Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

E


igentlich“, sagt Julia,
„wollte ich einfach nur
eine schöne Wohnung mit
Balkon. Das war mein ur-
sprünglicher und vielleicht wich-
tigster Wunsch vor vier Jahren.
Doch das, was wir heute haben, ist
mehr, als ich je zu träumen gewagt
hätte. Wir haben’s geschafft, aus
demHausmehrzumachenalsnur
die Summe der Quadratmeter.“
Julia Hainz, mitten in der Karenz,
den fünfmonatigen Maximilian
im Arm, wohnt mit ihrem Mann
und ihren beiden Kids auf Top 31,
vierter Stock, 88 Quadratmeter.
Den Balkon, den hat sie. Und
ein ganzes Paket an Hausfreunden
und nachbarschaftlichem Mitei-
nander noch dazu.
Die 35-Jährige ist eine von ins-
gesamt 22 Gründerinnen, die sich
zwischen Winter 2014 und Früh-
jahr 2015 für die Baugruppe Gleis
21 im Wiener Sonnwendviertel
starkgemacht haben. Wochen-
und monatelang trafen sich die
22 künftigen Bewohnerinnen und
Bewohner, um sich über ihre Wer-
te, Wünsche, Wohnvorstellungen
auszutauschen. Am Ende jedes
Workshops, der von Mal zu Mal
größer und umfangreicher wurde,
ehe die Baugruppe schließlich auf
46 Erwachsene und 20 Kinder
anwuchs, wurde diskutiert, de-
battiert und mit soziokratischen
Widerstandspunkten abgestimmt.


Offen leben


„So ein Wohnprojekt in der
Gemeinschaft hat nicht nur mit
Architektur zu tun, sondern vor
allem auch mit der eigenen Per-
sönlichkeitsentwicklung“, sagt
Julia. „Heute weiß ich, dass der
Balkon ein nettes Feature ist. Aber
es gibt wichtigere Dinge im Le-
ben.“ Auch Kati Hellwagner und
Sebastian Schublach, Top 25,
dritter Stock, 104 Quadratmeter,
sie wohnen aus dem Karton, die
Küche ist noch immer nicht ge-
liefert, auf dem Tisch steht ein
Plastikkorb mit Äpfeln, Zwetsch-
ken, Bananen, sehen im Wohnen
mehr als bloß die Hardware: „Die
Wohnung ist wichtig, keine Frage,
aberirgendwannchecktman,dass
da mehr dahintersteckt, dass es
um gelebte Nachbarschaft, dass es
um eine ganz neue Form des all-
täglichen Zusammenlebens geht.“
Es ist heiß heute, die Sonne
knallt erbarmungslos vom Him-
mel. Die meisten Fenster zum
Laubengang sind gekippt, manche
komplett geöffnet, um Quer-
lüftung zu ermöglichen, sogar die
eine oder andere Wohnungstür,
Top 13, erster Stock, Patrick He-
rold, ein 34-jähriger Architekt,
steht mancherorts sperrangelweit


offen und lässt Einblicke ins
Wohnen zu. Auf der Bühne des
täglichenLebenswirdgekocht,ge-
spielt und telefoniert. „Man lebt
hier offen und miteinander“, sagt
Patrick, „und wenn man einmal
vondernachbarschaftlichenNähe
die Nase voll hat, dann macht man
halt die Türen und Fenster zu und
ist allein. Das System funktioniert
und wird von allen respektiert.“
Gleis 21 mit insgesamt 34 Woh-
nungen, ein paar Flex-Apartments

für Gäste und Flüchtlinge, einer
Gemeinschaftsküche auf dem
Dach,einerBibliothek,einemSau-
nahaus, einer Werkstatt, einem
Fitnessraum, einer großzügig ver-
glasten Waschküche, einem leider
noch schlummernden Restaurant,
einer privaten Musikschule und
sogar einem öffentlich nutzbaren
Veranstaltungssaal im Erdge-
schoß, der unter anderem vom
Stadtkino und vom Burgtheater
bespieltwird, ist eines der radi-

kalsten Wohnprojekte auf den neu
bebauten Gründen des ehemali-
gen Südbahnhofs, vielleicht sogar
in ganz Wien. Und es ist kein Ein-
zelfall. Das planende Büro hinter
diesem ungewöhnlichen Ding,
Einszueins Architektur, hat sich
den partizipativenWahnsinn
nicht zum ersten Mal angetan.
„Von Antun kann keine Rede
sein“, sagt Projektleiterin Anne-
gret Haider. „Partizipatives Pla-
nen macht die eigene Arbeit schö-

ner. Die Zusammenarbeit mit den
Menschen und die Zufriedenheit
derer, für die man plant, sind eine
der schönsten Befriedigungen, die
manalsArchitektinerlebenkann.
SoeinProzessistanstrengendund
langwierig, aber am Ende kriegt
jeder Einzelne mehr Energie zu-
rück, als er investiert hat.“ Zu den
bislang realisierten Baugruppen-
projektenzählendasWohnprojekt
Wien (2013), der Seestern Aspern
(2015) und das Wohnprojekt Ha-
sendorf (2018). Fünf weitere par-
tizipative Baugruppenhäuser in
Wien und Niederösterreich, die
„vom Städtebau bis zur Steck-
dose“ (O-Ton Einszueins) mit den
Bewohnerinnen kooperativ ge-
plant werden, sind bereits in Ent-
wicklung.

Wohnen als Lebenskultur
„Wir arbeiten mit Menschen, die
Wohnen nicht nur als Ware, son-
derninersterLinieals Lebens-
kulturverstehen“, sagt Architekt
MarkusZilker, „und das stehtin
einem großen Widerspruchdazu,
wie Wohnraum heutzutage meist
produziert wird.“ Gleis 21, ein
Hybridbau ausHolz und Beton, ist
mit Sicherheitnicht die günstigste
Bauweise, dieman aufdie grüne
Wiese stellen kann. Aberesist die
für diese Bewohnergruppe ethisch
passendste. So manches konstruk-
tive Detail würde eher den Weg in
die Fibel der Herzenals ins Bau-
handbuch für Ingenieure finden.
Entwickelt wurde das 4000
Quadratmeter große Haus mit
demBauträgerSchwarzatal,deres
kurz nach Fertigstellung an den
Verein Gleis 21 verkaufte, errich-
tet wurde es vom Kärntner Holz-
bauunternehmen Weissenseer.
Finanziert wurde das Projekt über
20ProzentEigenmittel,20Prozent
Wohnbauförderung und 60 Pro-
zent Kredit. Die Bewohner selbst
mieten sich über ein hochkomple-
xes, kooperativ designtes Entgelt-
system in die Immobilie ein.
Nachdem für den Verkauf des
Gesamtobjekts eine Vier-Fünftel-
Mehrheit des Vereins nötig wäre,
ist das Haus für die nächsten Ge-
nerationen de facto dem spekula-
tiven Immobilienmarkt entzogen.
Dieses Haus wird nicht allen ge-
fallen. Genauso wenig wird die
dahintersteckende Partizipations-
hacke jeden Geschmack treffen.
Ist auch nicht nötig. In einem
mehr und mehr von Mittelmaß
und Belanglosigkeit geprägten
Wohnungsmarkt aber stellt Gleis
21 die allerbesten Weichen in eine
alternative, selbstwirksame Zu-
kunft mit Zugkraft.
peinszueins.at
gleis21.wien

Gleis 21 ist wahrscheinlich eines der radikalsten Wohnprojekte Wiens. Hinter der Lärchenfassade ver-
birgt sich ein Holz-Beton-Hybridbau. Die Verbunddecken aus Massivholz und Stahlbeton mitsamt Balkon-
platte wurden im Werk komplett vorgefertigt und mussten vor Ort nur noch zusammengesetzt werden.

DasWienerArchitekturbüroEinszueins hatsichauf die Planung von


Partizipationsprojekten spezialisiert. Dasneueste Wohnhaus im


Baugruppenportfolio wurde vor wenigen Wochen an seine Bewohner


übergeben. Die Umzugskartons stehen nochherum. Ein Besuch.


Wojciech Czaja

Bahnsteig mitBalkon


Juli 2019

dem Bundesbad


AlteDonau


Von Daniela Emminger

LG


AUS
...

Liebe Mia (Eidlhuber), ich bin ein wenig
Postkarten-schreibfaul diesen Sommer.
Fühle mich müde. Und leer. Vielleicht
von den langen Monaten im Gorillakostüm.
Vielleicht auch vom Leben allgemein. Aber
das ist ok. Und so liege ich, tagtäglich, mit
Bücherbergen im Bundesbad an derAlten
Donau. Und lese. Und starre Löcher ins
Universum. Und schlecke Brickerl. Bis ich
wieder Ich bin. Und grün hinter den Ohren.
Das Leben ist voller Überraschungen. Und ein
Hund. Übrigens, der einzige Konnex zu dieser
Karte. Einen schönen Sommer wünscht, D. E.

Daniela Emmingerist Schriftstellerin. Zuletzt er-
schien 2018 ihr Roman „Kafka mit Flügeln“ (Czernin).

Patrick Herold, Kati Hellwagner
mit Rosa, Sebastian Schublach
und Julia Hainz mit Maximilian:
Gemeinsam mit 60 anderen haben
sich die sechsVereinsmitglieder
ihren Traum vom Wohnen erfüllt.
Fotos: Czaja
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