Handelsblatt - 28.09.2019

(Axel Boer) #1
Arbeiten von
zu Hause aus:
Jeder neunte
Erwerbstätige
in Deutschland
macht das
zumindest
gelegentlich.

The Image Bank/Getty Images, CC BY-SA 4.

Frank Specht Berlin


E


in denkmalgeschützter
Wohnblock im Szene-
stadtteil Berlin-Fried-
richshain. Oben im hel-
len Dachgeschoss resi-
diert Sofatutor, eine Nachhilfeplatt-
form, die Lernvideos ins Netz stellt.
Rund 100 Mitarbeiter beschäftigt das
vor zehn Jahren als Start-up gegrün-
dete Unternehmen, es gibt Yoga,
Fußball und Firmenpicknick.
Und weitgehende Flexibilität bei
der Arbeitszeit. Nur wenn Beschäftig-
te die Freiheit hätten, das Privatleben
nicht immer dem Beruf unterordnen
zu müssen, könne man sie langfristig
an sich binden, sagt Firmengründer
Stephan Bayer. „Wir können es uns
nicht leisten, unsere Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter – wie Firmen es
in früheren Zeiten taten – als passge-
naue Gegenstücke in die Firmen -
strukturen hineinzupressen.“ Zwar
ist die Zusammenarbeit im Büro die
Regel bei Sofatutor. Aber wenn es ei-
nen konkreten Anlass gibt oder es
sich positiv auf die Produktivität aus-
wirkt, dürfen Mitarbeiter auch ins
Homeoffice ausweichen.
Mit dieser größeren Flexibilität
steht die junge Gründerszene nicht
allein. „Arbeitnehmer wollen heute
ihre Arbeitsbedingungen flexibel und
individuell gestalten können“, sagt
Martin Seiler, Personalvorstand bei
der Deutschen Bahn. Schon seit En-
de 2016 gilt im Staatskonzern der Ta-
rifvertrag Arbeit 4.0, der Angestellten
mobile Telearbeit von zu Hause er-
möglicht, solange keine betrieblichen
Belange entgegenstehen. Die Kon-
zerngesellschaften DB Immobilien
und DB Jobservice arbeiten bereits

mit Bürokonzepten, die davon ausge-
hen, dass immer ein Teil der Beleg-
schaft von zu Hause oder beim Kun-
den arbeitet.
Bei Bosch ist mobiles Arbeiten
grundsätzlich möglich, sofern es mit
der Arbeitsaufgabe vereinbar ist.
Grundlage ist eine Konzernbetriebs-
vereinbarung von 2014. Die Bosch-
Mitarbeiter in Deutschland nutzen
mobiles Arbeiten durchschnittlich an
einem Tag pro Woche.
Doch noch ist das Homeoffice eher
die Ausnahme als die Regel. Laut Sta-
tistischem Bundesamt arbeiteten
2017 hierzulande elf Prozent der Be-
schäftigten gewöhnlich oder zumin-
dest manchmal von zu Hause. In der
EU liegt die Quote bei knapp 15 Pro-
zent, in Dänemark, Schweden, Lu-
xemburg oder den Niederlanden
werden Werte zwischen gut 31 und

knapp 38 Prozent erreicht. Nach ei-
ner Studie des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung (DIW) wäre
hierzulande bei 40 Prozent aller Ar-
beitsplätze mobile Arbeit im Homeof-
fice theoretisch möglich.
Arbeitsminister Hubertus Heil
(SPD) arbeitet an einem Gesetz, da-
mit künftig mehr Arbeitnehmer in
den Genuss der Heimarbeit kommen
können. Sein Staatssekretär Björn
Böhning wird dazu demnächst Ge-
spräche mit dem niederländischen
Arbeitsminister führen. Im Nachbar-
land, das die höchste Homeoffice-
Quote der EU hat, können Arbeitneh-
mer schon seit 2016 Heimarbeit be-
antragen. Der Arbeitgeber hat aber
nur die Pflicht, den Wunsch zu erör-
tern und kann ihm widersprechen,
selbst wenn keine betrieblichen
Gründe entgegenstehen.

Wie ein Gesetz in Deutschland aus-
sehen könnte, haben die Grünen nun
in einem Antrag skizziert, der nach
der Sommerpause in den Bundestag
eingebracht werden soll. Kernpunk-
te: Homeoffice und mobiles Arbeiten
müssten für die Beschäftigten freiwil-
lig sein und mit einem Rückkehr-
recht an den festen Arbeitsplatz ver-
bunden sein. Arbeitgeber können
Heimarbeit aus betrieblichen Grün-
den ablehnen.
Und: Homeoffice sollte immer nur
alternierend als Ergänzung zum fes-
ten Arbeitsplatz stattfinden, damit
Beschäftigte weiter in den normalen
Arbeitsablauf eingebunden sind und
Kontakt zu den Kollegen halten. „Nur
so werden Beschäftigte nicht unsicht-
bar, beispielsweise wenn es um Auf-
stiegs- und Weiterbildungsmöglich-
keiten geht“, sagt die Grünen-Spre-
cherin für Arbeitnehmerrechte,
Beate Müller-Gemmeke. Auch bei So-
fatutor legt man Wert auf die soziale
Komponente der Zusammenarbeit
und persönliche Absprachen im
Team. In Einzelfällen macht es die
Firma Mitarbeitern aber auch mög-
lich, für ein paar Monate aus Thai-
land oder Spanien zu arbeiten.
Von solchen Freiheiten werden die
meisten Beschäftigten wohl nur träu-
men können, selbst wenn demnächst
ein Recht auf Homeoffice kommt. Bis
dahin sind aber noch viele Fragen zu
klären, etwa wie der Daten- und Ar-
beitsschutz sowie die Erreichbarkeit
gewährleistet werden können und
wie sich die Arbeitszeit am heimi-
schen Rechner korrekt erfassen lässt.
Noch in diesem Jahr will Arbeitsmi-
nister Heil Antworten liefern.

Arbeitsmarkt


Risiko Homeoffice


Arbeitsminister Hubertus Heil plant einen Rechtsanspruch auf Heimarbeit.


Die Grünen wollen sicherstellen, dass mobile Arbeitsplätze keine Karrieren ruinieren.


Gesamtwirtschaft Der langjährige Beschäfti-
gungsboom in Deutschland nähert sich seinem
Ende. Das Ifo-Beschäftigungsbarometer, das die
Münchener Konjunkturforscher monatlich exklu-
siv für das Handelsblatt berechnen, ist im
August weiter auf 98,1 Punkte gefallen, nach
99,5 Zählern im Juli. „Die Unternehmen treten
bei Neueinstellungen vermehrt auf die Bremse“,
sagt Ifo-Experte Klaus Wohlrabe. Das Barome-
ter basiert auf den Beschäftigungsabsichten
von rund 9 000 Unternehmen.

Industrie Die Metall- und Elektroindustrie hat
seit 2010 unter dem Strich knapp 615 000 neue
Arbeitsplätze geschaffen. Doch im zweiten
Quartal haben die Unternehmen der Schlüssel-

branche erstmals seit neun Jahren die Zahl der
Beschäftigten saisonbereinigt reduziert. Laut Ifo
sind im gesamten verarbeitenden Gewerbe die
Unternehmen, die eher Personal ab- als auf-
bauen wollen, schon seit März in der Mehrzahl.
Weitere Neueinstellungen plant das Bauge-
werbe.

Dienstleister Für sie ist das Ifo-Barometer von
13,3 auf 8,1 Punkte gefallen – so stark wie zuletzt
im Dezember 2007. Hier schlage sich die Rezes-
sion in der Industrie mit Verzögerung nieder,
sagt Wohlrabe: „Die Dienstleister fallen als
Beschäftigungsmotor nach und nach aus.“ Im
Handel bleibt das Beschäftigungsniveau weiter
konstant. fsp

Beschäftigung Ifo-Barometer sinkt weiter


Grünen-Expertin
Müller-Gemmeke:
Klare Regeln
für Homeoffice und
mobiles Arbeiten.

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 28. AUGUST 2019, NR. 165

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