AD Architectural Digest - September 2019

(Ron) #1

albdunkel.NachderturbulentenFahrtdurchdieMedinavonMar-
rakesch,eingehülltinStaubundgleißendesLicht,hältderWagen
voreineroffenenTür.Kühlewehtunsentgegen.Undausdem
Clair-obscurdasLächelnvonMonsieurRachid:„Bittehierentlang,
MonsieurLutenserwartetSie.“DannschließtsichdieTür,unddie
Halle,dasBassin,dieintarsiertenSäulen,diebemalteKassetten-
deckeglimmennocheinmalgoldenauf,bevorsiezurückinsDäm-
merlichtsinken.DurchSpaltenanderDeckezirkuliertdieLuft,
derLehmbauhältdenRaumkühl.NurdasGlucksendesWassers
istzuhören,einDuftnachZedernholzmischtsichindieKühle.
WarmwiederAtemeinesgroßenTiers,dumpfundsüßwieHeu.
Schnitzereien,Perlmutt-Intarsien,Samt,geprägtesLeder,Messing,
glasierteKacheln,Marmor,mattesGold...Wo sind wir hier?In
einem dieser Fieberträume von Baude-
laire? Ineinem Gemälde von Gustave
Moreau?WirdSaloméausdenSäulengän-
gentretenundumdenKopfdesTäufers
tanzen?MonsieurRachidlächelt.Neulich
seidiemarokkanischeKönigingekommen,
gingdurchdieZimmerfluchtenundIn-
nengärten,saßdaundschaute.VieleStun-
denlang.„Ichhabesoetwasnochniege-
sehen“,sagtesie,alssieging.
VondenWändenleuchtendieOrna-
mente,undeswirkt,alswüchsensie,diese
miteinanderverwobenenBlumen,Kreise,
RautenundSterne,alsführtensietieferin
dieWändehinein– undinlängstvergan-
geneZeiten.DieArabeskenderAlhambrascheinenwiederauf,die
goldenenMuqarnas,KuppelnmitprächtigenStalaktitengewölben,
diegeschnitztenMaschrabiyyas,SternanStern,Mosaikteppiche,
Zellige-Fliesen,Bleiglasfenster,indenendieFarbengefasstsind
wieEdelsteine– Grün,Rot,Blau,Türkis,einGelbwiegeschmol-
zeneSonne.MonsieurLutenshabedasalleserdacht,erzähltsein
AssistentmiteinerkleinenVerbeugungindenRaumhinein:alles,
diegoldenenPlafonds,dieziseliertenLüsterausMessing,Jaspis
undAlabaster,denfarbigenStuckanDeckenundWänden,die
BödenundMöbel,jedeGravur.„Tout!“,ruftMonsieurRachidauch
indennächstenRäumen,dieervorunsaufblättert,alswäredas
HauseinBilderbuch.SilberschmuckundTeppiche,Stickereien,
Holzskulpturen,dieGemäldeundobjetsd’artausLutens'Samm-
lungsinddarin.LängsthabenwirdieOrientierungverloren,wie
ineinemLabyrinth.IrgendwogibteseinBoudoir,indemHoch-
zeitsgürtelderBerberdieWändeschmücken,knappunterderDe-
ckefliegenSchmetterlingehinterGlas.Zitronenfalter,Pfauenau-
gen.WiesolltemanhiernichtandieEuphoriedererstenNacht,
anhochfliegendeTräumeundanihrEndedenken?Siefabulieren,
dieseRäume,erzählenunsGeschichten.ÜberSergeLutens,aber
vor allem über uns selbst;sie lassen uns unsere inneren Bilder


sehen.EssindSchauräume.DieDeckedersalled’eau(werwollte
diesenSaal„Bad“nennen?)ausmitternachtsblauemMarmorsei
„enzouac“bemalt,erklärtMonsieurRachid,ineineraltenmarok-
kanischenTechnik,unddochwirktderRaumwieeinkubisti-
schesBild.AuchdieOrientalisten-SammlungvonSergeLutens
ergibtwiedereinBild:dem„Teppichmarkt“vonBernardBoutetde
MonvelisteinParaventausKelimsgegenübergestellt,ringsum
sindGemäldevonJacovleff,Jouve,MajorellezueinemKaleidoskop
ausFarbtönenverknüpft.BilderimBild,einGesamtkunstwerk.
Manmusssieberühren,dieseRäume,dasHolz,dieWebereien,den
MarmorandenWänden,denhellen,schimmerndenTadelaktim
Hammam,umzubegreifen,dassessiewirklichgibt.
„Gottistgroß.“InderMadrassa,woKoransurendieWändebe-
decken,fährtMonsieurRachidmitderFingerkuppedenSchrift-
zugausMarmornach,bevorwirineinenderInnengärtentreten.
ZweiRingeltaubenfliegenklatschendauf.Undplötzlichstehter
da.WiemitderFedergezeichnet,kerzengerade,dasgraueHaar
zurückgekämmt.EinAsketmitdurchdringendenhellenKinder-
augen.„Gott?DasistmeinNamefürdieStärkeinunsMenschen“,
sagter,deralsdergrößteParfumeurderZeitgilt,Fotograf,Filme-
macher, Ästhet,Make-upArtist,inden70erJahrenErfindereines
neuenFrauenbildsfürDior,seit 1980 Art
Director beim japanischenKosmetikgi-
gantenShiseido, 2000 lancierter seine
eigeneMarke.EinIdolfürGenerationen
junger Gestalter. 3000 Quadratmeter
misstseinPalast,Lutenslebtineinerklei-
nenZelle,„voneinerSchaleMilch,zwei
Francpro Tag,nichteinmal das, mehr
braucheich nicht“.MitAusnahmeder
großenBücherkisten,dieausParisgelie-
fertwerden.C.G.Jung,SigmundFreud,
Nietzsche,Balzac,Baudelaire,JeanGenet–
„Notre-Dame-des-Fleurs“könneer„wieder
undwiederlesen!“.Randexistenzen,Au-
ßenseiterinteressierenihn,erselbstbe-
zeichnetsichalsExtremist.DenMorgenhatermitSchreiben
verbracht.ErdenktüberWortenach,überihrenKlang.„Darinal-
leinliegtschoneineGeschichte.AlleNamenmeinerParfumssind
soentstanden.‚LafilledeBerlin‘etwa.Oder‚Tubéreusecriminel-
le‘.Tuberose,dasklingtnachUnglückundVerbrechen– tubéreuse,
voleuse,malheureuse.“SchonalsFriseurgehilfeinLilleverliebte
ersichindietraurigenMädchen,schminktesiezuFantasiegestal-
ten,magnolienblassmitkurzemHaarundviolettenLidern;dem
GesichtvonAnjelicaHustonentlockteerPoesieundGeheimnis.
KeinePüppchenmehr,eigenwillige,geistvolleFrauen!Undwieso
solltensieimmernachBlumenduften?Wielangweilig.Warum
nichtnachMoschus,nachHolzundWeihrauch?WieMänner.Was
solltedasüberhaupt– maskulin,feminin?Fürihngabesnureins:
Persönlichkeit.DereinzelneMenschimGegensatzzurMasse.
„Waseinerist,waseinerseinwird– mitsiebenJahrenistes
entschieden“,sagtSergeLutens.ErselbstistdasKindeinesEhe-
bruchs.„DieFruchtderSünde.“SeineMuttermussteihnwegge-
ben,wurde1942,imFrankreichderBesatzungszeit,wieeineVer-
brecherinabgeurteilt.„JederTagwareinGedankeansie.“Dasssie
ihnspäterwiederzurückholte,nötigtihmRespektab.„Siehatsich
selbst ermächtigt“, erklärter, „wie das Frauen immer getan haben,

H


SergeLutens

„ImKampf gegen


dieMasse bin
ichan derSeite

der Außenseiter,
der Künstler

und Monstren.“


136
Free download pdf