Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
von helmut mauró

W


as wäre Salzburg ohne die inter-
nationalen Sommerfestspiele,
das nachtaktiv lärmende Party-
volk, die winterliche Mozartwoche, die
fröhlichen Pfingstfestspiele, die ganzjäh-
rige Getreidegassenprozession und nicht
zuletzt die Osterfestspiele? Damit auch
die öffentlichkeitswirksam wahrgenom-
men werden, wird nicht nur das Festspiel-
haus, sondern auch die Medienklaviatur
bespielt. Am besten in nachrichtenar-
men Ferienzeiten: Fast alle haben sich
jüngst mit dem Problem befasst, ob man
in der Alpenprovinz 2022 Wagners „Lo-
hengrin“ spielen soll oder nicht.
Das wirkt wunderbar weltfremd, aber
in Salzburg reicht das für großes Thea-
ter. Wie immer geht es um die Frage, wer
in dieser Stadt das Sagen hat. Deshalb tre-
ten Politiker wie der Landeshauptmann
Wilfried Haslauer auf den Plan, dazu
aber auch Kulturstrippenzieher aus der
näheren und ferneren Umgebung. Dazwi-
schen agiert der Dirigent Christian Thie-
lemann. Der hat zwar mit seinen Dresd-
ner Philharmonikern das künstlerische
Platzhirschrecht, andererseits schiebt
sich über ihn langsam der Schatten des
ab 2022 regierenden Festspielintendan-
ten Nikolaus Bachler, derzeit Chef der
Bayerischen Staatsoper.
Bachler ist ein kluger, aber hartnäcki-
ger Entscheider, Thielemann ein unnach-
giebiger Kämpfer in eigener Sache, der
es liebt, sich in Machtkämpfen medien-
wirksam zu bewähren. Das hat er bei sei-
nem Abgang in München gezeigt, bei der
Abwehr eines ihm unliebsamen Regis-
seurs in Dresden, und auch bei den Salz-
burger Osterfestspielen wirft er sich
schon mal in Position.
Ein Brief drang an die Öffentlichkeit,
den Thielemann an den Aufsichtsrat der
Festspiele schrieb. Er, Thielemann, habe
„unmissverständlich deutlich gemacht“,
dass er „eine Zusammenarbeit mit Herrn
Bachler“ ausschließe. Thielemann pocht
auf seine Berufung als künstlerischer Lei-
ter, dem alle Programmentscheidungen
zustünden. Bachler sieht dafür keine ver-
tragliche Grundlage. Mit ihm werde es
keinen „Lohengrin“ geben, Thielemann
habe ihn schon zu oft geboten.
Die Dresdner Staatskapelle sagt, ihr
Vertrag sei eine „direkt mit den Osterfest-
spielen getroffene Vereinbarung“, nach
der alle künstlerischen und planerischen
Fragen vom Festspiel-Intendanten, dem
künstlerischen Leiter und der Geschäfts-
führung der Staatskapelle gemeinsam
entschieden werden.
Nach Auskunft der Festspiele besteht
der Vertrag dagegen zwischen dem Frei-
staat Sachsen und der Osterfestspiel-
GmbH und ist an den Chefdirigentenver-
trag von Thielemann gebunden. So oder
so: Der „Lohengrin“ ist ja nun erst für
2022 geplant, der Vertrag dagegen läuft
bereits 2020 erst einmal aus. Ob er ver-
längert wird? Thielemann und seine
Dresdner Philharmoniker sollten sich
nicht für unersetzbar halten. Mit diesem
Hochmut scheiterten schon ihre Vorgän-
ger aus Berlin – und machten den Weg
frei für die Dresdner.


Helmut Mauró schätzt
die kühlenBadeseen rund
um Salzburg.

von peter richter

H


immel, war dieser Sommer
groß und heiß und lang – und
vor allem: voller Balkone.
Man konnte, nur mal so zum
Beispiel, nach Südfrankreich
fahren, dann sah man da in Montpellier
auf einmal einen Turm, der aus gar nichts
anderem mehr zu bestehen schien. Wir
kommen gleich darauf zurück.
Denn man konnte natürlich auch sehr
gut zu Hause bleiben in diesem großen,
heißen, langen Sommer. Manche Leute
nennen das immer noch „Urlaub auf Balko-
nien“. Das mag zwar eine etwas altbackene
Formulierung sein, aber ganz hübsch ist
sie eigentlich trotzdem, und wenn die Ame-
rikaner zu demselben Sachverhalt „stayca-
tion“ sagen, muss man sich für die Humo-
rigkeit im Deutschen auch wieder nicht zu
sehr genieren. Es ist außerdem in etlicher
Hinsicht ganz aufschlussreich, wenn von
Balkonien die Rede ist. Denn die Frage ist

dann: Schwingt da immer noch der früher
oft übliche Ton sozialkritischer Anklage
mit, weil hier jemand offenbar nicht ein-
mal die Mittel hatte, wenigstens in solche
sogenannten Urlaubsparadiese zu fliegen,
wo wiederum „Balconing“ in Mode ist?
Denn das ist bekanntlich der Fachbegriff
für den Versuch betrunkener Briten,
nachts direkt aus dem Hotelzimmer in den
Pool zu springen, den sie leider nicht im-
mer treffen. Eher scheint es doch heute so,
als gelte dieses heimische Balkonien im
Zeichen von ökologischer Flugscham
schlicht als der beste Ort überhaupt, um
seinen Urlaub zu verbringen. Vorausset-
zung dafür ist natürlich nur eins: das Vor-
handensein von Balkonen. Oder von Bal-
kons?
Das ist nämlich auch so eine Sache von
überraschender Kulturrelevanz: Da, wo
der Begriff Balkonien, nach allem, was
man weiß, erfunden wurde, nämlich zwi-
schen den Mietskasernen von Berlin, da
wird man das Wort ansonsten nie mit lan-
gem O hören. Außer bei Zugezogenen aus
Süddeutschland, Österreich und der
Schweiz. Karten zur Sprachverteilung zei-
gen eindrucksvoll: Balkohne gibt es nur
bis Höhe Nürnberg, nördlich davon, wo die
Welt ja auch sonst in vielerlei Hinsicht eine
andere ist, sitzt man auf dem Balkong. Der
Sprachgebrauch nördlich der Main-Linie
verrät auf diese Weise bis heute, dass das
Mutterland des Balkons immer schon
Frankreich hieß.
Spitzfindige Etymologen können hier
zwar einwenden, dass auch der französi-
sche Balkon nur vom italienischen balco-
ne abstamme und der wiederum von dem
germanischen Wortstamm, der auch in un-
serem Balken steckt. Klassische Archäolo-
gen können auf die antiken Balkons in
Pompeji hinweisen, und Araber auf die
holzgeschnitzten Balkonkäfige, die sich
aus dem Nahen Osten über die iberischen
Weltreiche bis nach Südamerika verbrei-
tet haben. Aber das eigentliche Balkonien
der Neuzeit bleibt trotzdem Frankreich.
Italienische Balkone sind im Vergleich
auch viel zu zweifelhafte Referenzen, näm-
lich entweder romantische Fälschungen
wie der erst für den Tourismus an irgendei-
nem Haus angebrachte Romeo-und-Julia-
Balkon in Verona, oder politische Propa-
gandabühnen, die Mussolini über das

Land verteilen ließ, was es immerhin be-
greiflich macht, wenn die Gegner des Fa-
schismus damals dort „Fort mit den Balko-
nen!“ forderten. Denn es liegt nun einmal
in der Struktur dieser Auskragungen, dass
sie so etwas Monarchisches und Abgehobe-
nes haben, gleichzeitig Bühne und Loge
sind. Deswegen findet man sie schließlich
schon ganz früh auch im Theater.
An französischen Fassaden aber sind
die Balkone erst demokratisiert worden.
Denn Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
keit ließen sich gewissermaßen auch in
umlaufende Gesimse mit Geländern aus
Eisen gießen. Als im Paris des Baron
Haussmann die ersten großen Eckhäuser
mit solchen umlaufenden Balkonbändern
auftauchten, war ein politischer Denker
wie Quatremère de Quincy jedenfalls völ-
lig zu Recht aufgescheucht, denn das warf
die ganze hierarchische Ästhetik der alten
Architekturordnungen über den Haufen.
Die Dimensionen des Themas sind also
größer als vermutlich so denkt, wer seinen
Balkon nur zum Abstellen von Bierkästen
und zum Rauchen benutzt.
Dies alles und noch viel mehr fließt nun
nämlich seit diesem Sommer im südfran-
zösischen Montpellier zusammen, wo aus
„Balkonen für alle“ ein radikales „Balkone
sind alles“ gemacht wurde.
Der japanische Architekt Sou Fujimoto
hatte sich dafür mit Kollegen von OXO Ar-
chitectes aus Montreuil, Nicolas Laisné,
ebenfalls Montreuil, und Dimitri Roussel
aus Paris zusammengetan. Die Aufgabe

war, einen extravaganten Wohnturm für
einen Randbezirk von Montpellier mit
dem schönen Namen Richter zu entwi-
ckeln. Denn extravagante Architektur hat
eine lange Tradition in der Stadt, man
spricht ganz offiziell von „folies“, Verrückt-
heiten. Dazu gehörte in gewisser Weise di-
rekt nebenan auch die pompöse Sozialwoh-
nungssiedlung, die der spanische Postmo-
dernist Ricardo Bofill Ende der Siebziger-
jahre in aufgepusteten Formen der grie-
chisch-römischen Antike errichtet hatte.

Dort gab es nun zwar viele bewohnbare
Säulen und Architrave, aber kaum Balko-
ne, was der ebenfalls sehr ausgeprägten
Tradition Montpelliers, so viel wie mög-
lich im Freien zu leben, schon weniger ent-
sprach. Fujimoto und seine Kollegen ha-
ben deshalb auf der anderen Seite des Flus-
ses das genaue Gegenteil getan. Ihr Haus
erinnert im Ganzen an nichts, das man aus
der Architektur kennen würde. Dass es
stattdessen vage an einen Baum mit üppi-
gem Astwuchs erinnert, hat ihm den Na-
men „L’Arbre Blanc“ eingetragen, der wei-
ße Baum. Denn es gibt tatsächlich hinter
diesen Ästen noch so etwas wie einen
Stamm. Hinter den Balkonen befinden
sich auf 17 Etagen verteilt 113 Wohnungen
unterschiedlicher Größe. Aber alle haben

einen oder mehrere Balkone, die zum Teil
über sieben Meter weit ins Freie ragen,
manchmal überdeckt von einer luftigen
Pergola, manchmal über eine äußere Trep-
pe mit anderen Balkons verbunden, die
dann zur gleichen Doppelstock-Wohnung
gehören. Diese Außenflächen können bis
zu 35 Quadratmeter groß sein, größer als
so manche Wohnung in Paris. Und sie sind
unbedingt als Wohnraum gedacht. Die Ar-
chitekten sagen, dass sie die Bewohner
zum „Draußenwohnen“ ermutigen woll-
ten. Und zu einer dadurch zwangsläufig ge-
steigerten Kommunikation mit ihren
Nachbarn.
Diesen Sommer sah es noch recht kahl
aus, aber vermutlich wird schon im nächs-
ten aus dem weißen Baum ein grüner ge-
worden sein. Denn alles, was Leute auf Bal-
kons so tun – und das kann ja vom Wäsche-
trocknen über die Haustierhaltung bis
zum Schlaf unter freiem Himmel eine gan-
ze Menge sein – schreit im Prinzip nach ei-
nem Vorhang aus Pflanzen, im eigenen
wie auch im Interesse der anderen.
Das läge auch im Geist der Zeit. Bei Paris
hat das französische Büro Lacaton &Vassal
einen ganzen Sozialwohnungsblock Stock
für Stock mit Balkonbändern umgürtet.
Das verschaffte nicht nur den Bewohnern
mehr Raum und mehr Lebensqualität, es
sorgte auch für mehr Luftzug im Sommer
und für Dämmung im Winter. Die deut-
sche Architektin Almut Ernst wiederum
hat an der TU Braunschweig eine ganze
Weile lang den Stand der Dinge auf dem

Gebiet der begrünten Architektur zusam-
mengetragen. Das Buch, das nach all den
Workshops und Symposien nun herausge-
kommen ist, trägt den Titel „Hortitecture“,
was vielleicht wirklich ein ganz guter Be-
griff ist für den Hybrid aus Bau und Gar-
ten, der nach Ansicht etlicher Planer in Zu-
kunft auch helfen soll, die CO2-Bilanz unse-
rer Städte mit den Mitteln der Natur wie-
der in den Griff zu kriegen. Diese Zukunft
verspricht Häuser, aus deren Balkons
manchmal kleine Regenwälder wachsen.

Das wird den Wahnsinn, der gerade am
Amazonas passiert, nicht aufwiegen, aber
es wäre ein Anfang. Und das wäre auch
mal ein befreienderes Bild von der Zu-
kunft als die verbiesterten Hightech-Fas-
saden, hinter denen es dem Menschen
nicht mehr erlaubt ist, selbständig ein
Fenster zu öffnen, wenn ihm danach ist.
Wenn jetzt also überall immer nur dis-
kutiert wird, ob die Mieten nun einen De-
ckel brauchen oder die Städte mehr
schnell gebaute Wohnungen, dann möch-
ten wir an dieser Stelle aus einer ganzen
Menge von Gründen noch folgende Forde-
rung hinzufügen: Mehr Balkone bitte!
Mehr Pflanzen drauf!
Und mehr Urlaub wär natürlich auch
schön.

DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 HF2 17


FEUILLETON

SALZBURGER OSTERFESTSPIELE


Wunderbar


weltfremd


In Montpellier können diese
Außenflächenbis zu
35 Quadratmeter groß sein

Gott in Balkonien


Nichtnur ein spektakulärer Neubau in Südfrankreich zeigt,


dass jede Wohnung dringend ein angebautes Draußen braucht


Ein befreienderes Bild von der
Zukunft als die verbiesterten
Hightech-Fassaden

Balkohne gibt es nur bis Höhe
Nürnberg, nördlich davon
sitzt man auf dem Balkong

„J’accuse“, der neuen Film
von RomanPolański, über die
Dreyfus-Affäre  Seite 19

Filmfest Venedig


Sou Fukimotos Wohnturm in Montpellier erinnert an einen Baum mit üppigem Astwuchs, was ihm den Namen „L’Arbre Blanc“ eingetragen hat. FOTO: PASCALGUYOT/AFP

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MIT ZWEI FLASCHEN AMSELFELDER


AUFDEM 10-METER-BRETT


Lieben. Sterben. Lachen. Durchdrehen. Rumrennen.


Erwachsenwerden –Matthias Brandts erster Roman


»Jung zu sein, bleibt immer gleich –


so schmerzhaft, so unverständlich und so


schön, weil alles zum ersten Mal passiert.


›Blackbird‹ ist ein wundervoller Roman.«


EvaMenasse


©Stephan Storp 2019

Verf
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