Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
Dies ist kein Roman. Es ist das wirkliche
Tagebuchdes wirklichen Frank Witzel, in
dem er von seinen wirklichen Panikatta-
cken berichtet. Man muss das dazusa-
gen, nicht nur, weil es so ungewöhnlich
ist, dass ein männlicher Schriftsteller so
offen von seinen den Alltag bestimmen-
den Ängsten spricht, sondern weil die ei-
gentliche Crux für Witzel weniger in den
Panikattacken selbst liegt als in dem Ge-
fühl, ein „uneigentliches“ Leben zu füh-
ren, eine, so der Titel dieses Tagebuchs,
„Uneigentliche Verzweiflung“ zu verspü-
ren.
Hat man in „Bluemoon Baby“ oder
„Vondenloh“, zwei von Witzels frühen Ro-
manen, das Gefühl, hier sei vor allem ein
großer Humorist am Werk, so ließ Wit-
zels Buchpreis-Erfolg von 2015 vermu-
ten, der Autor teile manch manisch-de-
pressiven Zug mit seinem Helden, eben je-
nem Teenager, der da im Jahr 1969 die
Rote Armee Fraktion erfand. Das Tage-
buch mag nun eine Art Bestätigung die-
ser Vermutung sein.
Überraschend ist dabei Witzels Be-
kenntnis, nie zuvor ein Tagebuch ge-
schrieben zu haben, gilt Tagebuchschrei-
ben doch als gängiges, wenn auch nicht
unbedingt hilfreiches Mittel, sich in den
eigenen Lebenskrisen zurechtzufinden.
Und tatsächlich ist „Uneigentliche Ver-
zweiflung“, dessen erster Eintrag auf den
23.09.2018 datiert, aus einer Krisensitua-
tion hervorgegangen, aus einer doppel-
ten gar: Einerseits handelt es sich um ei-
ne Liebeskrise zu einer gewissen O, ande-
rerseits um eine Schreibkrise, die mit
dem unmittelbar zurückliegenden Tod
des Vaters und einem damit verbunde-
nen Schreibprojekt zu tun hat. Die Frage,
die sich für Witzel stellte, lautet: Wie
schreibt man biografisch?

Das Tagebuch ist nun eine ganz eigene
Antwort auf diese Frage, denn zweifellos
stellt es einen ganz und gar autobiografi-
schen Text dar, einen Text allerdings, der
die physische Realität meidet und sich
ganz der Metaphysik widmet. An keiner
Stelle beschreibt Witzel seine äußere Um-
gebung, ja meist weiß der Leser nicht ein-
mal, wo sich der Autor befindet. Zu Hau-
se? Auf Lesereise? In einem Café? Eine
Ausnahme allerdings gibt es: den mitun-
ter täglichen Schwimmbadbesuch. Denn
wenn es sich auch um ein „Metaphysi-
sches Tagebuch“ handelt, so wird dieses
Buch doch von einem Körper geschrie-
ben. Inwiefern der Körper und das Den-
ken zusammenwirken, ist eine der im-
mer wiederkehrenden Fragen auf seinen
Seiten.
Inspiration für dieses ungewöhnliche,
gerade einmal zwei Monate umfassende
Tagebuchprojekt ist das 1968 erschiene-
ne „Journal métaphysique“ des französi-
schen Philosophen Gabriel Marcel. Aber
auch Georges Bataille, Sören Kierke-
gaard und Simone Weil tauchen bei Wit-
zel immer wieder auf, begleiten ihn beim
Nachdenken über Angst und Furcht,
Hochmut und Demut, die Liebe und das
Schreiben, vor allem aber: beim Nachden-
ken über das Denken selbst.
Das eigene Denken noch einmal neu
zu denken, dies ist wohl das eigentliche
Movens von „Uneigentliche Verzweif-
lung“: Noch einmal auf den Prüfstand
stellen, was man bisher gedacht hat, zu
versuchen, den Mechanismen des eige-
nen Denkens auf die Spur zu kommen:
„Mein Denken ist so sehr daran gewöhnt,
eine Gegenbewegung zu meinem Empfin-
den herzustellen, dass ich mich heute
Morgen nach einem erneuten angstlosen
Aufwachen beinahe unwillkürlich in eine
Angst, genauer natürlich eine Furcht, hin-
eingedacht hätte.“
Wenn sich aus der Denkbewegung die-
ses Tagebuchs so etwas wie eine Erkennt-
nis für den Leser ableiten ließe, dann die-
se: Dass man dem eigenen Denken nicht
entkommt, dass man sich selbst nicht ent-
kommt. Hat man Panikattacken, so las-
sen sich diese nicht auf einen Grund zu-
rückführen, der sich mal eben ausmer-
zen ließe. Zu leicht ist man nämlich ver-
lockt, einen solchen Grund zu externali-
sieren. Am Ende, so ließe sich vorstellen,
steht man auf der Straße und ruft „Mer-
kel muss weg“, weil man morgens Panik-
attacken hat.
„Das Paradies, das sind die anderen“,
schreibt Witzel, und es ist diese Fremd-
heitserfahrung, das Gefühl kein eigentli-
ches Leben zu führen und diese Eigent-
lichkeit, indem man etwa ein Haus baut,
immer wieder zu manifestieren, mit der
und dem Witzel in diesem Buch umzuge-
hen sucht. Wenn er auch selbst sich im-
mer wieder des zaghaften „Rumgeden-
kens“ und der metaphysischen „Selbst-
quälerei“ zeiht, steht es doch beispielhaft
für den Versuch, dieses vermaledeite Le-
ben trotz allem zu leben.
Dass dem Autor dabei en passant eine
Fülle an wunderbaren Aphorismen unter-
läuft, ist ihm selbst wahrscheinlich herz-
lich egal: „Wobei das Biographische ein
Irrweg ist, wie man an den überall gepos-
teten Fotos sieht, die hilflos zu fragen
scheinen: Bin ich mein Essen? Bin ich
mein Urlaubsort? Bin ich mein Partner?
Bin ich mein Kind? Bin ich noch am Le-
ben?“ Wer sich solcherart denkend der
Gegenwart stellt, der kann sich dessen si-
cher sein. tobias lehmkuhl

Frank Witzel: Uneigentliche Verzweiflung. Meta-
physisches Tagebuch I. Matthes und Seitz, Berlin
2019 .294 Seiten, 22 Euro.

von helmut böttiger

D


avid Wagner hat sich langsam
vorgearbeitet. Er hat als Spezi-
alist für altbundesdeutsche
Detailwahrnehmungen ange-
fangen und ist dieser Spezia-
list auch geblieben, aber der Blick hat sich
dabei insgeheim immer mehr erweitert.
Bekannt wurde Wagner durch Typologisie-
rungen, etwa von Pelikan- und Geha-Fül-
ler-Benutzern, die eher verspielt und
harmlos waren. Dann wagte er sich irgend-
wann auch bis in die Feinkartografie eines
Supermarkts vor, in dem die Abgründe
des Gewöhnlichen kenntlich wurden. Mit
der Zeit gelang es ihm, durch kleine alltags-
soziologische Beobachtungen so etwas
wie ein Bild der gegenwärtigen Gesell-
schaft zu erstellen, ohne jemals begrifflich-
abstrakt und theoretisch zu werden. In sei-
nem sehr erfolgreichen Buch „Leben“ ver-
suchte er 2013 zum ersten Mal, mit diesem
allgemein oft unterschätzten, mikrosko-
pisch vorgehenden Stil ein großes existen-
zielles Thema zu verhandeln: seine lebens-
bedrohliche Krankheit, die mithilfe einer
Organspende überwunden werden konnte
und deren Dimensionen er ohne patheti-
sche Gesten eindringlich vermittelte.


„Der vergessliche Riese“ schließt nun
daran an. Mit minimalistisch anmutenden
Mitteln beschreibt Wagner die allmählich
voranschreitende Demenzerkrankung sei-
nes Vaters. Der Autor unterläuft damit al-
les, was bei einem derart persönlichen Su-
jet droht. Das bedrängende Thema der De-
menz wurde mittlerweile öfter literarisch
bearbeitet, und nicht immer sind die Auto-
ren dabei der Gefahr entgangen, die sich
aufdrängenden emotionalen Begleitum-
stände in naheliegende literarische Effek-
te umzumünzen, das Thema also auf zwie-
spältige Weise zu benutzen. Davon ist Da-
vid Wagner weit entfernt. Er spricht fast
nie direkt. Aber er registriert minutiös das
Geschehen. Durch die Art und Weise, wie
der Autor und Ich-Erzähler dabei vorgeht,
durch die hochreflektierte, vieles weglas-
sende und geradezu musikalisch wirken-
de Form entfernt er sich von all den Fallen,
die bei autobiografischem Schreiben
sonst zwangsläufig auftauchen.
Das Buch besteht in großen Teilen aus
Dialogen. Über einen Zeitraum von mehre-
ren Jahren hinweg schildert es die Besu-
che des Sohns bei dem Vater, und zwar da-
durch, dass im Wesentlichen direkt wie-
dergegeben wird, was und wie die beiden
dabei sprechen. Das ist durchaus ein ris-
kantes Unterfangen, so etwas kann sich
schnell erschöpfen und belanglos werden.
Doch der Autor komponiert diese Dialoge
so unaufdringlich, dass durch sie hin-
durch immer mehr von einem verborge-
nen, verschwiegenen Geschehen sichtbar
wird. Das beginnt bereits mit dem ersten


Satz: „Was machst du denn hier, Freund?“
Das Wort „Freund“ eröffnet einen Bogen,
der sich mit dem letzten Satz des Buches
schließen wird und den der Leser erst
dann in seiner Bedeutung erkennt. Es gibt
mehrere solcher Sätze, die das Buch re-
frainhaft strukturieren: der VW Golf, des-
sen erster Motor schnell schlappmachte
beispielsweise, oder das, was Tante Gretls
immer gesagt habe: „die Dublany sind
sehr intelligent, im Alter aber werden sie al-
le blöd“. Diesen Satz sagt der Vater oft, in
konzentrischen Kreisen scheint er sich da-
mit auf ein Zentrum zuzubewegen, in dem
er sich selbst befindet – und die Diagnose,
er selber sei bereits so blöd, damit von sich
fernhalten möchte.
Derlei Gesprächsmuster und Formulie-
rungen wiederholen sich, in immer kürze-

ren Abständen. Durch diese leitmotivarti-
ge Technik verdichtet sich der Text und be-
kommt eine Eigendynamik. Zu den Leit-
motiven gehört raffinierterweise auch die
Vorliebe des Vaters für die Opern Richard
Wagners. Zunächst finden die Besuche des
Sohnes noch im Wohnhaus des Vaters
statt, danach in einem Alten- und Pflege-
heim. Durch die Dialoge und die kurzen,
skizzenhaften Zwischensätze des Ich-Er-
zählers setzen sich einzelne Puzzleteile
der Familiengeschichte zusammen. Der
Vater war ein umtriebiger Mann, der lange
wie ein Riese wirkte und in Bonn einer Tä-
tigkeit nachging, die gegen Ende konkret
benannt wird: „Interkulturelles Manage-
ment und Verhandlungstraining für Auto-
konzerne und für den Deutschen Entwick-
lungsdienst“.

Der Ich-Erzähler stellt keinen direkten
Bezug zwischen diesem programmatisch
für eine unbedingte Gegenwart stehenden
Beruf und dem aktuellen Zustand des Va-
ters her. Aber durch den Schauplatz der
ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn ent-
steht das Bild eines versunkenen Landes,
das der Vater immer noch verkörpert. Der
Erzähler gleitet eher misstrauisch durch
Siedlungsstraßen, „die hier eigentlich nur
lang gestreckte Parkplätze mit Randbe-
bauung sind“. Das mit großen Glasfens-
tern versehene Wohnhaus in den Ausläu-
fern von Bonn kündet von Wohlstand. Im
Keller sammeln sich Objekte, die im Lauf
der Jahrzehnte von den sich zunehmend
ausdifferenzierenden Konsumgewohnhei-
ten zeugen. Die Nachtspeicherheizung,
der Wasserzähler und die Gartenschlauch-

requisiten erzählen eine Alltagsgeschich-
te, die im Rückblick mit einem gewissen
Schaudern wahrgenommen wird, zumal
sie mit den überlieferten Familienwerten
korrespondiert. Der Erzähler zieht ein Fa-
zit, das den infrastrukturellen Eigenhei-
ten Westdeutschlands generell gilt: „Ich
frage mich, wie ein Land so reich und zu-
gleich so hässlich sein kann.“
Im Laufe der erzählten Zeit vergisst der
Vater immer mehr, es ist ein Prozess, der
durch die mitstenografierten Besuchsdia-
loge wie organisch vermittelt wird. Doch
es wird nichts kommentiert, die Gefühle
des Erzählers scheinen konsequent ausge-
spart zu werden. Dadurch agiert der Text
in einer sehr genau ausgeleuchteten Halb-
distanz und hält zwischen Tragik und Ko-
mik eine bemerkenswerte Balance.

Manchmal gibt es eine selbstverständli-
che Vertrautheit mit dem Vater. Ab und zu
hat er äußerst helle Momente, und es blitzt
etwas aus der Vergangenheit so klar auf,
wie er es in den Zeiten seiner praktischen
Berufstätigkeit wohl nicht formuliert hät-
te. Da sieht er in Bonn plötzlich ein Foto
des ehemaligen Bundeskanzlers „Kurt Ge-
org Kiesinger von der NSDAP“, das Torge-
bäude eines Outlet-Centers kommentiert
er mit: „Ist das ein Lager? Architektonisch
erinnert es an das KZ Mauthausen“, und
nicht nur, dass er Schwestern hat, die nach
den drei Rheintöchtern Woglinde, Well-
gunde und Floßhilde heißen, verweist dar-
auf, wie aktiv der Großvater am National-
sozialismus beteiligt war.
Zum Schluss geht der Erzähler ein we-
nig aus der Deckung und fragt den Vater,
dessen Zustand alles möglich macht, nach
einigen wunden Punkten. Es ging im Ver-
hältnis zwischen dem Sohn und dem Vater
über weite Strecken nicht sehr innig zu.
Vor allem dessen zweite Frau Claire führte
zu einer starken Entfremdung. Die hier
sorgsam wiedergegebenen Besuchsfrag-
mente spielen vor einem Hintergrund, der
ein durch die Sonnenuntergänge Holly-
woods vertrautes und abrufbereites Fami-
lien-Happy-End als unmöglich erschei-
nen lässt. Dennoch bleibt die Gewissheit
zurück, dass das, was hier auf diese Weise
erzählt worden ist, für eine bessere Option
steht: Unmerklich hat man eine Bestands-
aufnahme der bundesdeutschen Geschich-
te gelesen, in der Perspektive einer als
wohlsituiert zu definierenden Familie.
Und der Sohn gehört dazu. In manchen Di-
alogen wird klar, auf welch merkwürdige
Weise Vater und Sohn doch zusammenpas-
sen: „Du baust dir halt deine eigene Wirk-
lichkeit“, sagt der Vater einmal plötzlich:
„Hast du schon immer gemacht.“

David Wagner: Der vergessliche Riese. Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 269 Seiten, 22 Eu-
ro.

Natürlich hat sich Mikael Blomkvist nicht
im Stockwerk geirrt, als er die Treppen im
Haus Fiskargatan 9 hochstieg. Der investi-
gative Starjournalist ist müde geworden
und er macht sich Sorgen um seine – viel-
gehasste, mit allen Mitteln gesuchte –
Kampfgefährtin. Die Wohnungstür steht
offen, zwei Möbelpacker bugsieren ein
blaues Sofa in die Wohnung. Es ist die
Adresse von Lisbeth Salander, und dieses
Sofa passt ganz gewiss nicht zu ihr und ih-
rer Lebenseinstellung, auch wenn die eins-
tige psychopathische Fighterin – ein „sozi-
ales Ufo“ – längst nicht mehr so punkig bö-
se ist wie ursprünglich in den drei Millen-
nium-Romanen von Stieg Larsson.
Nach Larssons Tod im Jahr 2004 be-
gann David Lagercrantz die Romane um
das Team Blomkvist/Salander zu schrei-
ben, und Lisbeth wurde durchaus bürgerli-
cher, übernahm nun immer mehr Verant-
wortung. „Vernichtung“ ist der dritte Mill-
ennium-Roman von Lagercrantz, damit
will er es genug sein lassen – auch wenn
die Larsson-Erben, der Vater und der Bru-
der, gerade über einen neuen Verlag und
weitere Romane spekulieren.


Lisbeth ist ausgezogen aus ihrer Woh-
nung, ohne Nachricht und ohne eine Spur
zu hinterlassen. Die neue Bewohnerin ist
Psychologin und Unternehmensberate-
rin, Lisbeth hat sie als Nachmieterin durch-
gedrückt, weil diese vom gleichen subver-
siven, rebellischen Geist inspiriert ist wie
sie. „In den Medien bin ich hauptsächlich
dafür bekannt, mit alten Männern in Auf-
sichtsräten zu streiten.“ Eine Tradition ist
hier etabliert, ein Netzwerk.
Den Widerstand gegen die patriarchali-
sche Männergesellschaft und die fiese bür-
gerliche Kultur, die sie sich schuf, hat
Stieg Larsson von Anfang an in den Mittel-
punkt seiner Millennium-Romane ge-
setzt, und die Solidarität, die eine Gruppe


Einzelkämpfer und Einzelkämpferinnen
zusammenführt in diesem Widerstand.
Und die Brutalität, mit der die Gesell-
schaft der alten Männer sich dagegen
wehrt.
David Lagercrantz hat diesen Basis-
kampf globalisiert und über die enge
schwedische Gesellschaft hinausgeführt.
Lisbeth operiert nun auf fremdem Ter-
rain, in Moskau, wo in diesem Roman die
Bösen hocken, die russischen Trollfabri-
ken, die überall durch ihre Intrigen politi-
sche und gesellschaftliche Entwicklungen
manipulieren, von Tschetschenien bis
zum Börsencrash. Aber auch die Schwes-
ter, Camilla, die sich nun Kira nennt und
enge persönliche Verbindungen hat zu
den Trollen. Sie wurde vom kriminellen Va-
ter missbraucht, fühlt sich verraten und

im Stich gelassen von der Mutter und von
Lisbeth. Ein tiefer Hass bindet die Schwes-
tern aneinander, in dessen Innerem ver-
borgene Mechanismen der Identifikation
stecken. Ein erster Versuch, Camilla zu tö-
ten, vor einem Nachtclub in Moskau, schei-
tert, Lisbeth kann einfach nicht abdrü-
cken. Nur eine Botschaft an die Trolle
kann sie senden, einen Song: „Killing the
world with lies ... Feeding the murderers
with hate ... “.
„Ich werde die Katze sein und nicht die
Ratte“, erklärt Lisbeth ihre Taktik: die an-
deren zwingen, Fehler zu begehen. Sie
kann alle Mittel moderner Kommunikati-
on nutzen, die sozialen und asozialen Me-
dien, sie kennt die neuesten Techniken
der Infiltration, hat Kontrolle über Über-
wachungskameras und Zugriff auf als ge-

heim klassifizierte Datenbänke, hat Zu-
gang zu den dunkelsten Kanälen inner-
halb derhacker republic. Auch Mikaels
mühsam recherchierte Texte kann sie mit
neuen Fakten aufpeppen. Lisbeth Salan-
der ist unsichtbar, aber omnipräsent, eine
personifizierte KI, der Albtraum der auto-
matisierten, totalitären Überwachungsge-
sellschaft. Mit ihr kommt, wie in den end-
losen Marvel-Superhelden-Sagas, das dra-
matische Erzählen, mit seinen Intrigen
und seiner Psychologie, an sein Ende.
David Lagercrantz will dieses Ende hin-
auszögern, durch eine Parallelgeschichte,
die den modernen Mythos von Lisbeth Sa-
lander mit einem archaischen konfron-
tiert, einem „Drama griechischen Ausma-
ßes“. Schauplatz ist der Mount Everest,
dort hat der Mann, um den es geht, im Mai

2008 bei einem tödlich verlaufenden Auf-
stieg eine entscheidende Rolle gespielt.
Jahre später findet man den Mann in
Stockholm, er lehnt an einer Birke im Tan-
tolunden. Ein toter Bettler, sein Körper ge-
zeichnet von ungeheuren Strapazen, eini-
ge Finger und Zehen fehlen ihm. In einer
blauen Daunenjacke, die viel zu warm ist

für den August. Früher hockte er kerzenge-
rade da, stundenlang, „ein bisschen wie
ein Indianerhäuptling im Kino“. Auch Mi-
kael hat ihn gesehen – aber nie wahrge-
nommen. Der Satz, um den sein Wahn
kreiste, kryptisch wie ein Tweet: „Me took
him ... And I left Mamsabiv, terrible, terri-
ble.“ In seiner Tasche fand man die Tele-
fonnummer von Mikael Blomkvist.
Das erste Buch, das David Lagercrantz
veröffentlichte, 1998, hat er zusammen
mit dem Bergsteiger Göran Kropp über
dessen Aufstieg auf den Everestgeschrie-
ben, („Allein auf dem Everest“). 2008 ist
der Everest „Ziel für Reiche geworden, die
ihr Ego ausleben wollten“, ein „Relikt aus
der Kolonialzeit“. In das Geschehen am
Gipfel verwickelt sind Johannes Forsell,
nun Verteidigungsminister, durch eine
Verleumdungskampagne fast zum Selbst-
mordversuch getrieben, eine junge Frau,
Clara, und ihr Mann, ein amerikanischer
krimineller, narzisstischer Immobilien-
spekulant, der in den Neunzigern begann,
in Moskau Hotels zu bauen. Das klassi-
sche Stieg-Larsson-Personal. Von David
Lagercrantz kommt die größte denkbare
Einsamkeit hinzu, die schrecklichste Ver-
zweiflung, die am Berg erfahren wird. Die
sie überlebten, tragen für immer die Last
der Schuld mit sich. fritz göttler

David Lagercrantz: Vernichtung. Roman. Aus dem
Schwedischen von Susanne Dahmann. Heyne Ver-
lag,München2019. 429 Seiten, 22 Euro.

„Ich werde die Katze sein und nicht die Ratte“: In „Vernichtung“ ist Lisbeth Salander (hier dargestellt von Claire Foy) unsicht-
bar, aber allgegenwärtig, der Albtraum aller Überwachungssysteme. FOTO:PICTURE ALLIANCE / PICTURELUX/TH

„Die Dublany sind sehr


intelligent, im Alter aber


werden sie alle blöd.“


Nun zieht Lisbeth Salander


in den Kampf gegen die


russischen Trollfabriken


Einer der Bösen ist ein
US-Immobilienspekulant,
der in Moskau Hotels baut

Woglinde, Wellgunde und
Floßhilde heißen die Schwestern
des Vaters, wie die Rheintöchter

Die Welt mit Lügen töten


Der sechste Millennium-Roman, „Vernichtung“, ist erschienen, der dritte und vielleicht letzte von David Lagercrantz


Kind der alten Bundesrepublik und ihrer Hauptstadt. Erzähler, der im Dialog mit dem Vater seiner verschwundenen
Herkunftswelt nachspürt: David Wagner im nachtblauen Sakko. FOTO: LINDA ROSA SAAL

Der Autor versucht,
sein eigenes Denken noch
einmal neu zu denken

20 FEUILLETON LITERATUR HF2 Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH


Aus einem versunkenen Land


In David Wagners Roman „Der vergessliche Riese“ berichtet ein Sohn von der


fortschreitenden Demenz seines Vaters. Schnell wird klar: Mit dessen Erinnerungen verschwindet eine ganze Welt


Gegen die Panik


Frank WitzelsTagebuch
„Uneigentliche Verzweiflung“
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