Der Tagesspiegel - 24.08.2019

(Nora) #1

Ansichts KATER


L


iebe Leserinnen und Leser,
darin sind wir uns einig: Es gibt
etwas zu feiern. Für Sie, für Berlin,
für den Tagesspiegel und die Berli-
ner Zeitung. Vor 30 Jahren fiel die
Mauer, undaus dergeteilten Stadt wurde wie-
der ein geeintes Berlin, aus dem geteilten
Land ein geeintes Deutschland. Das heißt
nicht, dass sich hier alle einig sind. Und das
ist gut so.
Denn in unserer Stadt und unserem Land
gibteseine Menge Meinungen, gibtes Debat-
ten um das, was richtig und falsch ist, gibt es
Diskussionen über das, was uns weiterbringt
und was nicht. Meinungsvielfalt – das ist der
Treibstoff unserer Demokratie.
Ohne die in Ostdeutschland von den Men-
schen erkämpfte Meinungsfreiheit, die ge-
meinsam geteilte Freiheit der vergangenen
30 Jahre, wäre das alles nicht für alle mög-
lich: kein öffentlicher Streit, keine Rede und
keine Widerrede. Deshalb wollen wir die
Meinungsvielfalt mit Ihnen feiern. Mit guten
Argumenten undvielfältigenDebatten im Ta-
gesspiegel und in der Berliner Zeitung.
In den kommenden zehn Wochen, von
Ende August bis Anfang November, werden
wirmit Ihnendarüber diskutieren,was wich-
tig ist für unser Leben in dieser Stadt, in die-
sem Land. Zehn Wochen – zehn Themen un-
serer Zeit. Ab kommenden Montag geht es
etwa um die Frage: „Kann das Auto weg?“

Dazu schreiben zunächst der als „Autopapst“
bekannte Experte Andreas Keßler und die
aus „Babylon Berlin“ bekannte Schauspiele-
rin Liv Lisa Fries, die passioniert Fahrrad
fährt.Danachkommen Expertenaus demAll-
tag zu Wort und dann auch Sie, liebe Leserin-
nen und Leser. Sie können sich beteiligen:
online und in den sozialen Netzwerken, per
Mail, Brief oder Userkommentar.
Wir wollen gemeinsam mit Ihnen Argu-
mente gewichten und im Widerstreit austau-
schen – zu Themen wie der Zukunft unserer
Ernährung, einer neuen Klimapolitik, besse-

rer Bildung, bezahlbaren Wohnungen. Und
es soll auch darum gehen, wie Deutschland
nochbesserzusammenwachsen kann. Siefin-
den die Beiträge hier auf der Meinungsseite
und digital unter causa.tagesspiegel.de.
Jede Woche gibt es ein neues, gemeinsa-
mes Debatten-Thema, digital präsentiert und
in den Zeitungen veröffentlicht. Und jeden
Sonnabend präsentieren wir in beiden Titeln
Ihre Meinungen, Ihre Argumente. Gemein-
sam laden Jochen Arntz, der Chefredakteur
derBerlinerZeitung,und wir,die Chefredak-
teure des Tagesspiegels, Sie dazu ein, sich
einzumischen, uns Ihre Meinung zu sagen.
Zusammen mit derBundeszentralefür politi-
sche Bildung, die die ganze Aktion partner-
schaftlich unterstützt, planen wir zum Ab-
schluss ein großes Fest der Meinungsfrei-
heit. In Kooperation mit der Berliner Volks-
bühneladen wir Sieam 7. November zu einer
Veranstaltung ein, bei der wir mit Prominen-
ten und mit Ihnen die Freiheit und die Viel-
falt der Meinungen feiern.
Seien Sie dabei, diskutieren Sie mit in den
kommenden zehn Wochen im Tagesspiegel
und in der Berliner Zeitung. Schreiben Sie
uns, was Sie denken. Sagen Sie uns, was Ih-
nen wichtig ist. Denn das ist ja das Wich-
tigste.
Herzlich,
Lorenz Maroldt und Mathias Müller von
Blumencron, Chefredakteure Tagesspiegel

N


ach dem undemokratischen Raus-
wurf vondreikurdischen Bürgermeis-
tern durch die Regierung Erdogan in
der Türkei hält sich die Kritik der größten
Oppositionspartei CHP in Grenzen.
CHP-Chef Kilicdaroglu lehnt die Teil-
nahme an Solidaritätskundgebungen für die
bedrängte Kurdenpartei HDP ab – obwohl
die CHP ihre kürzlichen Siege bei den Wah-
len in Istanbul und anderen wichtigen Städ-
ten nicht zuletzt der Unterstützung der HDP
zu verdanken hatte. Erdogan könnte sich
keine inkompetentere Opposition wün-
schen. Die Macht des Präsidenten stützt sich
nicht allein auf seine Beliebtheit bei den kon-
servativen Türken und auf die über Jahre
gute Wirtschaftsentwicklung. Seine Gegner

im Parlament von Ankara können sich nur in
Ausnahmefällen auf eine gemeinsame Hal-
tung einigen und erleichtern dem Präsiden-
ten so das Geschäft.
Die erfolgreiche Kooperation der CHP mit
der HDP und der rechtskonservativen Oppo-
sitionsparteiIyi Parti bei denKommunalwah-
len im Frühjahr hatte gezeigt, dass die Regie-
rungspartei AKP besiegt werden kann, wenn
die Opposition zusammen handelt. Aber of-

fenbar waren diese Allianzen nur Strohfeuer.
Im Streit um die demokratisch gewählten
und jetzt von Ankara kurzerhand abgesetz-
ten und durch Zwangsverwalter ersetzten
HDP-Bürgermeister gibt sich die CHP sehr
kühl. Grund dafür ist ein Terrorismus-Gene-
ralverdacht gegen kurdische Politiker, der
von vielen in der CHP geteilt wird. Dass die
Partei diese Vorbehalte nicht überwinden
kann, begrenzt nicht nur die Schlagkraft der
ganzen Opposition. Die Distanzierung lässt
auch die Chancen sinken, das Kurdenpro-
blem durch die Einbindung der HDP in die
politischen Prozesse des Landes zu lösen.
Selbst innerhalb der AKP regt sich Unmut
gegen den harten Kurs in der Kurdenpolitik.
Es ist bezeichnend, dass dies für Erdogan ein
größeres Problem ist als die Haltung der Op-
position.

Sein Dank gilt der Opposition


Der türkische Präsident


könnte sich keine


inkompetenteren Gegner


als die aktuellen wünschen


CDDEBATTE


N


eulich habe ich einen Bekannten gefragt, warum er kei-
nen Fahrradhelm trage, obwohl er auf das Auto verzichte
und sich für die Rechte der Radfahrer einsetze. Er sagte:
„Weil sich mit Helm das Gefühl verfestigt, dass Radfahren unsi-
cher ist.“ Diese Antwort habe ich nicht erwartet. Ich dachte
eher daran, dass ein Helm uncool aussieht und nichts bringt.
Ichdachte überSicherheit imStraßenverkehrnach und erin-
nerte michan meinenVater,wie erfluchte,als 1976inDeutsch-
landdie Gurtpflicht gesetzlich eingeführtwurde.Ich war sieben
Jahre altund verstand nicht, wiesoesihnund vieleBekannte so
aufregte.Icherinnerte mich, wie wiruns 1985 auchauf derRück-
bankanschnallenmussten.Da warich 16,unddiesmal verstand
ichdieAufregung.Ich fühlte mich inmeiner Freiheiteinge-
schränkt,selbstzu entscheiden,ob ichmich anschnallenwollte.
Undesnervte mich, dass ichständig dazuermahnt wurde.
Meine Anschnall-Aversion war damals gar nicht so ungewöhn-
lich. Die Gurtpflicht löste in Deutschland eine rational unerklär-
liche Empörung aus. Weil die Verantwortlichen im Bundesver-
kehrsministerium sich das auch nicht erklären konnten, beauf-
tragten sie eine Studie. Das Ergebnis war verblüffend, die Wis-
senschaftler und Wissenschaftlerinnen fanden heraus, „dass der
Sicherheitsgurt primär mit den Gefahren eines Unfalls und sei-
nen Folgen assoziiert wird und erst sekun-
där mit seiner eigentlichen technischen
Funktion, nämlich vor diesen Gefahren zu
schützen“. Einerseits war klar, dass sie mit
Gurt sicherer fahren, aber er demonstriert
auch, dass man beim Autofahren ständig in
Gefahr ist. Bis ich das Paradoxon verstan-
den habe, musste ich einige gedankliche
Schleifen in meinem Kopf drehen.
Schlagartig wurde mir klar, dass sich
lange Zeit nichts an der Sicherheit der Rad-
fahrer ändern wird. Die politischen Ver-
kehrsplaner wollen deren Leben retten, in-
dem sie den Abbiegeassistenten für Lkw nicht gesetzlich vor-
schreiben, indem sie keine gesicherten Radwege bauen und es
dabei bleibt, dass auf den Straßen das Recht des Stärkeren gilt.
Radfahrer und Fußgänger sollen sich weiter unsicher fühlen
und für jeden Autofahrer, jeden Lkw-Fahrer, jeden Motorradfah-
rer, jeden Rollerfahrer und neuerdings auch jeden E-Scoo-
ter-Fahrer mitdenken müssen, um zu überleben. Ich sitze psy-
chologisch in der Klemme. Einerseits möchte ich mir mein
Recht als Radfahrerin auf der Straße nicht nehmen lassen, and-
rerseits verzichte ich bei jeder brenzligen Situation auf mein
Recht. Und die Meldung, dass in Deutschland die Zahl der toten
Radfahrer im ersten Halbjahr 2019 um elf Prozent gestiegen ist,
nährt mein Unsicherheitsgefühl aufs Neue. Die Zahl der getöte-
ten Autofahrer ging übrigens um fünf Prozent zurück.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Verkehrstote gegenei-
nander aufzurechnen, empfinde ich als pietätlos und ist nicht
meine Absicht. Aber vielleicht können die Zahlen dazu beitra-
gen, eine wichtige Schlussfolgerung zu ziehen: Offenbar sinkt
die Zahl der toten Autofahrer, wenn Sicherheit aus dem Auto he-
raus beschlossen wird. Anschnallpflicht, Airbag, 30er-Zonen,
Handyverbot am Steuer haben dafür gesorgt, dass weniger Auto-
fahrer sterben. Der Umkehrschluss wäre also, dass weniger Rad-
fahrer sterben würden, wenn Sicherheit aus ihrem Blickwinkel
betrachtet würde und nicht aus dem Auto heraus.
Niemanden lassen die Toten kalt, weder vor noch in dem
Auto. Deshalb kann es nur ein Ziel geben: ein Straßenverkehr, in
dem niemand sterben muss, weil sich alle gleich sicher fühlen
können.


Von Hatice Akyün

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Erst gurten,


dann helmen?


A


nfangAugustfragte derHar-
vard-Professor Stephen
Walt, was dieWeltzu tunge-
denke, wenn Brasilien den Amazo-
naswald zerstöre und die Zukunft
der Menschheit gefährde. „Wer
wird den Amazonas retten (und
wie)?“, hieß der Text, den er darü-
ber schrieb. Der Titel ist aktueller
denn je. In Brasilien brennt der
Dschungel innicht gekanntem Aus-
maß. Die Gründe für die Feuer: zu-
nehmendeTrockenheit und Brand-
stiftung durch Rinderzüchter und
Großbauern, die ihre Flächen ver-
größern wollen. Ermutigt werden
sie von Brasiliens Präsident Jair
Bolsonaro, der klargemacht hat,
dass man das Amazonasgebiet aus-
beuten werde. Umweltschutz ist
fürihn eine Sachesentimentaler In-
dio-Fans und Grünzeug fressender
Veganer.
Vor allemin Europaist dieAufre-
gung jetzt groß. Der Amazonas-
dschungel produziert rund ein
Fünftel des weltweit verfügbaren
Sauerstoffs und ist ein gigantischer
CO 2 -Speicher. Zwar hat die Abhol-
zung der vorangegangenen Jahre
kaum jemanden interessiert, aber
weil die Menschen inzwischen kli-
masensibelgeworden sindundBol-
sonaro ein ideales Feindbild ab-
gibt,starrennun allenach Südame-
rika. Deutschland und Norwegen
haben Gelder für Brasilien gestri-
chen, und Frankreichs Präsident
Macron will auf dem G-7-Gipfel
über das Problemland sprechen.
Bolsonaros Gegner in Brasilien
begrüßen das, während Bolsonaro
und seine Minister hektisch twit-
tern. Sie schreiben, dass die Norwe-
ger Wale jagen und die Franzosen
mit ihrenAtomtests die Südseever-
seuchthaben.UndMerkel solle lie-
berDeutschland aufforsten. Sielie-
gen damit nicht falsch. Die größten
Klimasünder sind die USA, China
und Europa. Brasilien war hinge-
gen lange ein Klimachampion. Das
Land reduzierte zwischen 2004
und 2012 die Rodungen um ein
Sechstel und war drauf und dran,
seine Klimaziele zu erreichen.
Hinzu kommt: Brasilien gewinnt
zwei Drittelseines StromsausWas-
serkraft. Die 43 Millionen Autos
auf Brasiliens Straßen fahren zu 65
Prozent mit Flexfuel-Motoren, zu
zehn Prozent mit Erdgas. In
Deutschland fahrenfast alle65 Mil-
lionen Autos mit Benzin.
Aufschlussreichistauch derVer-
gleich des Pro-Kopf-Ausstoßes
von Klimagasen: Jeder Brasilianer
ist für 2,35 Tonnen verantwort-
lich. Der Durchschnittsdeutsche
hat 9,7 Tonnen auf dem Gewissen
und jeder Amerikaner 15,74 Ton-
nen. Und wer frisst eigentlich das
Soja, das im gerodeten Dschungel
angebaut wird? Europas Masttiere.
All das soll keine Entschuldi-
gung sein, aber wer den Hamba-
cher Forst für Kohle abholzt, der
kann keine moralische Überlegen-
heit in der Diskussion mit Brasilien
für sich beanspruchen. Und schon
gar nicht den Amazonas retten. Es
würde aber helfen, etwas weniger
Fleisch zu essen.

Umdenken


tut not, denn


Sicherheit


geht für


Autos anders


als für Radler


Argumente und Ideen an
[email protected]

Alle künftigen Debatten unter
causa.tagesspiegel.de

Und was meinen Sie?


Von Susanne Güsten

8 DER TAGESSPIEGEL MEINUNG NR. 23 924 / SONNABEND, 24. AUGUST 2019


STUTTMANN D


Von Philipp Lichterbeck

Der Amazonas


lodert – und


die Verlogenheit


Europa kann von


Brasilien noch lernen


Ein Gourmetabend der Extraklasse


von Tagesspiegel Genuss!


Besuchen Sie mit dem „Genuss Menü“ die feinsten und exklusivsten Restaurants der Stadt und erleben Sie
mit uns die ausgefeilten Kochstile der größten Küchenchefs Berlins. Freuen Sie sich im September auf ein
Menü in fünf Gängen von Sternekoch Eberhard Lange im Restaurant Hugos. Die begleitenden Weine kom-
men vom Weingut Künstler aus Hochheim am Main und werden vom Sommelier Manfred Welter präsentiert.

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Menü mit Getränkebegleitung: 129 €

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Mittwoch, 4. September 2019, 19 Uhr
Tel.: (030) 26 02 31 97
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Fotos: Promo Stichwort: Genuss Menü

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