hatte.


Mit aufgekrempelten Ärmeln hat US-Präsident


John F. Kennedy 1962 gerufen: „We choose to go


to the moon.“ Bis zu Neil Armstrongs erstem Fuß-


abdruck auf dem Mond vergingen knapp sieben


Jahre. Innovation first, Bedenken second! Fach-


leute nennen so was „Mission Driven“.


Mission Nr. 1: Brandenburg war schon mal dicht


dran. 1996 gründete Carl-Heinrich von Gablenz


die Cargolifter AG, um Mega-Zeppeline zu bauen


für bis zu 160 Tonnen Fracht. 1998 entstand in


Brandenburg die Werfthalle, 107 Meter hoch. Das


größte freitragende Gebäude der Welt, heute die


äußere Hülle des Freizeitparks Tropical Islands.


Insolvenz 2002, gescheitert nicht an mangelnder


Nachfrage oder technischer Machbarkeit. Son-


dern am fehlenden langen Atem der Wagniskapi-
talgeber und an einer mutlosen Landesregie-
rung. Was würde JFK heute tun als brandenburgi-
scher Ministerpräsident? „We choose to reinvent
the Luftschiff “, würde er rufen – und damit nicht
nur seine Landeskinder begeistern, sondern auch
Tausende Ingenieure und Entwickler. Warum
hebt niemand dieses visionäre Projekt erneut aus
der Taufe? Cargolifter ist keine Utopie.
Mission Nr. 2: Brandenburg produziert heute
mit Wind- und Solarenergie einen beträchtlichen
Stromüberschuss, der weder genutzt noch ge-
speichert werden kann. Was würde JFK sagen?
„We choose to build Brandenburg as Germany’s
Stromspeicher!“ Warum formuliert niemand die-
se Mission und fordert Entrepreneure, Wasser-
stoff- und Batterietechnologen aus der Lausitz
und aller Welt heraus? Ich denke sogar an eine
Energie-Uni in Brandenburg als einem Herzstück
Deutschlands in der Energieforschung: überle-
benswichtig gerade für eine Region mit geringer
industrieller Basis. Ja, die Kritiker, Traditionalis-
ten und Bedenkenträger jaulen schon. Aber, liebe
Freunde: Transformation und Zukunft – so was
gelingt nur, wenn wir Herzen gewinnen! Ich bin
sicher: JFK im Himmel und die Atlantikseglerin
Greta Thunberg würden mir zustimmen.
Mission Nr. 3: Wie binden wir Brandenburgs
Randregionen infrastrukturell an? Die Bahn
stemmt es nicht. JFK würde sagen: „We choose to
hyperloop from Frankfurt/Oder via Berlin to Mag-
deburg!“ 250 Kilometer.
Mit der Vision, irgendwann Paris von Berlin aus
in einer knappen Stunde zu erreichen. Energie-
neutraler Transport von Personen und Gütern.
1200 Stundenkilometer schnell und in einer Va-
kuumröhre. Kapselfolge und Fahrplandichte:
quasi unbegrenzt.

Elon Musk macht es in den USA vor. In Europa
will die Schweiz mit dem Zukunftsprojekt „Cargo
sous terrain“ ab 2030 ihre großen Zentren für den
Güterverkehr unterirdisch verbinden. Wegweisen-
de Entwicklungen werden meist ideell und finan-
ziell initiiert von mutigen, hartnäckigen Persön-
lichkeiten voller Zukunftsaspiration. Von Politikern
wie JFK und Unternehmern wie Elon Musk oder
United-Internet-Gründer Ralph Dommermuth. Mu-
tige Schritte brauchen übrigens nicht nur die
Braunkohle-Regionen. So wie der Kohle kann es in
wenigen Jahren unserem Auto gehen.
Doch wer Visionen realisieren will, muss über
Legislaturperioden und kurzfristige, populistische
Wahlkampfversprechen hinausdenken können.
Wer jetzt vor den Landtagswahlen in Brandenburg
und Sachsen am 1. September vor allem für Ver-
mögensteuer, Wohnungsenteignung und Familien-
darlehen wirbt, macht dieses Land nicht zukunfts-
fest. Wir brauchen grundlegend neue Geschäfts-
modelle, damit unser Sozialstaat künftig noch
etwas verteilen kann. Nicht nur die beiden Innova-
tionskontinente Nordamerika und Asien nehmen
uns in die Zange. Beim Thema Innovation liegen
wir auch weit zurück hinter der Schweiz, Norwe-
gen, Belgien und Dänemark.
Ein letztes Mal: Was würde JFK tun im Jahre
2019? Nicht Grönland kaufen, sondern Future-Labs
aufbauen, in denen Menschen zusammenkommen
zum Moonshot-Thinking: Unternehmer, Gründer,
Tüftler, Rebellen, Regionalentwickler, Politiker,
Wissenschaftler, die gemeinsam ganz neue, mutige
Ansätze diskutieren. Und dann aus Visionen Wirk-
lichkeit machen. Wie JFK beim Moonshot.

Wir brauchen


den JFK-Moment


Der Autor ist Bundestags abgeordneter der
FDP und war Personalvorstand der Deutschen
Telekom und bei Continental.

imago/photothek [M]

Wer vor den


Landtags -


wahlen in


Brandenburg


und Sachsen


vor allem für


Vermögen -


steuer,


Wohnungs -


enteignung


und Familien -


darlehen wirbt,


macht dieses


Land nicht


zukunftsfest.


Uns fehlen wagemutige Konzepte für struktur -


schwache Regionen. Der Geist eines John F. Kennedy


könnte helfen, meint Thomas Sattelberger.








 











 
  
 

   
  
 
 

    
  
    

 


Gastkommentar
DIENSTAG, 27. AUGUST 2019, NR. 164

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