Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von ulrike sauer

T


-Shirts mit Öko-Siegel, Gemüse
aus der Region, fleischlose Bur-
ger, E-Mobilität, Plastikvermei-
dung – wegen der Klimakrise än-
dern viele Menschen ihren Kon-
sum. Aber beim Möbelkauf? Da geht es
eher konservativ zu. Die einen achten bei
der Auswahl des neuen Sofas auf den
Preis, die anderen suchen ein anspruchs-
volles Design. Egal, ob man sich auf die
Jagd nach Schnäppchen oder nach Cool-
ness macht, im Einrichtungshaus spielt
der schonende Umgang mit den Ressour-
cen des Planeten in der Regel kaum eine
Rolle. Nun jedoch geraten alte Gewohnhei-
ten ins Wanken. „Das Interesse an der
Nachhaltigkeit galt früher als snobisti-
sches Gehabe, heute bestimmt es die Ent-
scheidungen der Millennials“, sagt Claudio
Feltrin, Chef des Verbandes der italieni-
schen Möbelhersteller Assarredo.

Die Folge: Das neue Umweltbewusst-
sein der jungen Generation hat auch die
Einrichtungsbranche aufgerüttelt. Das
Umdenken ist allgegenwärtig. Auf der De-
sign Week 2019, der weltweit führenden
Möbelmesse in Mailand, drängte das The-
ma Nachhaltigkeit im vergangenen April
in den Vordergrund. Den knapp 400 000
Besuchern des überlaufenen Kreativitäts-
Festivals präsentierten sich viele der 2418
Aussteller in diesem Jahr am liebsten von
einer grünen Seite. Die Erderwärmung
droht die Träume von einer besseren Welt
auszulöschen, die Gestalter reagieren dar-
auf mit Innovationen. Die Turiner Tages-
zeitungLa Stamparief pünktlich zur Mes-
se „die Kehrtwende des Designs“ aus.
Die Antwort von Pedrali, ein Familien-
unternehmen aus der Nähe von Bergamo
am Fuß der Alpen, heißt „Folk“, eine neue
Stuhlkollektion des Designer-Trios CMP.
Schlicht, kompakt und traditionell – die
„Folk“-Modelle aus Eschenholz evozieren
mit ihren weichen, anheimelnden Formen
die Ur-Idee eines Stuhls. „Osteria-Stil“
sagt Monica Pedrali dazu. Der Unterneh-
merin ist Zeitlosigkeit wichtig. „Wir wollen
Produkte, denen man nicht überdrüssig

wird“, sagt sie. Die Hersteller trügen die
große Verantwortung für die Haltbarkeit
und für den Stil der Einrichtungsstücke.
Denn Möbel sollten Bestand haben und
noch in den Wohnungen der Kinder be-
nutzt werden. „Mode und Design wurden
lange Zeit vermengt“, kritisiert Pedrali, die
zusammen mit ihrem Bruder das 1963 ge-
gründete Unternehmen ihres Vaters führt.
Alle drei Jahre eine neue Billig-Couch? Das
sei völlig daneben.
In der „Folk“-Kollektion zum Beispiel
verbindet sich Tradition mit technischen
Neuerungen. Die sichtbarste ist ein farbi-
ger Aluminiumring, der die Sitzfläche um-
randet. Er signalisiert die einfache Tren-
nung der verschiedenen Materialien zur se-
paraten Wiederverwertung und die un-
komplizierte Reparatur des Stuhls. Bei Pe-
drali stammen zudem alle verarbeiteten
Hölzer aus zertifiziertem Anbau. In den
Spritzanlagen kommen natürliche Wasser-
farben auf Pflanzenbasis zum Einsatz. Sie
seien teurer und wesentlich schwieriger an-
zuwenden, sagt die Unternehmerin. Dafür
belasteten sie aber die Umwelt und die Ge-
sundheit ihrer Mitarbeiter und Kunden

nicht. In Berlin berichtete Monica Pedrali
Ende Mai in der italienischen Botschaft
auf einer Konferenz zum Thema Design
und Nachhaltigkeit über ihre Erfahrun-
gen. Mehr als hundert Architekten und Ge-
stalter aus Deutschland und Italien disku-
tierten darüber, wie das Industriedesign
zur Erfüllung der europäischen Nachhal-
tigkeitsziele beitragen kann. Pedrali produ-
ziert ausschließlich auf eigenen Anlagen in
ihren beiden norditalienischen Werken.
Mehr als eine Millionen Stühle laufen dort
im Jahr vom Band. Der Einsatz neuer Tech-
nologien erlaube es, Rohstoffe und Ener-
gie zu sparen. „Nachhaltigkeit entscheidet
sich in der Fabrik“, sagt sie.
Vorbei sind die Zeiten, in denen die Desi-
gner sich unbehelligt an ihrem Mantra
„form follows function“ abarbeiten konn-
ten. Ihr alter Leitgedanke kann heute ein-
fach nicht mehr alles sein. Es drängen ethi-
sche Aspekte in den Mittelpunkt. Die ver-
antwortungsvolle Nutzung der Ressour-
cen ist zum Imperativ geworden. Dabei
kommt den Gestaltern eine Schlüsselrolle
zu. Bis zu 80 Prozent der ökologischen und
sozialen Auswirkungen eines Produkts

während seines gesamten Lebenszyklus
werden in der Entwurfsphase vorbe-
stimmt.
In Mailand forcierte eine Ausstellung
das Bemühen, Nachhaltigkeit ganz oben
auf die Agenda zu setzen. Die Möbelmesse
war flankiert von der Schau „Broken Na-
ture: Design Takes on Human Survival“,
die noch bis 1. September auf der diesjähri-
gen Design-Triennale zu sehen ist. Die
Gastkuratorin Paola Antonelli, sonst am
New Yorker Museum of Modern Art (Mo-
MA) für Architektur und Design verant-
wortlich, dokumentiert in einem ein-
drucksvollen Reigen von Vorher-nachher-
Bildern die Zerstörung der Erde durch den
Klimawandel. Sie lässt hundert Designpro-
jekte folgen, die aufzeigen sollen, wie es
auch anders gehen kann. Antonellis Auf-
trag an die Formgeber: denkt um, seid Weg-
bereiter eines klimafreundlichen Kon-
sums.
Der Mailänder Plastik-Pionier Kartell
hat gerade einen seiner Klassiker neu er-
funden. Der Möbelhersteller, der verpön-
tes Plastik in den Neunzigerjahren welt-
weit salonfähig gemacht hat, bringt im

Herbst das runde Containerschränkchen
Componibili aus dem Jahr 1967 in einem in-
novativen Material auf den Markt. Die De-
signerin Anna Castelli Ferrieri läutete vor
50 Jahren mit ihrer bunten Kunststoffton-
ne den Abschied vom formellen Wohnen
ein. Das neuartige Modulelement Compo-
nibili wurde bekannt wie das Billy-Regal
von Ikea und schaffte es in die New Yorker
Sammlung des MoMA.
Die schicken Designerstücke aus Italien
sind vollständig recycelbar. Polypropylen,
das Markenzeichen von Kartell, hat heute
aber einen schlechten Ruf, weil die Welt an
der Flut von Wegwerf-Plastik und Verpa-
ckungsmüll zu ersticken droht. Kartell
stellte auf der Messe nun eine nachhaltige
Version des Componibili in Bioplastik vor.
In Zusammenarbeit mit dem Unterneh-
men Bio-on, einem Hersteller von innovati-
ven Werkstoffen aus Bologna, entwickelte
man aus landwirtschaftlichen Abfällen ei-
ne Plastik-ähnliche Biomasse, aus der Kar-
tell nun im gewöhnlichen Spritzguss- und
Formverfahren seine bunten Containerele-
mente fertigt. Sie kommen in diesem Okto-
ber als erstes Produkt des breit angelegten
Projekts Kartell Bio in der Ausführung mit
drei Fächern zum Preis von 187 Euro in die
Läden.
Design wird die Welt nicht retten, in Mai-
land aber zeichnete sich bei vielen Herstel-
lern eine Umkehr ab. LAGO aus der Nähe
von Padua stellte auf einem Parcours quer
durch die Stadt sein neues Konzept Never
Stop Respecting Tomorrow vor, mit dem
es sich dem Vorrang des Recyclings ver-
schreibt. Visionnaire, der seit 60 Jahren in
Bologna hochwertige Möbel tischlert, setzt
Produktionsanlagen aus der Autoindus-
trie ein, die den Materialausschuss mini-
mieren. Bei Cassina experimentiert man
damit, die Lederbezüge von Möbeln des De-
signers Philippe Starck durch ein Material
zu ersetzen, das aus Apfelresten gewonnen
wird.
Alessandro Saviola ist so etwas wie Itali-
ens Spanplattenkönig. Sein Unternehmen
stellt Pressplatten für die Möbelindustrie
her, die schon seit zwei Jahrzehnten zu
hundert Prozent aus Holzabfällen entste-
hen. „Wir betrieben schon Kreislaufwirt-
schaft, als das noch gar nicht so hieß“, sagt
der Öko-Pionier aus der Nähe von Mantua.
Mit 1500 Mitarbeitern recycelt das Unter-
nehmen 1,2 Millionen Tonnen Holz im
Jahr. „So retten wir 10 000 Bäume am Tag“,
sagt Saviola.
Beim Wohnen zeigt Italien seit Jahrzehn-
ten, wo es langgeht. Die aufgeschlossenen
italienischen Möbelhersteller ziehen mit
ihrer Experimentierfreude Kreative aus al-
ler Welt an. Besonders im Großraum Mai-
land haben Industrie, Kultur und For-
schung eine Designqualität und eine Pro-
jektkultur hervorgebracht haben, um die
man Italien im Ausland beneidet. Der Inno-
vationsdrang der Branche ist auch eine

Chance für die klimafreundliche Neubesin-
nung.
In Varese, im Norden Mailands, tüfteln
vier junge Start-up-Unternehmer seit
2015 an einem revolutionären Werkstoff.
Sie halten die Natur für den besten aller Ar-
chitekten und erforschten darum eine ih-
rer ausgeklügeltsten Technologien: das
Myzel, den fadenartigen Vegetationsappa-
rat der Pilze. Durch die Applikation des My-
zels auf Bioabfälle jeglicher Art entsteht
ein widerstandsfähiges und vielseitiges
Material. Im Gegensatz zu seinen syntheti-
schen Verwandten ist es ökologisch abbau-
bar. Eine Art kompostierbares Polystyrol.

Der Herstellungsprozess ist völlig natür-
lich, ohne Hitzeeinwirkung oder Druck-
luft. Die Pilzsporen erledigen die Schwerst-
arbeit von allein. Sie treten als Umwandler
und als natürliches Bindemittel der pflanz-
lichen Fasern in Aktion. Nebenbei beseiti-
gen sie Traubenreste, Stroh, Kaffeesatz,
Tomatenschalen und vieles mehr. Bislang
ist Mogu – Pilz auf Chinesisch – nur mit ei-
nem Produkt auf dem Markt: mit organi-
schen, schallisolierenden Paneelen. „2020
bringen wir den ersten Bodenbelag aus Mo-
gu heraus“, sagt Mit-Gründer Maurizio
Montalti, der in Amsterdam als Konzeptde-
signer und Kreativberater arbeitet. Den Hy-
pe um die nachhaltige Möbelherstellung
verfolgt Montalti mit einiger Skepsis. Es
sei eine Menge in Bewegung gekommen.
„Wirklich greifbare Lösungen sind unter
den gefeierten Ankündigungen aber eher
rar“, sagt er. Zwischen dem wortreichen Ge-
rede der großen Hersteller und echten
Marktneuheiten klaffe noch ein tiefer
Spalt.
„Wirklich disruptive Innovationen for-
dern viel Zeit und Geld, man schafft sie
nicht von heute auf morgen“, sagt Montal-
ti. Den Markenherstellern fehle es an der
Bereitschaft, in die Co-Entwicklung um-
weltfreundlicher Materialien zu investie-
ren, um kostengünstige Massenproduktio-
nen auf die Beine stellen zu können. „Ich
würde gern das Gegenteil sagen, aber es
mangelt noch am Willen, entschlossen auf
den Wandel zu setzen“, klagt der Start-up-
Unternehmer.

Kritiker monieren, dass
den Ankündigungen
bisher kaum Taten folgen

Der Auftrag an die Designer:
Seid Wegbereiter eines
klimafreundlichen Konsums

Für die Tonne: Der Kunststoffspezialist Kartell bringt im Oktober einen seiner Klassiker aus dem Jahr 1967 aus kompos-
tierbarem Bioplastik auf den Markt. FOTO: SIMONA PESARINI / KARTELL

Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl – und dennoch etwas Besonderes: Der Möbelhersteller Pedrali aus Bergamo hat dieses Jahr ein leicht recycelbares Modell herausgebracht. FOTO: PEDRALI

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 45


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