Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

D


er Leitstand des Atomkraft-
werks sieht ein bisschen so
aus wie das alte Kontrollzen-
trum der US-Weltraumbehör-
de Nasa in Houston. Ein fens-
terloser Saal, voll mit antiquiert wirken-
den Anzeigetafeln und wuchtigen Bedien-
pulten. Manch ein Schalter wird hier noch
gedrückt, manche Kontrollanzeige noch
abgelesen. Aber große Teile sind mit violet-
ten Aufklebern bedeckt: Außer Betrieb.
Die Nadel zum Beispiel, an deren Aus-
schlag sich ablesen lässt, wie viel Strom
das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld gera-
de ins Netz einspeist – man braucht sie
nicht mehr. Denn der leistungsstarke
Druckwasserreaktor wurde im Juni 2015
abgeschaltet und später komplett stillge-
legt. Der Meiler könnte heute selbst dann
keinen Strom mehr produzieren, wenn je-
mand den Atomausstieg rückgängig ma-
chen wollte.
Denn Stilllegung bedeutet, dass ein Re-
aktor tatsächlich unbrauchbar gemacht
wird. In Grafenrheinfeld ist der Reaktor-
druckbehälter, in dem die Spaltung von
Uran-Atomen enorme Mengen Energie
freisetzte, schon lange trocken. Und auch
die Leitungen, in denen das Kühlwasser zir-
kulierte, sind leer. Sie wurden nicht nur ge-
reinigt, sondern sogar durchgeschnitten,
wie Werksleiter Bernd Kaiser bei einem
Rundgang durch das Kraftwerk erläutert.
Der 46-Jährige ist damit beauftragt, Gra-
fenrheinfeld abzuwickeln. Und er hat mitt-
lerweile einige Routine darin, seinen Besu-
chern zu erklären, wie er das anstellen will:
Eine radioaktiv belastete Industrieanlage
in eine grüne Wiese zu verwandeln.
Seit der Abschaltung befinden sich Kai-
ser und seine Belegschaft in einem seltsa-
men Zwischenzustand. Noch kann der
Rückbau nicht ernsthaft beginnen, man be-
findet sich im „Restbetrieb“. Denn noch
müssen fast 180 Brennelemente im Reak-
torgebäude gekühlt werden. Erst wenn die
nach und nach abtransportiert wurden,
können die Mitarbeiter richtig loslegen.
Kaiser beginnt seine Führung gerne im
Besprechungsraum, wo er eine Grafik an
die Wand projiziert. Eine Zeitleiste, in der
die „Phasen des Rückbauprozesses“ einge-
zeichnet sind. „2021 werden wir mit dem
intensiven Rückbau anfangen“, erläutert
er. Bis dahin lässt er seine Mitarbeiter alles
bis ins Kleinste durchplanen und auf-
schreiben. Im Verwaltungstrakt hängen
tischplattengroße Übersichtspläne, wie
man sie aus dem Projektmanagement
kennt. Für jedes einzelne Bauteil wurde
dort in kleiner Schrift eingetragen, wann
es demontiert werden soll.

Kaiser ist offiziell Werksleiter. Er hat
bei der Bundeswehr Maschinenbau stu-
diert und wüsste durchaus, wie man ein
Atomkraftwerk am Laufen hält. In Grafen-
rheinfeld aber hat er von Anfang an die
Funktion eines Rückbaumanagers über-
nommen. Anders als sein Vorgänger, dem
Kaiser noch ein Jahr lang über die Schulter
schauen konnte, empfindet er die Aufgabe
nicht als schmerzhaft, sondern als span-
nende Herausforderung. Denn genau dar-
auf hat er sich vorbereitet: Kaiser kam
2005 zum Energiekonzern Eon, für den er
heute im Prinzip immer noch arbeitet, wo-
bei sein Arbeitgeber inzwischen anders
heißt. Mit der Umbenennung der „Eon
Kernkraft GmbH“ in „Preussen Elektra“
wollte sich Eon nämlich nominell von der
umstrittenen Kerntechnik trennen, um in
der Öffentlichkeit grüner und nachhalti-
ger zu wirken. Kaiser hat das Rückbau-
zentrum von Preussen Elektra in Hanno-
ver geleitet und bei der Abwicklung der
Atomkraftwerke in Stade und Würgassen
Erfahrungen gesammelt. Seit 2017 ist er
Werkleiter in Grafenrheinfeld.
Von außen wirkt das unterfränkische
Atomkraftwerk bis heute unverändert.

Wie seit Jahrzehnten ragen die beiden
143 Meter hohen Kühltürme als weit sicht-
bare Orientierungspunkte empor. Nur der
Wasserdampf, der mehr als drei Jahrzehn-
te lang daraus hervorquoll, fehlt. Auch die
Sicherheitsvorkehrungen sind unverän-
dert. Noch immer wird streng überwacht,
wer das eingezäunte Kraftwerksgelände
betreten darf.
Und wer bis ins Allerheiligste will, ins
Reaktorgebäude selbst, der muss inner-
halb des Geländes weitere Sicherheitsbar-
rieren überwinden, der muss in einen lan-
gen Kittel und in Überschuhe schlüpfen
und ein Dosimeter einstecken – jenes
Messgerät, das die Strahlenbelastung des
Körpers erfasst.

Ein Rundgang durch das Kraftwerk ist
wie ein Ausflug in eine andere Welt. Wie
auf dem RaumschiffEnterprisegibt die
Farbe der Kleidung Auskunft darüber, für
welchen Bereich ein Mitarbeiter arbeitet.
Orange steht im Kraftwerk für die Reaktor-
technik, Grün für Strahlenschutz und Rot
für die Feuerwehr. Und die wuchtige Luft-
schleuse, die den Zugang zur Reaktorhalle
blockiert, könnte ebenfalls zu einem
Raumschiff gehören. Die Funktion ist im
Prinzip dieselbe: Die Schleuse soll die Be-
legschaft vor einer unsichtbaren Bedro-
hung schützen. Während sich ein Raum-
fahrer aber immer mit einem Schutzanzug
vor der Leere des Weltalls abschirmen
muss, ist die Strahlung in der Reaktorhalle
normalerweise so gering, dass sich Mitar-
beiter und Besucher dort eine ganze Weile
im einfachen Baumwollkittel aufhalten
können, ohne die Tagesdosis zu über-
schreiten.
Trotzdem war die Schleuse immer ge-
schlossen, als der Reaktor noch in Betrieb
war, erklärt Kaiser. Das war eine Sicher-
heitsmaßnahme für den Fall der Fälle. Heu-
te, da keine Kernspaltung mehr außer Kon-
trolle geraten kann, steht sie offen.
In der Reaktorhalle übernimmt Harald
Weth die Führung. Er arbeitet seit 25 Jah-
ren als Strahlenschützer in Grafenrhein-
feld und hat nichts dagegen einzuwenden,
wenn sich die Besucher direkt an den Rand
des Abklingbeckens stellen wollen. Das Be-
cken sieht aus wie ein besonders tiefer
Swimmingpool, in dem ein Gerüst ver-
senkt wurde. Darin stehen senkrecht die
Brennelemente. Ihr Inhalt zerfällt still vor
sich hin und gibt dabei noch so viel Wärme
ab, dass man sie vorerst nicht in einen je-
ner Trockenbehälter packen kann, die
nach einem Hersteller meist Castorbehäl-
ter genannt werden. Die Wasserschicht im
Abklingbecken ist mehrere Meter tief und
fängt die Strahlung ein. Das Dosimeter in
der Brusttasche der Besucher wird später
Null anzeigen.
Anfassen dürfen Gäste im Reaktor
nichts. Und sie müssen ihre Besucherkittel
und die Überschuhe zurücklassen, bevor
sie das Gebäude wieder verlassen. Denn
mehr als die Strahlung fürchten Kaiser
und Weth ein Phänomen, das sie Kontami-
nationsverschleppung nennen. Im Reak-
torgebäude ist das oberste Gebot, dass
kein radioaktives Material nach draußen
gelangen darf, keines der radioaktiven
Spaltprodukte, die bei der Kettenreaktion
entstanden sind und die sich auf den Ober-
flächen von Geräten und Bauteilen abgela-
gert haben könnten.
Genau diese radioaktiven Stoffe sind es,
die den Rückbau so zeitaufwendig ma-
chen. Das Reaktorgebäude und all die Ma-
schinen, Leitungen und Einbauten in sei-
nem Inneren wurde im Laufe der Zeit mit
radioaktiven Spaltprodukten ver-
schmutzt. Diese Kontamination muss vor
dem Abriss beseitigt werden. Bei den meis-
ten Objekten sei die Verschmutzung nur
oberflächlich und lasse sich mehr oder we-
niger leicht beheben, erklärt Strahlen-

schützer Weth. Manchmal braucht er die
Oberfläche eines Bauteils einfach nur abzu-
wischen, manchmal muss er aber eine gan-
ze Schicht abtragen. Entscheidend ist,
dass sein Messgerät am Ende einen unbe-
denklichen Wert anzeigt. Das Ergebnis
wird dokumentiert und vom Landesamt
für Umwelt in Stichproben durch eigene
Messungen überprüft. „Wir müssen für al-
les den Nachweis erbringen, dass das nicht
kontaminiert ist“, erklärt Weth.
Sein Messgerät sieht aus wie die Glätte-
kelle eines Maurers, die ein technisch inter-
essierter Mensch an einem Apparat aus
dem Physikunterricht angeschlossen hat.
Tatsächlich ist es eines der wichtigsten Ins-
trumente für den Rückbau des Reaktors.
Weth und seine Kollegen werden damit in
den nächsten Jahren jeden Zentimeter des
Metallschrotts und Bauschutts abtasten.
Auch an Mauern und Böden müssen sie die
Strahlenbelastung akribisch erfassen, Kel-
lenfläche für Kellenfläche, bis am Ende
Dutzende Mal die Markierung „NE“ für
Nulleffekt auf der Wand steht.
Nach der Stilllegung war das Reaktorge-
bäude eine Zeit lang fast wie ausgestorben.
Mittlerweile sind wieder einige Mitarbei-
ter des Kraftwerks und externer Hand-
werksfirmen unterwegs, denn die ersten
praktischen Vorarbeiten für den Rückbau
haben begonnen. Bevor sich das Gebäude
leert, wird es im Ringraum um die Reaktor-
halle herum erst einmal eng. Denn Kaiser
hat einige Maschinen anschaffen lassen,
für die das Kraftwerk früher wenig Verwen-
dung hatte: Einen Minibagger mit Meißel-
aufsatz zum Beispiel und mehrere leis-
tungsstarke Sägen, mit denen Bauteile in
handliche Stücke zerteilt werden. Diese Sä-
gen stehen hinter Plastikplanen, damit
sich der belastete Staub nicht im Reaktor
verteilt.
Wie aber baut man nun so ein Atom-
kraftwerk auseinander? Kaisers Projekt-
plan sagt: Von innen nach außen. Erst wird
alles demontiert, was starker Strahlung
ausgesetzt war. Der Reaktordruckbehälter
etwa, bei dem es mit einer Oberflächenbe-
handlung nicht getan ist, weil sein Materi-
al durch die jahrzehntelange intensive
Strahlung längst selbst radioaktiv gewor-
den ist. Er muss komplett als radioaktiver
Bauschutt entsorgt werden. Danach folgen
die beweglichen Teile im Reaktorgebäude


  • Kräne, Rohre, Maschinen. Sie werden zer-
    kleinert, in Kisten gepackt und dekontami-
    niert. Ist das irgendwann erledigt, werden
    Arbeiter den Schutzanstrich von den Wän-
    den lösen. Und ganz am Ende, wenn


Schichtleiter Karl Straub muss
sich denAbriss nicht antun.

Oberstes Ziel: Die radioaktiven
Zerfallsprodukte, die sich auf
den Oberflächen abgesetzt
haben, dürfen nicht
nach draußen gelangen

Bis zur


letzten Schraube


Wo heute das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld
steht, soll 2035 wieder Gras wachsen.
Eine gewaltige Aufgabe für Werksleiter
Bernd Kaiser und seine Belegschaft

text: claudia henzler,
fotos: daniel peter

Wenn Werkleiter Bernd Kaiser den Rückbau erklärt,
schlüpfter selbst in die roten Besucherkittel.
Der Weg in die Reaktorhalle führt durch eine massive
Luftschleuse. Im ringförmigen Raum, der rund um
die Reaktorhalle verläuft, werden schon
die ersten Anlagenteile zerlegt. Harald Weth
im grünen Overall weiß, worauf man dabei
achten muss. Gesägt wird beispielsweise
hinter Plastikplanen, damit sich kontaminierter
Staub nicht verteilt. Mit einem speziellen Gerät wird
die Radioaktivität aller Bauteile geprüft.
Dem Leitstand sieht man die
Entstehungszeit in den Siebzigerjahren an.

Atomausstieg Bayerns Reaktoren müssen abgebaut


R14 BAYERN Samstag/Sonntag, 24./25.August 2019, Nr. 195 DEFGH


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