Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Neuer AnfangBei unsin Erding, ich bin
ungefähr sechs Jahre alt und trage eine
traditionelle Natala. Sieht hübsch aus, fin-
de ich, vor allem der geschmückte Rand,
er heißt Tibeb. Damals lebte meine Fami-
lie bereits seit zehn Jahren in Deutsch-
land. Meine Mutter ist mit meinen bei-
den älteren Schwestern alleine aus Äthio-
pien geflohen, mein Vater kam nach. In ih-
rer Heimat haben meine Eltern keine Per-
spektive gesehen. Sie lebten an der Gren-
ze zu Sudan, es herrschten Krieg, Dikta-
tur, eine entsetzliche Hungersnot. Daher

haben sie sich entschlossen, nach Europa
zu gehen. Ich glaube, dass die Entschei-
dung gar nicht einfach ist. Denn niemand
geht freiwillig fort. Niemand ist gerne
fremd und unwillkommen. Das gilt ge-
nauso für all die Menschen, die heute zu
uns kommen. Ich bin meinen Eltern dank-
bar, dass sie den Schritt gemacht haben.
Und dass sie mir nie gesagt haben, Sara,
weil du eine andere Hautfarbe hast,
musst du dich besonders anstrengen. Sie
haben mir immer vermittelt: Ich kann
alles werden, was ich möchte.

Mit offenen AugenDas ist in Äthiopien,
vor etwa drei Jahren. Ich bin seit 2009
regelmäßig dort – damals habe ich
nicht nur die Castingshow gewonnen,
sondern bin auch Botschafterin der
Organisation Menschen für Menschen
geworden, die mit Spenden viele Projek-
te in dem Land finanziert. Die erste Rei-
se hat mich zutiefst traurig gemacht
über die Armut der Menschen. Ich war
bis dahin nur einmal in Äthiopien gewe-
sen, als 14-Jährige mit der Familie. Wir
waren in einem Thermalbad, haben mit
Affen gespielt, Nilpferde beobachtet.
Meine Eltern wollten uns zeigen, wo wir
herkommen. Und dass Afrika mehr zu
bieten hat als das Elend, das man aus
den Medien kennt. Die Reisen mit der
Organisation waren völlig anders, sie ha-
ben mir die Augen geöffnet. Hier bin ich
bei einer sogenannten Model-Farme-
rin, die mir Neuerungen in ihrem Haus-
halt zeigt: einen abgetrennten Küchen-
bereich, was sonst nicht üblich ist, und
einen holzsparenden Ofen statt offe-
nem Feuer. Das ist gesünder, und ihre
Kleider riechen nicht ständig ver-
brannt. Hier lachen wir zusammen, weil
sie mir erzählt, dass ihre Nachbarn die-
se Veränderungen erst ziemlich seltsam
fanden. Inzwischen kommen sie zu ihr
und lassen sich alles erklären. Wie es
eben so ist: Was man nicht kennt, mag
man erst mal nicht.

Beste FreundinDas ist Sali, meine vier
Jahre ältere Schwester. Ich liebe dieses
Bild, weil darin so viel steckt von dem
Weg, den wir zusammen gegangen sind.
Mit unserem Kaffee wollen wir Frauen
in Äthiopien durch Mikrokredite unter-
stützen und stärken. Es gab Höhen und
Tiefen. Hier haben wir gerade unsere
ersten Kredite vergeben. Und sind ein-
fach glücklich. Mit Sali habe ich fast
mein ganzes Leben ein Zimmer geteilt.
Erst zu Hause, als Teenager haben wir
uns natürlich extrem genervt. Als ich
vor ein paar Jahren die Nase voll vom
Modeln und eine echte Sinnkrise hatte,
sind wir nach Berlin gezogen. Wir haben
die Firma und die Organisation „Nuru
Women“ gegründet. Und verstehen uns
eigentlich in allem. Wir finden dieselbe
Mode und dieselben Frauen toll, Oprah
Winfrey zum Beispiel. Wobei, Salis Mu-
sikgeschmack ist aktueller. Ich bin ir-
gendwie bei Motown hängen geblieben.

Große WeltIch finde, die Stimmung des
Fotos lässt sich mit einem Wort zusam-
menfassen: neunzehn. So alt oder eher so
jung war ich damals, ich war naiv und hat-
te keine Ahnung, was Modeln wirklich be-
deutet. Das Bild ist in New York gemacht
worden, ich hatte gerade „Germany’s
Next Topmodel“ gewonnen und war dort,
um mich bei Agenturen zu präsentieren.
Das erste Mal alleine in New York, das
fand ich megaaufregend. Ich habe zwei äl-
tere Geschwister und dachte immer, die
zeigen mir mal die Welt – und dann war
ich plötzlich allein unterwegs in den tolls-
ten Städten. Hinten in meinem Rucksack
habe ich mein Modelbuch dabei, das hat-
te man damals noch, um sich vorzustel-
len. Ich habe dann bald gemerkt, in den
USA läuft das anders. Niemand kennt
dich, und dunkelhäutige Models, in
Deutschland etwas Besonderes, gibt es
wie Sand am Meer. Ich mag das Bild. Es
hat so eine jugendliche Leichtigkeit.

Ganz weit obenIn New York, am Times
Square, das war diesen April. Ein beson-
derer Moment – ich konnte es nicht
glauben, dass ich wirklich da oben hän-
ge. Auf einer Plakatwand! AndemPlatz
von Manhattan! Dass die Fotos für eine
internationale Kampagne waren, wuss-
te ich. Aber ich dachte, mein Schwer-
punkt wird Deutschland, Österreich,
die Schweiz sein. Als ich von den Bill-
boards in New York hörte, musste ich
einfach hinfliegen, um das mit eigenen
Augen zu sehen. Es ist schwer, das zu be-
schreiben. Aber ich hatte das Gefühl,
jetzt muss ich niemandem mehr etwas
beweisen. Ich hatte mit dem Modeln
eigentlich abgeschlossen, viele Anfra-
gen abgelehnt, eine Firma gegründet.
Und genau in dem Moment, als ich nicht
mehr versucht habe, nur anderen zu
gefallen, sondern meinen eigenen Weg
gegangen bin, da ist so etwas Schönes
passiert. Das hat sich gut angefühlt.

DaheimHier sitze ich am Tisch in Grün-
bach im Landkreis Erding, wo meine El-
tern die erste Zeit verbrachten, nachdem
sie 1985 aus Äthiopien geflohen sind. Wir
sind nach dem Umzug nach Erding oft zu
Besuch gekommen. Für mich ist Grün-
bach wie ein Zuhause. Jeder kennt jeden
in dem Dorf. Das ist der Geburtstag von
Senta, die alte Dame neben mir. Sie war
für mich wie eine Oma. Senta hat Plätz-
chen für uns Kinder gebacken und zu Os-
tern bemalte Eier gebracht. Mir gefällt,
wie neugierig sie auf andere Kulturen
war. Wenn meine Mama äthiopisch koch-
te, hat sie ausprobiert, mit den Händen
zu essen, wie das bei uns üblich ist.

Stolzer AnfangDas istaus dem Familien-
album, meine Eltern haben den Zeitungs-
ausschnitt eingeklebt. Ich bin 1989 in Er-
ding geboren, „das erste schwarze Baby“,
stand in der lokalen Presse. Erstaunlich
ist, dass dieser Satz ganz unterschiedli-
che Reaktionen auslöst. Als ich das Bild
gepostet habe, fanden manche die Formu-
lierung rassistisch. Einerseits verstehe
ich das gut. Ist schon interessant, dass die
Hautfarbe eines Neugeborenen vor drei-
ßig Jahren noch eine Schlagzeile wert
war. Andererseits haben weder meine Fa-
milie noch ich das als abwertend empfun-
den. Wir waren eher stolz. Ich finde, man
sollte die Nachricht positiv sehen: Durch
meine Geburt hatte das kleine Erding
endlich etwas Kosmopolitisches.

Am UrsprungWildwachsender Kaffee,
sieht aus wie im Dschungel! Das ist eine
der ersten Reisen, als ich mit meiner
Schwester Sali beschlossen hatte, die Fir-
ma „Nuru Coffee“ zu gründen. Äthiopien
gilt als Ursprungsland des Kaffees. Mei-
ne Güte, was bildeten wir uns auf unser
Know-how ein, weil wir von zu Hause die
Kaffeezeremonie mit dem Rösten grüner
Bohnen kannten. Weit gefehlt. Inzwi-
schen weiß ich, wie mühsam die Gewin-
nung ist, was handverlesener Kaffee wirk-
lich heißt. Auf den Reichtum an Aromen
achtet in Deutschland kaum jemand, wir
trinken Kaffee hier ziemlich gedanken-
los. Zum Glück ändert sich das gerade.

HELL’S KITCHEN (XXXII)


FOTOALBUM


Die Chipperfield Kantine in Berlin,SaraNuru, 30, kommt mit dem Rad. Obwohl sie gerade Ferien in


Italien gemacht hat, verkneift sich die Siegerin von „Germany’s Next Top Model“ den Espresso.


Sie bestellt Filterkaffee, „Hipster-Viertel, geht nicht anders“. Leichtes Augenrollen und ein strahlendes


Lächeln. Im Oktober erscheint Nurus Buch „Roots“ über ihr Leben als Model und Kaffee-Unternehmerin


protokolle: anne goebel

von christian zaschke

Hell’s Kitchen befand sich in dieser
Wochein Aufruhr, weil die Isländerin
zu Besuch war. Innerhalb kürzester
Zeit hatte sie die Hälfte der Einwohner
des Viertels bezaubert. Die älteren
Leser werden sich daran erinnern, dass
die Isländerin mich eine Weile begleite-
te, als ich vor geraumer Zeit das Land
in einem Chevrolet Tahoe von Küste zu
Küste durchquerte. Ich bin mir sicher,
dass sie bis heute in weiten Teilen des
südlichen Amerika vermisst wird.
Da die Fügung sie nun in die schwü-
le Sommerhitze New Yorks geweht
hatte, zeigte ich ihr all die geheimen
Orte, und für den letzten Abend, ihr
Flug ging erst um zehn, hatte ich das
Rudy’s aufgespart, eine exzellente
Schrottbar, von der aus verschiedenen
Gründen nicht verraten werden kann,
wo sie genau liegt. Als wir den Laden
betraten, saß mein Freund V., der Frem-
denführer, am Tresen und unterhielt
sich mit einem Paar aus Manchester,
England, obwohl er, wie er mir zuraun-
te, kein Wort verstand. Der Akzent von
Manchester ist etwas eigen.

Die Isländerin kannte nach wenigen
Minuten den halben Tresen und wies
mich beiläufig darauf hin, dass über
dem Regal mit den Hot-Dog-Brötchen
ein Gemälde des Malers George Rodri-
gue hänge, der eines Tages beschlos-
sen hat, in fast jedem seiner Bilder
einen blauen Hund mit gelben Augen
unterzubringen.
Mir war das Bild noch nie aufgefal-
len, also fragte ich V., ob es neu sei. V.
geht seit mehr als 20 Jahren ins Rudy’s.
„Habe das Bild hier noch nie gesehen“,
brummte er, während das Manchester-
Paar auf ihn einredete. Ich fragte Yolan-
da, die Barfrau, seit wann das Bild da
hänge. Yolanda schaute auf das Bild.
„Ah“, sagte sie, „das alte Bild.“ Sie arbei-
tet länger im Rudy’s, als V. dort trinkt.
Damals, auf unserer Reise, machten
die Isländerin und ich Halt in Lafa-
yette, Louisiana, und wir kehrten im
Blue Dog Café ein. George Rodrigue hat
lange in Lafayette gelebt, in dem Lokal
hängen Dutzende seiner Bilder. Der
blaue Hund schaut einem von allen
Wänden beim Essen zu. Da die Islände-
rin binnen Minuten mit dem halben
Blue Dog Café ins Gespräch vertieft
war, erfuhren wir, dass der blaue Hund
einmal in einer Werbung für einen
schwedischen Wodka verwendet wur-
de, und dass Rodrigues Sohn André
gerade da war. Der gab uns dann eine
Führung durchs Café und erzählte alles
über die Bilder und seinen Vater.
Ich erzählte V. die Geschichte. Er sah
die Isländerin an, er sah das Bild an, er
sah mich an, er bestellte bei Yolanda
drei Stella, wir hoben die Gläser, das
Paar aus Manchester schloss sich an
und sagte etwas Unverständliches.
Dann war es Zeit.
Yolanda bestellte ein venezolani-
sches Taxi, denn, sagte sie, das seien
die besten Taxis. Das Taxi kam, die
Isländerin stieg ein, das Taxi fuhr, und
wir im Rudy’s, wir in Hell’s Kitchen –
wir blieben zurück. Aber immerhin,
sagte V.: Wir haben jetzt einen Hund.

RATTELSCHNECK


FOTOS: DPA/PA, PRIVAT (8)

Der blaue Hund


DieIsländerin kannte
nach wenigen Minuten den
halben Tresen

50 GESELLSCHAFT Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


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