Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von felix stephan

D


er amerikanische Schriftstel-
ler Gary Shteyngart hat vor
Kurzem imNew Yorkereine
sehr lustige Erzählung veröf-
fentlicht, in der er von seiner
wunderlichen Leidenschaft für teure Uh-
ren berichtete. Shteyngart schrieb, er ver-
stehe selbst nicht ganz, wo dieser Drang,
sehr viel Wert auf sehr wenig Raum zu kon-
zentrieren, seinen Ursprung habe, aber im
vorletzten Absatz fiel ihm eine Anekdote
ein. Im Jahr 1978, als er mit seinen Eltern
am Leningrader Flughafen Pulkowo stand
und die Familie im Begriff war, in die USA
auszureisen und dort ein neues Leben als
Flüchtlinge zu beginnen, nahm ihm einer
der Grenzoffiziere seine flauschige Mütze
weg und tastete sie ab, „auf der Suche nach
Diamanten, die meine Eltern dort ver-
steckt haben könnten.“ Außerdem gebe es
da die Geschichte seines Großvaters, der
aus dem besetzten Frankreich nur deshalb
lebend entkommen war, weil er dem Bahn-
hofsvorsteher eine goldene Omega geben
konnte. „Ist es das, worum sich meine Ob-
session dreht?“

In Deutschland ist jetzt ein Roman er-
schienen, der auf ähnliche Weise zugleich
sehr lustig und wahnsinnig traurig ist und
in dem das Motiv auch wieder auftaucht.
Der Roman heißt „Otto“, wie seine Hauptfi-
gur, ein alter Siebenbürger Jude, der seine
Töchter in München großgezogen hat, und
bei dem jetzt allmählich der Tod anklopft.
Otto zählt zu seinem festen Inventar
vierzehn goldene Krugerrand-Münzen.
Seinen Töchtern schärft er regelmäßig ein,
bei diesen Münzen handele es sich um „die
eiserne Reserve, falls wir mal wieder depor-
tiert würden“. Es ist natürlich einerseits
eine besondere Form von Psychoterror, so
etwas seinen Kindern zu erzählen, anderer-
seits aber auch einfach erlerntes jüdisches
Grundmisstrauen, das im Zweifel lebens-
rettend ist, gerade in Europa, gerade in
Deutschland.
Die Nachricht ist jedenfalls angekom-
men. Als eine seiner Töchter, Dana von
Suffrin, kürzlich in eine neue, größere
Wohnung gezogen ist, stellte sie einen inne-
ren Widerstand fest, der sie davon abhielt,
echte Möbel aus Holz zu kaufen, die sich
nicht im Handumdrehen aus der Woh-
nung tragen ließen. Stattdessen richtete
sie die Wohnung mit Möbeln aus Pappe ein
und schrieb ein Buch über ihren Vater.
Dabei ist ein Roman entstanden, der, ganz
unabhängig von der Frage nach dem Gelin-
gen, erst einmal ein Ereignis ist. Die Spra-
che, die Satzmelodie, die Dialogführung
dieser Prosa klingen, als entstammten sie
direkt der jiddischen Literatur des 19. und
frühen 20. Jahrhunderts, dem Kosmos
von Scholem Alejchem, Bruno Schulz, Mar-
tin Buber, nur jünger, weiblicher und aus
dem Jahr 2019. Man bekommt bei der Lek-
türe dieses Buches eine Ahnung, wie heute
die jungen jüdischen Schriftsteller in den
Lemberger Innenstadtvierteln klingen
könnten, wenn die Geschichte anders ge-
laufen wäre und wenn man die Juden ein-
fach ihr Leben hätte leben lassen, statt ih-
nen die Dachgiebel anzuzünden und wenn
dies, wenn das. Dass diese Sprachmelodie
jedenfalls in der deutschen Literatur noch
einmal zu hören sein würde, damit war
wirklich nicht zu rechnen. Doch hier ist sie.
Man will jedenfalls wissen, wer diese Au-
torin ist, die so schreiben kann, als ginge
sie die Hauptsatz- und Introspektions-
konvention der deutschen Gegenwartslite-
ratur nichts an. Deshalb ein kurzes Treffen
auf der Terrasse des Münchner Nazi-Muse-
umsbaus „Haus der Kunst“. Dana von Suff-
rin sitzt auf münchnerisch zugewandte
Weise im Sessel, dreht die Zigaretten
selbst, beschwert sich über die Pappkom-
mode zu Hause (klemmt ständig, kompli-
ziert zu bedienen) und erzählt, wie normal

ihr das als Kind alles vorgekommen sei, die
permanente Bereitschaft zum Aufbruch,
die Alarmstellung, die Krugerrand-Mün-
zen, und wie es erst ihre christlichen Freun-
de gewesen seien, die sie gefragt hätten, ob
ihre Familie eigentlich einen Hau habe.
Dann stellt sie wie gedruckt die schöne
Akademikerfrage: „Würden Sie sagen, das
ist etwas psychologisch transgenerationell
Transportiertes?“ Dana von Suffrin ist
hauptberuflich Historikerin und das sollte
man unbedingt bedenken, wenn man
verstehen möchte, wie der Roman funktio-
niert. Ihre Doktorarbeit erscheint in die-
sem Herbst beim sehr feinen Wissen-
schaftsverlag Mohr Siebeck, fast gleich-
zeitig mit ihrem Debütroman beim großen
Publikumsverlag Kiepenheuer & Witsch.
Eine jetzt schon legendäre Geschichte:
Im Frühsommer hatte ihr Verlag einen
Saal im Münchner Hotel Olympic gemie-
tet, um Autorin und Roman den Journalis-
ten der Stadt vorzustellen. Bei der Gelegen-
heit wurde sie unter anderem auf ihre
Dissertation angesprochen, was ihr etwas
ungelegen kam. Unlesbar sei das, reine
Wissenschaftsprosa, zum Glück lese das
niemand. Als sie dann der Vollständigkeit
halber wenigstens noch den Titel nennen
sollte, stellte sie fest, dass sie ihn gerade
nicht parat hatte, irgendwas mit Botanik
und Palästina. Sehr viel lässiger geht es
nun wirklich nicht.
Deshalb hier kurz nachgereicht: Die Dis-
sertation heißt „Pflanzen für Palästina“
und geht der Geschichte des deutschen
Botanikers Otto Warburg auf den Grund,
der um 1900 nach Palästina gereist war,
um dort Eukalyptus und Wälder zu pflan-
zen und die Ankunft der jüdischen Nation
vorzubereiten. Eine vollkommen verrück-
te Geschichte sei das, sagt Dana von Suff-
rin, wie dieser Otto Warburg mit Zylinder
durch die Wüste stapft und den Garten
Eden plant, der botanische Zionismus.
Wahnsinnig lustig, aber schlecht zu erzäh-
len, weil die meisten Quellen, die noch
existierten, jüdische Quellen seien und die
arabische Seite der Geschichte weitgehend
verschwunden, womit die Hälfte der
Geschichte im Grunde einfach fehle. Die
Fellachen, die damals in der Region lebten,
hätten Verträge mitunter mit ihrem
Daumenabdruck unterschrieben, weil sie
weder lesen noch schreiben konnten.
Der Roman ist nun die Form, in der man
die Lücken, die sich in der Erinnerung auf-
tun, einfach selbst schließen darf. Die jiddi-
sche Tradition, an die „Otto“ anknüpft,
wird in kleinen sprachlichen Verschiebun-
gen sichtbar: Die Schwestern zum Beispiel
nennen ihren Vater Ottoka, „wenn wir uns
zärtlich oder sehr besorgt fühlen“, obwohl
es im Deutsch-Deutschen eigentlich hei-
ßen müsste: „besorgt sind“ oder „zärtliche
Gefühle haben“. Oder als die Erzählerin ein-
mal einen Streit mit ihrem Freund verliert,
formuliert sie: „Ich genierte mich, und ich
wurde gering“. Auch diese Formulierung
existiert im Deutschen streng genommen
nicht. Und wenn Otto ein Anliegen hat, das
ihm wichtig ist, formuliert er eine „schöne
Bitte“: „Eine Sache, um die er uns tatsäch-
lich sehr lange schön gebeten hat, war die
nach einem Buch, das über unsere Familie
geschrieben werden sollte.“

Mit der Aufgabe, sein Leben aufzu-
schreiben, betraut er die Ich-Erzählerin,
weil die sich doch immer für seine Ge-
schichten interessiert habe, aber das Pro-
jekt scheitert krachend, weil er sich an
nichts erinnern kann, und auch in dieser
Geschichte scheint die Erfahrung aus der
Doktorarbeit durch: „Ich verglich das, was
Otto sagte, mit dem, was in meinen Bü-
chern stand. Vieles von dem, was er sagte,
war einfach falsch. (...) Er erfand ganze
Gebirgsketten in den Karpaten.“
Isaac Bashevis Singer ist ein offensich-
tlicher Einfluss für diese Prosa, Dana von
Suffrin nennt aber auch die Sweatshop-Po-

eten, eine Gruppe osteuropäischer, jüdi-
scher Emigranten, die Ende des 19. Jahr-
hunderts in New York so verarmt anka-
men, dass sie 16 Stunden pro Tag in Sweat-
shops schufteten, und trotzdem abends
noch auf Jiddisch ihre Texte schrieben.
Dichter wie Morris Winchevsky, Morris
Rosenfeld, David Edelstadt, alles Proletari-

er, einige Kommunisten, die in New York
avantgardistische Gruppen wie „Di Yun-
ge“ („Die Jungen“) formten und sich der
„reinen Poesie“ verschrieben.
In die Bereiche, aus denen die deutsche
Literatur ihre Talente scoutet, hatte Dana
von Suffrin keinerlei Kontakte, weshalb
sie sich bei einem Seminar in Köln anmel-

dete, bei dem angehende Debütanten
einander ihre Manuskripte vorstellen. Die
sechs Seminarteilnehmer waren so etwas
wie ihre Probeöffentlichkeit und von der
habe sie die erfreuliche Rückmeldung be-
kommen, dass das, was sie da veranstalte,
entschieden zu weit gehe, dass über den
Holocaust so lustig nicht zu schreiben sei
und ihr Buch außerdem keinen Plot und
keine Entwicklung habe.
Das ist natürlich erst einmal wahr. Der
Aufbau des Roman orientiert sich weniger
an der Dramenlehre, als an der Erinnerung
selbst. Dinge versinken, werden woanders
wieder angespült, die Gedanken springen,
man stelle sich einfach Saul Bellows „Her-
zog“ vor. Und wahr ist auch, dass sich die
Autorin, als sie den Roman schrieb, immer
wieder gefragt hat, ob dieser Humor einem
deutschen Publikum zuzumuten sei.
An den Wohnwagen zum Beispiel, in
den Otto seine Töchter so gern gezwängt
hat, weil er Wohnwagen-Urlaub so liebte
(„Es war mir so fein!“), erinnert sich die Er-
zählerin so: „Als uns in der siebten Klasse
ein Bild des kurz nach der Befreiung von
Buchenwald von seiner Pritsche aus fra-
gend in die Kamera blickenden Elie Wiesel
gezeigt wurde, war meine erste Assoziati-
on: meine Familie im Wohnwagen.“ Oder
die Szene, in der Otto im Krankenhaus
liegt und der deutsche Arzt seinen Arm
nach einer Vene absucht und Otto darauf-
hin ruft: „Nein, ich habe so eine Nummer
nicht! Wir sind davongekommen!“

Der französische Philosoph Henri Berg-
son ist in seinem Essay „Das Lachen“ der
Frage auf den Grund gegangen, wann eine
Erzählung lustig ist. Seine Antwort: Das
Publikum lacht, wenn sich das Mechani-
sche mit dem Organischen verbindet.
Wenn uns also das Leben, das uns unbere-
chenbar erscheint, als eine Kette von un-
veränderlichen Mustern gegenübertritt.
Für die Geschichte der europäischen Ju-
den ist dieses unveränderliche Muster der
ständige Wechsel von Alltag und Vernich-
tung, von Zivilisation und Barbarei.
Die Wiederholung gehört zu den Prinzi-
pien des Lustigen, schreibt Bergson, und
eine Geschichte der Wiederholungen ist
eben auch die Geschichte der Juden in
Europa: „Das Leben war schwer“, heißt es
an einer Stelle, „und man dachte, es würde
immer so weitergehen: Manche werden
geboren, sagte mein Vater, manche wer-
den krank, manche haben Erfolg, manche
nicht, manche heiraten, und manchmal
bringen einen die Christen um, so lief das
Leben.“
Obwohl die Geschichten, die sich die
europäischen Juden über sich selbst erzäh-
len, regelmäßig in Pogromen, Vertreibun-
gen und Genozid münden, geraten sie, so-
bald sie erzählt werden, zwangsläufig lus-
tig, gerade weil es immer wieder passiert,
als handele es sich um ein physikalisches
Grundgesetz. Dieses Prinzip unterlegt
auch Dana von Suffrins Roman, es bildet
den morbiden Takt ihrer Familienge-
schichte: „Dann kamen die Jahre nach
1941, in denen Gott nahm und die Juden
wie Gänseblümchen von der Erdoberflä-
che pflückte. Fast alle unsere Verwandten
kamen um, denn sie blieben in Ungarn zu-
rück. (Die Grenze zwischen Rumänien und
Ungarn war im Norden, heute gibt es dort
kein Rumänien mehr, sondern Ukraine
und Ruthenien und Weißderteufelwas, sag-
te mein Vater, Länder, von denen wir
Schwestern nur dank des Eurovision Song
Contest eine Vorstellung hatten: Die Völ-
ker der einstigen Judenschlächter waren
jetzt mit Eurodance beschäftigt.)“
Um die öde Debütantenturnübung „Pro-
vokation“ geht es diesem Roman zum
Glück trotzdem nicht, seine Stärken liegen
eher in der intelligenten Indiskretion und
der diskreten Intelligenz. Auch das übri-
gens Werte, die einem an der Grenze
niemand abnehmen kann.

Wer über Familie schreibt, schreibt für
gewöhnlich den Anna-Karenina-Satz,
dass alle glücklichen Familien einander
gleichen, die unglücklichen aber auf ihre
eigene Weise unglücklich sind. Wie das bei
derartigen Weisheiten üblich ist, wird der
Satz dadurch wahr, dass er bis zur Besin-
nungslosigkeit wiederholt wird. Richtiger
wird er dadurch aber nicht. Auch familiä-
res Unglück kann typisch sein, generati-
onsspezifisch oder gar im Kontext der
Nationalgeschichte zu lesen.
Das ist Bedingung und Voraussetzung
der großen Familienaufstellung, die
Andreas Maier in seinem autobiografi-
schen Romanprojekt „Ortsumgehung“ vor-
nimmt und von Band zu Band weiter voran-
treibt. Wäre diese Familie und damit auch
Andreas Maier selbst nicht in irgendeiner
Weise typisch, dann müsste man sich mit
seiner Privatangelegenheit und seinem Fa-
milienunglück auch nicht weiter befassen.
Weil aber das Unglück dieser Familie dem
vieler anderer Familien gleicht, erzählt er
nebenbei die Geschichte des Landes aus
der Perspektive der hessischen Wetterau
zwischen Friedberg und Bad Nauheim.
Als Andreas Maier 2010 den schmalen
Roman „Das Zimmer“ vorlegte, wusste er
schon, dass darauf noch zehn weitere
autobiografische Bände folgen würden.
Auch die Titel hatte er bereits festgelegt. In
konzentrischen Kreisen erweiterte er von
Band zu Band seinen Bewegungsspiel-
raum, vom Zimmer zum Haus zur Straße
zum Ort, und in jedem Band gerieten
andere Figuren der Maier’schen Familien-
konstellation in den Blick: Mal war es der

debile Onkel J., dann die Schwester mit ih-
rem amerikanischen Freund, mal die Mut-
ter mit ihrem ungestillten Bedürfnis nach
„Geistigem“ oder der Vater mit seinen Mi-
gräneattacken. Dabei war Maiers Familien-
forschung immer auch eine Selbstanalyse,
eine genaue Beobachtung, wie die eigene
Person in ihrer Umwelt wächst und wird.

Zuletzt war er den Zwängen der Her-
kunft einigermaßen entkommen, hatte
sich an der Universität in Frankfurt einge-
schrieben und ein eigenes Zimmer mit
Matratze bezogen. Der neue, siebte Band
heißt nun allerdings „Die Familie“. Darin
kehrt Maier überraschenderweise noch
einmal an den Ausgangspunkt zurück, um
die Topografie seiner Kindheitslandschaft
neu auszumessen. Warum er das tut, er-
schließt sich erst vom Ende aus. Das riesi-
ge Grundstück in Friedberg mit seinen

Obstbäumen, der alten Mühle, dem ehe-
maligen Steinmetzbetrieb und dem neu
gebauten Elternhaus ist zunächst eine
mythische, idyllische Kindheitswelt mit
Apfelbäumen und Apfelwein.
Doch die Idylle trog schon damals.
Bereits das Kind Andreas kann die juristi-
schen Verhältnisse aufsagen, die eine
andere Sprache sprechen. Welche Parzelle
gehört der Mutter, welche Onkel Heinz
und welche Onkel J.? Warum gehört die
Firma der Mutter? Die Besitzverhältnisse
sind wesentlich, weil sie auch die Verhält-
nisse zwischen den Familienmitgliedern
prägen. Aber es dauert lange, bis Andreas
und seinem Bruder als Heranwachsenden
endlich klar wird, dass Onkel Heinz nicht
eines Tages „komisch“ geworden ist, wie
die innerfamiliäre Sprachregelung laute-
te, sondern dass die Mutter ihn beim Erbe
stillschweigend übervorteilt hat.
Wie darüber gesprochen beziehungs-
weise eben nicht gesprochen wird, wie aus
Schweigen Lügen und aus Lügen Legen-
den werden, darum geht es nun im Roman
„Die Familie“. Die entscheidenden Sätze
spricht dabei der fünf Jahre älterer Bruder:
„Es ist in einer Familie wie unserer völlig
egal, was du mit eigenen Augen gesehen
hast. Es ist egal, wie es dir vorkommt, was
du mit eigenen Augen gesehen hast. Eige-
ne Augen sind keine Kategorie.“
Was sie als Kinder vom Dachfenster des
Elternhauses gesehen haben, war ein Bag-
ger, der eines Abends die Mühle umrunde-
te und mit der Schaufel zum Einsturz
brachte. Dieser kalte Abriss des denkmal-
geschützten und deshalb unverkäuflichen

Gebäudes durfte jedoch nicht als solcher
bezeichnet werden, sondern musste als
Unfall bei der Dachsanierung erscheinen.
Eine jahrelange gerichtliche Auseinander-
setzung schloss sich an, die Maiers juris-
tisch versierter Vater schließlich gewann.
Das, was die Kinder gesehen hatten, durf-
ten sie so nie aussprechen, und die Eltern
sprachen auch zu Hause in der offiziellen
Sprachregelung wie vor Gericht. Andreas
nimmt sie als Avatare wahr, als Schablo-
nen ihrer selbst, die in einer künstlichen
Scheinwelt agieren, bis er schließlich so-
gar an sich selbst zweifelt.
Die eigentliche Pointe des Buches aber
führt noch weiter zurück in die Familienge-
schichte bis zum Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts. Sie betrifft die Firma des
Urgroßvaters, das Grundstück und die
Herkunft des Familienvermögens. Auch
diese unschöne Geschichte, die mit einst-
mals jüdischem Besitz zu tun hat, wurde in
der Familienhistorie durch angenehmere

Wahrheiten ersetzt und also verleugnet. So
wird aus Andreas Maiers „Die Familie“
eine exemplarische deutsche Schweige-
Geschichte. Doch Maiers eigentliche, ver-
störende Entdeckung besteht darin, dass
auch seine Generation – er ist 1967 gebo-
ren –, die glaubte, in eine kritische Auf-
arbeitungshaltung hineingewachsen zu
sein, mehr elterliches Schweigen, Leerstel-

len, Mythen und Legenden übernommen
hat, als sie ahnte. „Wir sind die Kinder der
Schweigekinder“, heißt es da.
Für den Erzähler Andreas Maier hat das
fatale Konsequenzen. Nicht nur er als
Person, sondern sein ganzes Schreiben
steht plötzlich zur Disposition. Der Gestus
des Aufklärenwollens, des Die-Eltern-
zum-Reden-Zwingens ist immer noch Teil
der Schweige- und Verdrängungsspirale,
und Maier ahnt mit Entsetzen, dass er „die
ganze Zeit Nachkriegsliteratur“ geschrie-
ben hat, ohne es zu merken: „Entschul-
dungsliteratur. Ich! Aus meiner Herkunft
habe ich ein metaphysisches Konstrukt ge-
macht. Und es hat so gut funktioniert!“ Um
zu dieser Erkenntnis vorzudringen, muss-
te Andreas Maier noch einmal an den Aus-
gangspunkt seines Unternehmens zurück.
Von hier aus bekommt die eigene Kindheit
eine andere, beängstigende Dimension.
„Die Familie“ ist keine fiktionale Ge-
schichte. Was Maier schreibt ist ja alles
„wahr“. All seine Figuren gibt es „wirklich“


  • natürlich wie immer unter dem Vorbe-
    halt, dass das Erzählen jede Wirklichkeit in
    eine Fiktion verwandelt. Das erweist sich
    hier nun aber keineswegs als befreiender
    schriftstellerischer Akt, sondern als
    vertrackte Fortschreibung der Familien-
    geschichte, in der die innerfamiliären
    Legenden das Schweigen und die Lüge be-
    mänteln. Dass er selber diesen Zusammen-
    hängen auf den Leim gegangen ist – das ist
    Maiers selbstkritische Schlussfolgerung.
    Er erkennt, den familiären Voraussetzun-
    gen des eigenen Erzählens gegenüber im-
    mer noch zu gutgläubig gewesen zu sein.


Maiers Stärke ist stets das Ineinander
von erzählerischen und essayistischen Pas-
sagen. Beschreibung und Analyse gehören
bei ihm zusammen. Reflexive Elemente
boten jedoch als Distanzierungsmittel zu-
gleich einen Rückzugsraum. Der fällt nun
weg, wenn Maier erkennen muss, dass die
Familiengeschichte, wie auch er sie kolpor-
tierte, auf falschen Voraussetzungen
beruhte. Wer sind wir also wirklich? Wo
können wir uns positionieren, wenn jede
Wahrheit, auf der wir bauen, auf einer
Unwahrheit basiert?

Literarisch wirkt der Roman „Die Fami-
lie“ in der bloßen Wiedergabe der Gesprä-
che von einst gelegentlich allzu kunstlos,
bloß dokumentarisch, und scheint der bis-
her schwächste Part der „Ortsumgehung“
zu sein. Vom schockierenden Ende her
gelesen hat dieses Buch aber seine Notwen-
digkeit, indem es die Voraussetzungen des
ganzen autobiografischen Projektes er-
schüttert. Von hier aus müsste man auch
die früheren Bände noch einmal mit ande-
ren Augen lesen und darf gespannt sein,
wie Maier in den jetzt noch ausstehenden
Bänden die Schweigespirale durchbricht.
jörg magenau

Andreas Maier:Die Familie. Roman. Suhrkamp Ver-
lag, Berlin 2019, 166 Seiten, 20 Euro.

AndreasMaier
FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE

18 FEUILLETON LITERATUR HF2 Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


„Ich genierte
mich, und ich
wurde gering.“

Wie aus Schweigen Lügen und aus Lügen Legenden werden


In seinem Roman „Die Familie“ erschüttert Andreas Maier sein eigenes autobiografisches Projekt „Ortsumgehung“


„Aus meiner Herkunft
habe ich ein metaphysisches
Konstrukt gemacht.“

Bei einem Debütantenseminar
sagte man ihr, dem Manuskript
fehlten Plot und Entwicklung

„Das Leben war schwer,
und man dachte, es würde
immer so weitergehen.“

Dana von Suffrin,
Münchner Historikerin und
Romanautorin, die an jiddische
Erzähltraditionen anknüpft.
FOTO: VERLAG KIEPENHEUER & WITSCH

Das Ende schockiert, man
müsste auchdie früheren Bände
noch einmal lesen

Manchmal bringen


einen die Christen um


Ist dieser Humor einem deutschen Publikum zuzumuten?


Dana von Suffrin erzählt in ihrem glänzenden Debütroman „Otto“


von den letzten Monaten ihres Vaters


RELEASED


BY

"What's

News"

VK.COM/WSNWS

t.me/whatsnws
Free download pdf