Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
Das Wichtigste, das ein Astronaut mitbrin-
gen muss,ist nicht Fachwissen oder Fit-
ness, sondern Teamfähigkeit. „Wenn ein
Astronaut nicht im Team arbeiten kann,
ist das schwer zu lösen“, sagt Samantha
Cristoforetti. „Alles andere kann man ler-
nen.“
Cristoforetti, eine drahtige, dunkelhaa-
rige Frau mit festem Händedruck, die in
gleichem Maße Freundlichkeit und Selbst-
sicherheit ausstrahlt, hat gut reden. Was
sie alles lernen musste, um als Astronautin
der Europäischen Weltraumorganisation
ESA ausgewählt und auf die Internationale
Raumstation (ISS) geschickt zu werden,
klingt für den Laien wie eine ziemliche Her-
ausforderung: Die heute 42-Jährige hat ei-
nen Master in Ingenieurwesen, und einen
in Luft- und Raumfahrtwissenschaften.
Sie spricht neben Italienisch Russisch,
Deutsch, Englisch und Französisch. Sie ist
Offizierin der italienischen Luftwaffe.
2016 brachte sie eine Tochter zur Welt.
Und vorher, zwischen November 2014 und
Juni 2015, stellte sie einen Rekord für die
längste Zeit auf, die je eine europäische Ast-
ronautin im All verbracht hatte: 199 Tage
und 16 Stunden.
Das würde für mehrere Biografien rei-
chen. Aber Cristoforetti hat ihre Erfahrun-
gen in einer einzigen aufgeschrieben. Um
über „Die lange Reise“ (erscheint Anfang

September im Penguin-Verlag) zu spre-
chen, hat sie eigens ihren Urlaub unterbro-
chen. Entspannt sitzt sie in der Trainings-
halle des Europäischen Astronautenzen-
trums Köln, der Stadt, in der sie seit einem
Jahrzehnt lebt. Gleich nebenan stehen
Nachbauten des Raumstationsmoduls „Co-
lumbus“. Hier bereiten sich sonst die ISS-
Astronauten auf ihre Einsätze vor.
Die Italienerin erzählt von ihrem ersten
Linienflug, wie beeindruckt sie im Gang ge-
standen habe. Da war sie 17. Doch trotz die-
ses späten Jungfernflugs hegte Samantha
Cristoforetti schon lange den Traum, in
der Raumfahrt zu arbeiten. In „Die lange
Reise“ beschreibt die gebürtige Mailände-
rin, welche Hürden sie zu nehmen hatte,
um es in die Erdumlaufbahn zu schaffen.
Als Mädchen hängte sie nicht Popstars,
sondern „Star Trek“-Poster in ihrem Zim-
mer auf. „Ich war verrückt danach. Es mag
kindisch klingen, aber dieses Motto ‚To
boldly go where no one has gone before‘,
das hat mich unglaublich fasziniert.“
Ihr Studium führte sie nach München,
Toulouse und Moskau. Im Jahr 2000 – das
italienische Militär hatte gerade erst die Zu-
lassungssperre für Frauen abgeschafft –
begann sie in der Accademia Aeronautica
ihre Ausbildung als Kampfpilotin. Die
Teamfähigkeit, die sich in der ISS als so
nützlich erweisen sollte, musste sie schon

hier unter Beweis stellen: „Ich war 24, die
meisten männlichen Bewerber 18 oder 19.
Da musste ich Verantwortung überneh-
men, und die Kommunikation war nicht
immer einfach.“
Hier sei der Erfahrungs-, nicht der Ge-
schlechtsunterschied ausschlaggebend ge-
wesen. Dabei ist sich Cristoforetti ihrer be-
sonderen Rolle durchaus bewusst in einem
Beruf, den man noch immer vor allem mit
Männern assoziiert. Aber als eine Art Spre-
cherin sieht sie sich nicht unbedingt: „Die
Leute fragen mich immer: Wie ist es, als
Frau diesen Job zu machen? Aber die halbe
Menschheit besteht aus Frauen – ich kann
nur sagen, wie es sich als Samantha ange-
fühlt hat, keine allgemeingültige Frauener-
fahrung konstruieren.“
Die Erfahrung, neben der Pilotenausbil-
dung auch das Auswahlverfahren zum Ast-
ronautenprogramm zu durchlaufen, be-
zeichnet sie als „Doppelten Marathon“.
Aber sie bestand und begann 2009 die Aus-
bildung gemeinsam mit fünf weiteren Kan-
didaten, darunter der Deutsche Alexander
Gerst. Dass sie gleich bei ihrer ersten Missi-
on so lange oben blieb, verdankte sie übri-
gens einer Panne: Im Mai 2015 hatte ein
russischer Weltraumfrachter mit Nach-
schub für die ISS die vorgesehene Umlauf-
bahn verfehlt und war wenige Tage darauf
beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre

verglüht. „Das war schon Pech“, sagt Cristo-
foretti. Aber sie räumt auch ein, nicht un-
froh gewesen zu sein, einen Monat auf der
Raumstation dranhängen zu können.
Über praktische Aspekte und Auswir-
kungen des Alltags auf der Station spricht
die Astronautin sehr eloquent und nach-
vollziehbar. Sie beschreibt etwa, dass Kaf-
fee – auf ihrer Mission war erstmals eine
Espressomaschine an Bord – wegen der
Blasen, die sich bei der Zubereitung in ei-
nem Beutel bilden, eher wie Cola aussehe.
Oder dass sich die Hornhaut an den Füßen

zurückbilde, weil man immer schwebt. Die
Erfahrung, in der Schwerelosigkeit zu le-
ben, könne man dagegen weniger leicht
weitergeben: „Es ist schwierig, sich in der
ISS ein Körpergefühl vorzustellen, wie es
auf der Erde ist – und umgekehrt. Im Was-
ser zu schwimmen ist ähnlich, aber durch
die Flüssigkeit fühlt man sich getragen
und muss sich zugleich anstrengen, sie zu
verdrängen. Da oben ist alles anstren-
gungslos.“
Insgesamt könne man trotzdem leicht
vergessen, dass man im Weltraum sei –

„solange man nicht nach draußen guckt“.
So sehr sie sich bemüht habe, den unglaub-
lichen Anblick des Globus, der sich dem Au-
ge dann bietet, in ihrem Buch wiederzuge-
ben, findet sie doch, es sollte auch einmal
ein Dichter oder Künstler nach dort oben
geschickt werden: „Durch Dichtung und
Kunst wird eine Erfahrung erst universell.“
Auf ihre persönliche Erfahrung als Mutter
angesprochen, räumt Cristoforetti ein,
dass sie durch die Geburt ihrer Tochter
„konservativer“ geworden sei: „Ich meine
das in dem Sinne, dass ich noch mehr als
vorher empfinde, dass man die Erde erhal-
ten muss.“
Wann sie das nächste Mal bei einer Mis-
sion dabei sein wird, ist noch nicht klar.
Die Besatzungsstärke der Internationalen
Raumstation ist auf sechs Personen be-
schränkt; derzeit ist ihr Landsmann Luca
Parmitano dort. In der Zwischenzeit hat sie
unter anderem als „Crew representative“
an der Planung für eine neue Raumstation
in der Umlaufbahn des Mondes mitge-
wirkt. Unter Federführung der NASA soll
es dort bis 2024 wieder Landungen geben.
Wird Samantha Cristoforetti dann die ers-
te Frau auf dem Mond sein? Auch bei die-
ser Frage erweist sie sich als entschiedene
Realistin: „Ich glaube“, sagt sie lächelnd,
„das wird dann doch eher eine Amerikane-
rin.“ alexander menden

von gerhard matzig

S


ie hat blaue Haare und trägt
schwarz-rot-goldene Hey-guck-
mal-Stiefel, die sich fast über die
Knie schieben. Gleichzeitig
schiebt sich das Röckchen stän-
dig nach oben, so dass sie es immer wieder
runterziehen muss. Dabei bringt sie auch
den anderthalb Meter langen buschigen
Schwanz in Form, der dem Röckchen heck-
seitig entwächst. Ihr Begleiter, wie sie dürf-
te er höchstens Anfang zwanzig sein, ist da-
für der schwarze Muskel-Lord: schwarze
Sneaker, schwarze Jeans, schwarzes Shirt
mit dem Aufdruck „Play until you die“.
Offenbar fängt die weltweit größte Com-
puterspielmesse Gamescom schon im
Parkhaus P22 an. Das Auto, dem der
schwarze Gaminglord und die blaue Ga-
mingkatze an diesem ersten Publikums-
tag entsteigen, kommt aus Wermelskir-
chen, knapp vierzig Kilometer nordöstlich
von Köln. „Das also“, denke ich, „sind die
neuen Spielgefährten meines Sohnes.“ In
weltweit wie verrückt herumgereichten
Computerspielen wie „Fortnite“, bei dem
die reale Spieler als E-Gamer und Pop-
stars 2.0 mittlerweile Millionen verdienen
können. Während die Spielemacher von
Anfang an ganz sicher Milliarden einstrei-
chen, weiß man ja nie so genau, wer neben
einem über dem royalen virtuellen
Schlachtfeld abgeworfen wird. Später in
den Messehallen wird immer wieder eine
Frage mikrofonverstärkt über das Areal to-
sen: „Wollt ihr spielen?“ Dann brandet die
Antwort vieltausendfach euphorisiert zu-
rück: „Yeah! Wir wollen spielen.“

Mögen die Spiele beginnen.
Als erstes mache ich ein Katzenbild von
der Katzenfrau mit dem Handy – und Leo-
nard, 14 Jahre alt, rollt peinlich berührt mit
den Augen und nuschelt etwas in Richtung
„Datenschutz“ und „Persönlichkeitsrech-
te“. Mein Sohn, aber dies nur nebenbei, er-
klärte neulich, er wolle beruflich E-Gamer
werden und hätte nicht vor, aus dem Kin-
derzimmer auszuziehen. Solange das Inter-
net dort funktioniert. Heute findet er jeden-
falls eher mich, einen 56-jährigen Nichtga-
mer, seltsam, als dass er das seltsame Ga-
merpaar seltsam fände, das sich vor uns
zupfenderweise und dunkellordhaft auf
die Messehallen hinter dem Rheinpark zu-
bewegt. Spiele bis du stirbst. So ist das also.
An die 400 000 Besucher, „Gamer“ sagt
Leonard, genannt Lelo, vielleicht auch
demnächst E-Lelo, dazu, werden noch bis
zu diesem Wochenende nach Köln pilgern.
Ins Herz einer Branche, die es mit den nack-
ten Umsätzen der Pornoindustrie und den
ikonischen Chiffren der Waffenindustrie
aufnehmen kann. Auf der Suche ist man
hier nach „Final Fantasy“ Teil VII, anderen
Cosplayern, neuen Youtubern und E-Sport-
Turnieren oder auch nach Spielen, die zum
Beispiel einfach „Maneater“ heißen. Man-
che Gamer werden stattdessen Jesus fin-
den, der mit einem Pappschild in der Hand
die Massen der Spielenden teilt wie Moses
einst das Rote Meer. Auf dem Schild steht,
man solle sich Jesus anschließen. Mir ist
nicht klar, ob das ein Spiel ist oder heiliger
Ernst.
Während ich noch grüble, ob die Games-
com wohl der Ort ist, den Friedrich Schiller
meint, wenn er sagt, dass der Mensch nur
dort ganz Mensch ist, „wo er spielt“, steckt
mir ein Mann, der aussieht, als habe er die
längste Zeit seines Lebens als Söldner in di-
versen Kriegen gelebt, einen 100-Dollar-
Schein zu. Es sind „Ork Bucks“, die man er-
hält, sollte man sich als „Trooper Roleplay-
er“ der „Tigerland Action Force“ anschlie-
ßen. Dann verzieht sich der Söldner wieder
unter sein Tarnnetz zum gepanzerten Wa-
gen in Sandfarbe. Überhaupt geht es ziem-
lich martialisch zu auf dieser Messe, die wo-
möglich nicht jene Messe ist, die Jesus ger-
ne feiern würde. Einer trägt ein Shirt mit
der Aufschrift „Ich hasse Menschen“. Hm.
Spricht das eher für oder gegen die Ga-
ming-Community?
Überall, und zwar völlig zu Recht, sind
Ohrstöpsel zu haben. Ohrstöpsel und Kar-
tonkisten zum Draufsitzen. Die Schlangen

vor den Spieleneuheiten sind lang, zäh und
geduldig. „Ab hier eine Stunde Wartezeit“
belehrt ein Schild. Dahinter hat es sich eine
Gamerin auf dem Boden gemütlich ge-
macht. Aus einem Beutel zieht sie ein
Buch. Es heißt „Das Vermächtnis der
Grimms“. Schade eigentlich, dass es nicht
der unter besorgten Eltern gern herumge-
reichte Sorgenbestseller „Digitale De-
menz“ von Manfred Spitzer ist. Untertitel:
„Wie wir uns und unsere Kinder um den
Verstand bringen“.
Aber vielleicht kennt sie es ja. Oder ihre
Eltern. Das Mädchen, das hier auf der Mes-
se vielleicht Einlass begehrt zu „Zombie
Busters“, „Stormborne“ oder „Little Night-
mares 2“, ist dem Aussehen nach noch ein
Teen. Der Psychiater und Talkshow-Lieb-
ling Spitzer, dessen Thesen bei vielen Wis-
senschaftlern – freundlich gesagt – auf ei-
nigen Widerstand stoßen, schreibt über
sie, Lelo und andere ab Seite 292 den gern
und oft zitierten Satz: „Computerspiele ma-
chen dick, dumm, gewalttätig und stump-
fen ab. Als sechsfacher Vater weiß ich, wie
schwierig es manchmal sein kann, seinen
Kindern Grenzen zu setzen. Wer das aber
nicht kann oder nicht will, der ist kein gu-
ter Vater und keine gute Mutter.“
Genau das ist der Punkt, also der Grund,
warum ich hier bin, in der mir rätselhaften
Welt der Gamer. Als dreifacher Vater weiß
ich nämlich gerade nicht mehr so recht, ob
ich auch nur halbwegs ein guter Vater bin.
Zwar haben wir uns als Familie gestern vor

dem Messetag noch analog gebattlet und
werden den Tag brav vor Gerhard Richters
Südfenster im Kölner Dom beschließen,
aber: Sind täglich eine bis anderthalb Stun-
den vor dem Computer, die unweigerlich
aus Lelo ein dickes, dummes, gewalttäti-
ges und stumpfes Monster namens E-Lelo
machen müssen (und aus mir einen Vater-
versager) des Bösen zuviel? Und was ist das
eigentlich für eine Welt, in die sich das an-
gehende Monster so gern versenkt?

Die analoge Battle, die am Abend vor
der ersehnten Fortnite-Demonstration am
Razer-Stand (so eine Art Apple unter den
Gaming-Hardware-Herstellern, erklärt
man mir) noch im gelegentlich intakt er-
scheinenden Familienkreis gespielt wird,
heißt übrigens „Stadt, Land, Fluss“. Es
kommt noch ohne den Exo-Gaming-Seat
von Recaro inklusive Lordosenstütze, Anti-
Submarining-Hügel und atmungsaktiver
Sitzschale aus. Jedenfalls solange Lelo un-
ter „Gewässer“ beim Buchstaben „G“ noch
die „Gurk“ als Kärntner Fluss triumphal
ausspielt. 15 Punkte dafür. Wollt ihr spie-
len? Aber immer. Until... du weißt schon.
Als Familie würde ich, einerseits Ga-
ming-Ignorant, der über „Tetris“ kaum
hinausgekommen ist und Super-Mario

praktisch noch persönlich kennenlernen
durfte, der andererseits von etlichen Debat-
ten im Bekanntenkreis sorgenvoll beunru-
higt wird, als Familie würde ich uns als rela-
tiv normal beschreiben: Die 20-jährige
Tochter studiert und liebt Sport in jeder
Form ohne „E“; der 17-Jährige macht bald
Abitur und weiß noch nicht, ob er später
Anwalt oder Fußballexperte werden soll.
Und Lelo: liebt Fortnite. Fortnite. Und Fort-
nite. In dieser Reihenfolge. Daher machen
wir uns Sorgen. Obwohl er Fußball und
Tennis spielt und ein ganz ordentlicher bis
guter Schüler ist.
Die angeblich drohende digitale De-
menz macht uns halt Angst – und zudem:
dass man nicht recht weiß, was einen Ga-
mer zum Gamer macht. Daher die Idee und
die Hoffnung: Auf der Gamescom unter
den Verrückten müsste sich eigentlich
manches klären lassen. Zum Beispiel, wie
verrückt der eigene Verrückte wirklich ist.
Es stimmt schon: Als man vor Jahren an
den Rand Münchens gezogen ist, an den
Waldrand ins sogenannte Grüne, tat man
das, weil man dachte, dass in diesem Wald
die eigenen Kinder spielen würden wie
Analog-Abziehbilder, die aus der eigenen
Vergangenheit herüberleuchten in die digi-
tale Gegenwart. Sie würden Lager bauen
und Baumhäuser. Sie würden im Matsch
herumkneten und mit dem Taschenmes-
ser Pfeil und Bogen aus herumliegenden
Hölzern schnitzen. Sie würden tollen und
toben statt trollen und gamen und viel-

leicht mal Cowboy und Indianer spielen
(hoffentlich sich mit Indianern solidarisie-
rend). Und dann? Stellten die Kinder fest,
dass es im Wald kein Wlan gibt.
Wenn man Spitzers Buch und andere
ernste Mahnungen, die es wundersamer-
weise auch digital gibt, liest, denkt man bis-
weilen: Schade, dass die berechtigten und
verständlichen Sorgen immer so derma-
ßen apokalyptisch daherkollern müssen,
als ginge es darum, einen Fighter aus
„Ghost Recon Breakpoint“ in den Boden zu
rammen. Mit anderen Worten: Die Schnee-
ballschlacht ist okay? Räuber und Gen-
darm sind in Ordnung? Ein Stöckchen Holz
als Gewehr ist akzeptabel? Aber das Ganze
in digitaler Ausführung: Horror unser, der
du bist im Internet!
Doch auch wenn man sich ganz gut vor-
stellen kann, dass die „digitale Demenz“
zu Zeiten der Buchdruckerfindung viel-
leicht „analoge Anarchie“ geheißen hätte,
worin Experten die tendenzielle Vereinsa-
mung (Lesen) sowie die pathologische Ver-
änderung der Hirnströme und der Umblät-
ter-Muskulatur (Buch) sowie eine hinter-
hältige, bisweilen geisteskranke und jeden-
falls gewinnorientierte Branche (Literatur)
angeklagt hätten: Es bleibt doch ein Un-
wohlsein angesichts der fremden Welten,
in die die Kinder eintauchen.
Aber ist das nicht auch die Lösung: Ist
nicht gerade die Gamer-Zone als eine mir
rätselhafte und fremde Welt genau des-
halb so interessant für meinen Sohn, weil

es eben eine Welt für ihn ist? Weil darin bei
aller geschätzten Familien-Inklusion ein
exkludierendes Moment wie ein sagenhaf-
ter Schatz verborgen ist. Vielleicht ist die
Gamescom auch deshalb voller Nerds, weil
die Nichtnerds sich so gern mokieren über
sie. Weil das Digitale für die digitalen Urein-
wohner auch eine Bastion ist und sein darf,
die vor Überfremdung zu schützen ist.
Weil es letztlich um Identitäten geht.
Wenn daran nicht alles falsch ist, gibt es
allerdings nur einen Ausweg: Man muss
seinem Kind vertrauen können. Vertrauen
darauf, dass es zwischen Realität und Fikti-
on unterscheiden kann. Vertrauen darauf,
dass es pathologischen Auswüchsen, die es
überall gibt, mit sicheren Instinkten wider-
steht. Und man selbst wird was tun? Man
wird sich weiter sorgen, weil das zum Vater-
Job gehört. Und manchmal wird man sich
erstaunt die rätselhafte Gamersphäre an-
gucken.
So wie man sich staunend Gerhard Rich-
ters rätselhaftes Südfenster im Kölner
Dom betrachtet. Der Sohn sagt: „Sieht aus
wie Pixel.“ Ist es auch, das Bild aus Farbe
und Genie verdankt sich – auch! – dem Zu-
fallsgenerator im Computer. Die Welt ist –
auch! – eine digitale Welt. Und das Spielen
ist – auch! – ein digitales Spielen.
Übrigens: Jesus geht gerade vorbei. Ich
folge ihm und gelange in die Retro-Abtei-
lung, wo an flippergroßen Geräten Tetris
gespielt werden kann. Ach, herrlich. Und
klar: Man muss sich sorgen. Absolut.

199 Tage oben


Keine europäische Astronautin war so lange im All unterwegs wie die Italienerin Samantha Cristoforetti – wie das war, beschreibt sie nun in einem Buch


Überall auf dem Gelände
sind Ohrstöpsel zu haben, und
das völlig zu Recht

Wir hofften, unsere Kinder
würden im Wald spielen. Leider
gibt es im Wald kein Wlan

Er will doch nur spielen


Der Sohn unseres Autors hockt stundenlang vor dem Computer, sein Vater ist besorgt.


Eine gemeinsame Reise auf die Gamescom soll die Frage klären: Wer ist hier eigentlich verrückt?


An die 400 000 Gamer wurden in diesem Jahr auf der Kölner Messe erwartet. Um ein neues Spiel auszuprobieren, müssen sie oft stundenlang Schlange stehen. Das scheint die wenigsten zu stören. FOTO: BLOOMBERG

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 GESELLSCHAFT 51


Man kann leicht vergessen,
dass man im Weltall ist. Solange
man nicht nach draußen guckt

Samantha Cristoforetti
nach ihrer Rückkehr von
der ISS 2015.FOTO: AFP

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