Handelsblatt - 28.09.2019

(Axel Boer) #1
Mehr Abiturienten – weniger Hauptschüler
Schulabschluss der Lehrlinge mit neuem Ausbildungsvertrag

Absolventen allgemeinbildender Schulen mit allgemeiner Hochschulreife
2016 im Vergleich zu 2009, Anteil an allen Schulabgängern in Prozent

Studien-
berechtigung

20,4 29,2 %


43, 0

33,

3,

Realschul-
abschluss
42,3 %

Hauptschul-
abschluss

24,7 %


Ohne Haupt-
3,7 % schulabschluss

HANDELSBLATT

1) Inkl. Fachhochschulreife; 2) Doppelter Abiturjahrgang 2016

2009 2011 2013 2015 2017


Quelle: BIBB, Nationaler Bildungsbericht

100

80

60

40

20

0

Hamburg


Schleswig-Holstein


Berlin


Bremen


Nordrhein-Westf.


Brandenburg


Rheinland-Pfalz


Mecklenburg-Vorp.


Deutschland


Thüringen


Saarland


Niedersachsen


Hessen


Sachsen


Baden-Württemberg


Sachsen-Anhalt


Bayern


Bundesland Mit allgem. Hochschulreife


Veränd. zu 2009
in Prozentpunkten

55,


45,


45,


40,


39,


37,


36,


35,


34,


34,


34,


32,


32,


31,


29,


29,


27,


% % % % % % % % % % % % % % % % %
 21 , 5

 22 ,


 14 , 3


11,


 9 , 3


9, 6


 1 3,


11,


9, 1


6,


9,


 8 ,


 4 , 8


 5 ,


7, 2


 3 ,


 7 , 9


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


PP


Auszubildende im Betrieb:
Mehr Abiturienten sollen mit Praxisbezug starten.

Rupert Oberhäuser/imago, Britta Pedersen/dpa

Barbara Gillmann Berlin


D


er 22-jährige Julian hat
getan, was sich Wirt-
schaft und Politik wün-
schen: Er begann nach
dem Gymnasium zu-
nächst eine duale Ausbildung als
Elektroniker für Betriebstechnik. Der
Lehrherr, ein großer schwäbischer
Mittelständler, hat den Abiturienten
gern genommen. „Ich wollte erst mal
die Praxis kennen lernen“, sagt Julian
heute. Er habe ja nach der Schule
„keine Vorstellung vom Arbeitsleben
gehabt, davon, was ich wirklich will“


  • und wollte so keine Entscheidung
    für ein Studium treffen.
    Unter Lehrlingen gibt es immer
    mehr Menschen wie Julian, der Anteil
    der Azubis mit Hochschulzugangsbe-
    rechtigung ist deutlich gestiegen.
    2017 hatten fast 30 Prozent der neu-
    en Lehrlinge zuvor eine Studienbe-
    rechtigung erworben. 2009 waren es
    nur gut 20 Prozent, zeigt der Berufs-
    bildungsbericht 2019 (siehe Grafik).
    Diesen Trend möchte die Allianz
    für Aus- und Weiterbildung von Poli-
    tik, Wirtschaft und Gewerkschaften
    nach Kräften weiter fördern – und
    auch insgesamt wieder mehr Nach-
    wuchs für die Berufsausbildung ge-
    winnen. „Wir müssen gerade an
    Gymnasien klarmachen, dass eine
    Berufsausbildung eine attraktive Al-
    ternative ist“, sagte Bildungsministe-
    rin Anja Karliczek (CDU) bei der Prä-
    sentation des neuen Arbeitspro-
    gramms der Allianz. Sie verweist auf
    die Schweiz, wo „80 Prozent aller
    Schulabgänger zunächst einmal eine
    Lehre machen“. Und „für die Volks-
    wirtschaft ist ein Meister mindestens
    so wichtig wie ein Master“, meint Ar-
    beitsminister Hubertus Heil (SPD).
    Daher fordert die Allianz schon
    lange, dass die Länder die Berufsori-
    entierung auch in den Gymnasien in-
    tensivieren. Künftig soll sie „an allen
    Schularten und früher“ stattfinden.
    Die Kultusminister haben bereits
    2017 gelobt, das zu organisieren.


Immer mehr Abiturienten


Doch noch sei man dabei, das in die
Praxis umzusetzen, sagte deren Präsi-
dent, Hessens Schulminister Alexan-
der Lorz (CDU). Er selbst habe jüngst
ein Abkommen mit der Bundesagen-
tur für Arbeit geschlossen, wonach
diese künftig 100 Berufsberater zu-
sätzlich in die hessischen Schulen
schickt. Vor allem an den Gymnasien
wird das Angebot ausgeweitet und
startet schon in der 9. Klasse. Potenzi-
al ist durchaus vorhanden, denn im-
mer mehr Schüler schaffen es bis zum
Abitur. Von 2006 bis 2016 stieg der
Anteil der Schulabgänger mit Abitur
von 30 auf 41 Prozent, heißt es im na-
tionalen Bildungsbericht – eine Zu-
nahme von 33 Prozent in zehn Jahren.
Doch deren Interesse an einer Be-
rufsausbildung ist deutlich gesunken.
Auch wenn der wachsende Anteil der
Abiturienten unter den Neu-Azubis
einen anderen Eindruck suggeriert –
gemessen an der Gesamtzahl der Abi-
turienten wählen immer weniger den
direkten Weg in die Praxis. Und das,
obwohl ihre Chancen auf eine Lehre
selten so gut waren. Nach den Daten

des Deutschen Zentrums für Hoch-
schul- und Wissenschaftsforschung
(DZHW), das regelmäßig Abiturien-
ten befragt, hat sich sogar „noch nie
ein geringerer Anteil für eine Berufs-
ausbildung entschieden“ wie im zu-
letzt befragten Jahrgang 2015. Von
diesem gab ein halbes Jahr nach dem
Abitur nur jeder Fünfte an, bereits ei-
ne Lehre begonnen zu haben oder
das fest vorzuhaben. Beim Jahrgang
2006 war es noch gut ein Viertel,
seither ging das Interesse zurück.
Es sind vor allem Frauen, Schulab-
gänger aus Nicht-Akademiker-Eltern-
häusern und Abgänger mit Fachhoch-
schulreife, die ein Studium meiden
und stattdessen zu einer Ausbildung
tendieren. Ein wichtiger Grund für
die Entscheidung pro Lehre ist das
Geld. Rund zwei Drittel sagen, dass
sie möglichst schon während der Aus-
bildung finanziell unabhängig sein
möchten, zeigten weitere DZHW-Un-
tersuchungen. Daneben wollen sie
möglichst früh ins Erwerbsleben ein-
steigen und gehen davon aus, dass ei-
ne Lehre nicht so anspruchsvoll ist
wie ein Studium, beziehungsweise
trauen sich ein Studium nicht zu.

Abbrecher im Fokus
Bei ihren Bemühungen, mehr Abituri-
enten direkt in die Praxis zu holen,
hoffen die Allianzpartner vorwiegend
auf die Klientel, die das Studium oh-
nehin nicht beendet. „Dass fast jeder
dritte Bachelorstudent sein Studium
abbricht, dürfen wir nicht hinneh-
men“, sagt der Vizepräsident der Ar-
beitgeberverbände, Gerhard Braun.
„Dieser Missstand unterstreicht den
Nachholbedarf für praxisnahe Berufs-
orientierung, insbesondere auch an je-
dem Gymnasium.“ Wenn es nicht ge-
lingt, sie vor dem Eintritt in Uni oder
Fachhochschule für die duale Ausbil-
dung zu gewinnen, will die Allianz
auch „Studienzweiflern“ und Studien-
abbrechern den Weg in eine Lehre eb-
nen: Mit mehr Beratung vor Ort und
besseren Möglichkeiten, direkt in die
Aufstiegsfortbildung, also etwa zum
Techniker oder Meister, einzusteigen.
Das Abitur verbreitet sich zwar
bundesweit immer weiter, ist aber
längst nicht flächendeckend zum Mas-
senabschluss geworden: Zwar sind die
Anteile überall kräftig gestiegen, doch
die Unterschiede sind von Bundes-
land zu Bundesland enorm (siehe
Grafik). Die meisten Abiturienten gibt
es in Hamburg: Dort machten 2016 56
Prozent aller Schulabgänger Abitur –
in Bayern waren es nur 28 Prozent.
Julian hat die Lehre mittlerweile
beendet. Im Abi kam er gerade mal
auf eine 3,5 – die Ausbildung schloss
er mit Auszeichnung ab. Ab Herbst
wird er nun Mechatronik studieren.
Natürlich hätte er auch einen Techni-
ker machen können, aber „studieren
stelle ich mir angenehmer vor“, lacht
er. Außerdem wolle er „richtig in die
Theorie eintauchen“. Sein Lehrherr
war „sauer, dass ich nicht bleibe,
aber für mich persönlich war von An-
fang an klar, dass ich studiere“. Da-
nach würde er gerne solche Maschi-
nen, die er in der Ausbildung gewar-
tet und repariert hat, selbst bauen –
und sich „am liebsten im Sonderma-
schinenbau selbstständig machen“.

Berufsausbildung


Abiturienten in die Lehre


Heute hat fast jeder dritte Lehrling Abitur. Doch Politik und Wirtschaft wollen noch


mehr Gymnasiasten vom Wert einer Ausbildung überzeugen.


In der


Schweiz


machen


80 Prozent


der Schul -


abgänger


erst einmal


eine


Ausbildung.


Anja Karliczek
Bundesbildungs -
ministerin

Wirtschaft & Bildung
MITTWOCH, 28. AUGUST 2019, NR. 165

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