Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
FOTO: PR

Es begann alles damit, dass Palesa Moku-
bung nichts anzuziehen hatte. Zumindest
mal wieder nicht das Richtige, wie sie
selbst glaubte. Mokubung ging deshalb in
einer der angesagtesten Boutiquen in
Johannesburg einkaufen. Dort aber war
die Inhaberin ganz anderer Ansicht. Be-
geistert von den selbstgenähten Sachen,
die Mokubung trug, behielt sie die Kun-
din gleich da und stellte sie ein.
Fast zwanzig Jahre später ist die 38-Jäh-
rige als erste afrikanische Designerin mit
einer eigenen Kollektion beim Moderie-
sen H&M vertreten. Die schwedische Ket-
te hat bereits mit Karl Lagerfeld und
Comme des Garçons kooperiert, aber
noch nie mit Modemachern von jenem
Kontinent, der für viele immer noch ledig-
lich Empfänger von Altkleidern ist. Afrika-
nische Kleidung tauchte in Europa lange
Zeit nur in Ethno-Shops auf. Sie war oft
mehr Folklore als Mode.
Seit einigen Tagen sind die bunten Klei-
der von Mokubung fast weltweit zu kau-
fen. „Mantsho“ heißt ihr 2004 gegründe-
tes Label, was „Schwarz ist schön“ bedeu-
tet in ihrer Muttersprache Sesotho, die ei-
ne der elf offiziellen Sprachen Südafrikas
ist. In ihrer Heimat war Mokubung schon
länger erfolgreich, sie hat ihre Entwürfe
auch schon auf Modeschauen in den USA
und Griechenland gezeigt; nun aber ist sie
in eine neue Dimension vorgestoßen. „Es
ist unglaublich und kommt zu einer Zeit,
in der die Frauen ihre Rechte einfordern
und das Thema Diversität immer wichti-
ger wird“, sagt Mokubung.
In Sachen Diversität hatte H&M mehr-
mals schon Probleme. 2015 wurde der
Konzern gefragt, warum er in Südafrika
fast keine schwarzen Models für die Wer-
bekampagnen buche, wo doch das Land

eine hauptsächlich schwarze Bevölke-
rung habe. Man wolle mit den Motiven „ei-
ne positive Botschaft“ vermitteln, antwor-
tete das lokale H&M-Geschäft in Kap-
stadt damals, was in Südafrika nicht gut
ankam. Drei Jahre später war der Aufruhr
noch größer, als H&M zwar weltweit mit
einem schwarzen Jungen warb, ihm aber
einen Pulli überzog mit der Aufschrift:
„Der coolste Affe im Dschungel“. Unter An-
leitung und Mithilfe der linksradikalen
EFF-Partei wurden in Südafrika mehrere
H&M-Filialen verwüstet.
Die Kollektion mit Mokubung ist nun
einerseits ein Zeichen der Einsicht, ande-

rerseits aber auch einfach eine wirtschaft-
liche Entscheidung. Afrikanische Muster
liegen im Trend und verkaufen sich gut.
Bisher allerdings war es meist so, dass
sich die Designer in Europa und den USA
von Afrika inspirieren ließen – oder, je
nach Sichtweise, einfach die traditionel-
len Muster der Volksgruppen klauten.
Der Fachbegriff dafür lautet: kulturelle
Appropriation, eine Art Adaption ohne
Einwilligung der Urheber. In der Mode-
branche teilen diese Sichtweise nicht alle,
da doch jeder Kreative verschiedene Ein-
flüsse aufnehme. Die Diskussion darüber
wird in Afrika bisher so gut wie gar nicht
geführt, wenn überhaupt, dann schwappt
sie aus Europa zurück.
Palesa Mokubung entwirft ihre Klei-
dung zusammen mit ihrem Bruder, der
für die Muster zuständig ist. Die beiden
sind wie so viele junge schwarze Südafri-
kaner bei einer alleinerziehenden Mutter
aufgewachsen. Und wie so viele machten
sich die beiden aus der Provinz auf den
Weg nach Johannesburg, das seit hundert
Jahren das Ziel vieler Glückssucher ist.
Erst war es das Gold, das die Menschen
lockte, heute gibt es eine junge, kreative
Szene. Die Textilindustrie in Südafrika ist
wie in vielen anderen Ländern des Konti-
nents in keinem sehr guten Zustand, die
vom IWF und der Weltbank verordneten
Marktöffnungen der Neunzigerjahre
überschwemmten Afrika mit chinesi-
scher Billigware. Weil in China die Löhne
aber immer höher werden, kommen viele
Unternehmen nun nach Äthiopien oder
Ruanda, wo der Staat mit Zuschüssen
wirbt und riesige Gewerbeparks gebaut
hat. Die Kollektion von Palesa Mokubung
wird zumindest zum Teil in Südafrika her-
gestellt. bernd dörries

M


itarbeiter werden entlassen,
wenn sie ihr Recht auf Mei-
nungsfreiheit einfordern. Men-
schen werden verprügelt, wenn sie ihr
Recht auf Versammlungsfreiheit einkla-
gen. Kinder werden verhaftet, wenn sie
für ihre Zukunft friedlich auf die Straße
ziehen. Das ist der Alltag im Hongkong
dieser Tage.
Und damit nicht genug. Am Freitag
ließ die Polizei wichtige Mitglieder der
Protestbewegung zwischenzeitlich fest-
nehmen. Seit Beginn der Proteste in der
chinesischen Sonderverwaltungszone
wirken die Einsatzkräfte überfordert. Sie
haben im Umgang mit den Demonstran-
ten jedes Maß verloren. Auf der Straße re-
giert Willkür. Was in Hongkong passiert,
hat vielerorts nur noch wenig mit einem
Rechtsstaat zu tun. Die Festnahmen von
politischen Figuren mit unmarkierten
Fahrzeugen kostet weiter Vertrauen.
In Festlandchina dient das Recht
schon lange allein den Zwecken der Par-
tei. In Hongkong war das bisher anders.
Die Stadt ist seit 22 Jahren Teil der Volks-
republik. Doch hat sie immer ihren Geist
bewahrt. Rechtsstaatlichkeit und Frei-
heit sind nicht nur rational betrachtet das
Geschäftsmodell. Sie machen auch die
Seele der Stadt aus. Schon jetzt ist die
Hongkonger Gesellschaft nach Wochen
des Protests tief zerrissen. Anstatt mit
Notstandsgesetzen und neuer Gewalt zu
drohen, sollte die Regierung unter Carrie
Lam endlich auf Entspannung setzen. Re-
giert in Hongkong die politische Willkür,
ist die Stadt bald nur noch das, was Pe-
king aus ihr machen will: eine chinesi-
sche Stadt unter vielen. lea deuber


H


einz-Christian Strache hat auf
Ibiza eindrücklich dargelegt,
wie anfällig er für zweifelhafte
Geschäfte ist. Zig Anzeigen wurden seit-
her gegen den Ex-Vizekanzler Öster-
reichs erstattet – die meisten davon wer-
den nicht in Ermittlungen münden, wie
die Korruptionsstaatsanwaltschaft nun
verkündet hat. Die FPÖ sieht Strache da-
mit entlastet, was Unsinn ist.
Denn die Staatsanwaltschaft ver-
weist beim Vorwurf der Vorteilsnahme
explizit auf eine Gesetzeslücke, die dem
FPÖ-Politiker zugutekommt. Zum Zeit-
punkt des Ibiza-Videos, im Juli 2017,
war er kein Amtsträger; er versprach al-
so Dinge, die er nicht versprechen konn-
te. Dass jemand Geld fordert, um Amts-
träger zu werden, und dafür zusagt, sich
dann in dieser Position beeinflussen zu
lassen, ist in Österreich nicht strafbar.
Dass er dies aber getan hat, daran hat
die Staatsanwaltschaft keinen Zweifel.
Der Jubel der FPÖ lässt auch völlig au-
ßer Acht, dass sich die Ermittler statt-
dessen auf den Vorwurf der Untreue
konzentrieren – sogar Straches Haus ha-
ben die Behörden deshalb durchsucht,
sein Handy konfisziert. Auch wenn die-
se Ermittlungen im Sand verlaufen soll-
ten, ist klar, dass Strache aus morali-
scher Sicht Schuld auf sich geladen hat.
Für einen Mandatsträger müssen stren-
gere Maßstäbe als das Strafrecht gelten.
Es ist unangebracht, dass er schon seit
Wochen mit einem Comeback liebäu-
gelt und wehleidige Interviews gibt.
Strache hat sich auf Ibiza selbst ins poli-
tische Abseits manövriert. Er sollte dort
bleiben. leila al-serori

von sebastian schoepp

O


ft wird Brasiliens Präsident Jair
Bolsonaro mit Donald Trump ver-
glichen, was ungerecht ist, denn
im Vergleich zu dem Brasilianer wirkt der
US-Präsident wie ein Gentleman. Das
musste diese Woche Frankreichs Präsi-
dent Emmanuel Macron erfahren. Weil
der Franzose die laxe Brandbekämpfung
in Amazonien kritisiert hatte, musste er
sich aggressive Beleidigungen seiner Ehe-
frau durch Bolsonaro auf Twitter gefallen
lassen; das ist ein Niveau, zu dem nicht
einmal Trump hinabgestiegen ist.
Nein, Brasiliens Präsident ist kein Tro-
pen-Trump, er gehört eher in eine Reihe
mit Gewaltverherrlichern wie dem Philip-
piner Rodrigo Duterte oder mit sturen Au-
tokraten wie dem Venezolaner Nicolás
Maduro, deren Handeln nur von der Fra-
ge beeinflusst wird, was ihrem Machter-
halt dient und dem Pfründesystem, das
sie trägt. Leider zeigt die EU derzeit die
Tendenz, sich von Bolsonaro einwickeln
und beruhigen zu lassen. Er twittert zwei
Fotos vonHercules-Maschinen, die Was-
ser abwerfen über dem Urwald, und er-
klärt, er habe für 60 Tage Brände unter-
sagt – und schon jubilieren führende EU-
Vertreter, seht her, der politische Druck
habe gewirkt. Das ist lächerlich. Die Feu-
er wüten nach wie vor, Indigene in Amazo-
nien berichten von der totalen Vernich-
tung ihres Lebensraums, enorme Men-
gen Flora und Fauna werden zerstört, die
Folgen für das Weltklima sind immens.
Jemand wie Bolsonaro, der eine Ma-
chohaftigkeit wie im 19. Jahrhundert an
den Tag legt und sich benimmt wie ein
bandeirante, eine Art brasilianischer
Cowboy, versteht nur die Sprache der Här-
te. Da reicht nicht der Hinweis, im geplan-
ten Freihandelsabkommen der EU mit
dem Mercosur sei ja ein Passus instal-
liert, der Waldschutz einfordert. Es gibt

längst genug Naturschutzgesetze in Brasi-
lien, nur hat Bolsonaro den Agrarkonzer-
nen und Farmern zu verstehen gegeben,
sie bräuchten sich nicht daran zu halten.
Man muss Brasilien klarmachen, dass
dieser Freihandelsvertrag nicht unter-
schrieben wird, wenn Bolsonaro das Welt-
erbe Amazonien weiter so behandelt, als
wäre es ein privater Kleingarten, in dem
er Reisig verbrennt.

Hier beginnt auch die Verantwortung
der Industrieländer. Die schrankenlose
Ausbeutung von Ressourcen, von Öl, Er-
zen, Kohle, Mineralien, der massenhafte
Anbau von Palmöl und Soja, die Brandro-
dung von Weideland – sie sind Konse-
quenz aus einer Handelsordnung, die
den reichen Ländern einen verschwende-
rischen Lebensstil und maximalen Kom-
fort beschert hat. Das geht auf Kosten der
Armen, die dafür billig die Rohstoffe lie-
fern. Niemand kann Ländern wie Brasili-
en oder Bolivien etwas vorwerfen, wenn
sie zu diesem Lebensstil aufschließen
wollen – solange die reiche Welt ihn als
einzig gültiges Modell vorlebt.
Es ist kein Zufall, dass Großfarmer
und Kleinbauern am Amazonas gerade
jetzt mehr Flächen denn je anzünden, da
das größte Freihandelsabkommen der
Welt winkt – und parallel wird Chinas
Hunger nach Bodenschätzen und Soja un-
ersättlich. Sie befolgen damit nur die Re-
geln eines ganz auf Wachstum ausgerich-
teten Wirtschaftssystems, das seit frühes-
ten Zeiten des Kolonialismus existiert
und von seinen Verteidigern gerne als al-
ternativlos bezeichnet wird. Wenn das
wirklich so wäre, dann müssten künftige
Generationen auf Regenwald verzichten.

von daniel brössler

D


reißig Jahre nach dem großen Um-
bruch in Europa bestimmt ein gro-
ßes Paradoxon die deutsch-polni-
schen Beziehungen. Sie sind sowohl mise-
rabel als auch ausgezeichnet. Große Nähe
und erhebliches Misstrauen gehen Hand
in Hand. Wenn Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier an diesem Sonntag an
den Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag des
deutschen Überfalls auf Polen und des Be-
ginns des Zweiten Weltkriegs teilnimmt,
wird er beides zu spüren bekommen – so-
wohl den Wunsch nach enger Partner-
schaft als auch die Verbitterung darüber,
dass das ungeheure Leid der Polen wäh-
rend der deutschen Besatzung keinen an-
gemessenen Platz im kollektiven Gedächt-
nis der Deutschen zu haben scheint.
Unvergleichlich stärker als ihre libera-
len Vorgänger haben Polens Regierende
von der national orientierten Partei Recht
und Gerechtigkeit (PiS) diesem Empfin-
den Ausdruck verliehen – und ganz im Ge-
gensatz zu ihren Vorgängern sind sie auch
stets bereit, es innenpolitisch für sich nutz-
bar zu machen. Die Forderung nach Repa-
rationen mag rechtlich aussichtslos sein
und das Verhältnis zu Deutschland belas-
ten. Sie zahlt sich aber aus, um vor der Par-
lamentswahl Stimmung zu machen. Es ge-
hört geradezu zum Markenkern der PiS,
Geschichtspolitik zu instrumentalisieren,
das sollten sich auch die Deutschen klar-
machen. Falsch wäre es jedoch, wegen die-
ser Instrumentalisierung den polnischen
Ärger über oft zu Recht beklagte deutsche
Ignoranz nicht ernst zu nehmen.
Wer sich zur Verantwortung für die von
Deutschen während des Zweiten Welt-
kriegs begangenen Untaten bekennt,
muss das auch und gerade unter schwieri-
gen Umständen tun. In dieser Hinsicht ste-
hen die deutsch-polnischen Beziehungen
an einem historisch entscheidenden

Punkt. Nach der Zeitenwende vor 30 Jah-
ren hatten die Deutschen in Warschau so
weltoffene und großherzige Partner für
die Aussöhnung wie den einstigen Außen-
minister und Auschwitz-Überlebenden
Władysław Bartoszewski. Dass dies nun
anders ist, bedeutet in gewisser Weise
auch eine Chance. Die deutsch-polnische
Aussöhnung muss und kann sich unter
schwierigsten Bedingungen beweisen.
Das zwingt die Deutschen aber, sich
den Versäumnissen der Vergangenheit zu
stellen. Dazu gehören Überlegungen für
ein Mahnmal, das in Berlin an die polni-
schen Opfer der Nazis erinnert. Und dazu
sollte auch die Bereitschaft gehören, den
wenigen noch lebenden Opfern materiell
zu helfen. Das bloße Pochen auf die
Rechtslage passt jedenfalls nicht zu den
Reden von der deutschen Verantwortung.

Im Verhältnis zu Polen geht es im Übri-
gen nicht nur um historische Verantwor-
tung, sondern auch um strategische Ziele
für die Zukunft. Wirtschaftlich ist Polen
das dynamischste Land der Region. Als
Handelspartner ist es für Deutschland
mittlerweile wichtiger als Großbritanni-
en. Zum gegenseitigen Nutzen sind die
Volkswirtschaften miteinander verfloch-
ten. Einer politischen Partnerschaft, die
annähernd so eng wäre wie jene zu Frank-
reich, aber steht die Agenda der jetzigen
Regierung entgegen, die eine Gefahr für
Rechtsstaat und Demokratie in Polen und
damit auch in Europa darstellt.
Polen wird dringend gebraucht als östli-
che Führungskraft in der EU. Die Entschei-
dung, ob sie das sein wollen, liegt bei den
Polen. Deutschlands Aufgabe liegt darin,
ihnen diesen Weg offenzuhalten.

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MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
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SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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I


n diesen Zeiten sind verlässliche
Prognosen über den Ausgang von
Wahlen schwierig; zu viel kann sich
noch in den letzten Tagen vor dem
Wahlsonntag verändern. Zwei, drei
Abgeordnetensitze mehr ermöglichen ei-
ne Koalition; zwei, drei weniger können ei-
ne Minderheitsregierung erzwingen. Und
doch werden die Landtagswahlen in Sach-
sen und Brandenburg am Sonntag wohl ei-
nes bestätigen: Die AfD ist in Deutsch-
land, vor allem in Ostdeutschland, eine
etablierte, keineswegs schwache Partei.
Mit Wahlergebnissen um die zwanzig
Prozent zwischen Elbe und Oder wird die
Rechtspartei mehr und mehr zu dem, was
die Linkspartei dort früher war: eine Regi-
onalpartei des Ostens, deren Protest ge-
gen „das System“ auch im Westen Zustim-
mung und Wähler findet – insgesamt aller-
dings weniger als im Osten. In der alten
Bundesrepublik ist das Kerngebiet der
AfD der Südwesten. Im Westen und im
Norden aber ist sie der Fünf-Prozent-Hür-
de näher als der Zehn-Prozent-Marke.
Nun ist die AfD nicht die erste Partei,
die als Anti-Parteien-Par-
tei begonnen hat. Wer alt
genug ist, um sich an den
Aufstieg der Grünen zu
erinnern, der weiß, dass
das, was heute nicht nur
von der Rechten gerne her-
abwürdigend „der Main-
stream“ oder „das Sys-
tem“ genannt wird, Ende
der Siebzigerjahre, als die
Grünen noch links waren,
„das Establishment“ war.
Und auch die PDS, später
Linkspartei, wuchs als An-
ti-System-Partei. Die PDS
allerdings hatte eine Son-
derrolle unter den Anti-
Parteien-Parteien. Sie hat-
te ihr Heimat-System, die
DDR, gerade verloren.
Trotzdem gilt für die AfD
heute, was für die PDS frü-
her auch galt: Sie lebt von
der Behauptung, anders
zu sein als alle anderen.
Für die Grünen gilt das
nicht mehr. Sie gehören längst zum Esta-
blishment, auch wenn sie nostalgisch das
Gefühl pflegen, mal eine Bewegung gewe-
sen zu sein. Sie haben den Prozess von der
Bewegung über die Anti-Partei bis zum Es-
tablishment grandios vollzogen. Die Ge-
sellschaft und die Grünen haben sich so
sehr aufeinander zubewegt, dass Union
und SPD mehr von den Grünen übernom-
men haben als umgekehrt. Wären die Grü-
nen jemals die Partei der 68er gewesen,
sie hätten den Marsch durch die Institutio-
nen wirklich gewonnen.
Nun bedeutet die Entwicklung von Grü-
nen und Linkspartei keineswegs, dass
auch die nationalistische und partiell
fremdenfeindliche AfD in absehbarer Zeit
selbstverständlicher Teil des Parteien-
spektrums sein wird. Dennoch gibt es ein
Muster: Wenn die Gesellschaft grundle-
gendem Wandel ausgesetzt ist, entstehen
aus diesem Wandel heraus oder dezidiert
gegen diesen Wandel gesellschaftliche Be-
wegungen, aus denen manchmal Parteien
werden. Im Nachkriegsdeutschland wa-
ren diese Bewegungen meistens irgend-
wie links. Das ist seit 2015 zum ersten Mal
anders. Die grundsätzliche Systemkritik,
die gegenwärtig und vor allem im Osten
den größten Zulauf hat, kommt von
rechts, zum Teil von Rechtsaußen, wie et-
wa beim sogenannten Flügel der AfD.


Die Wähler der AfD sind die sehr Unzu-
friedenen. Im Osten liegt das auch daran,
dass viele Menschen gleich zwei große Ver-
änderungen mitmachen mussten: zuerst
das Verschwinden der DDR und der ge-
wohnten Lebensweise, dann die Digitalre-
volution verbunden mit der Globalisie-
rung, zu deren Folgen auch die neuen Mi-
grationsbewegungen gehören. Deswegen
kommt im Osten eine Dagegen-Partei wie
die AfD gut an. Sie lehnt „das System“ ab,
das angeblich an den schlechten Seiten
aller Veränderungen und der Vereinigung
schuld ist. Gleichzeitig ist die AfD Nostal-
giepartei, deren Vorstellungen von
Deutschland irgendwo zwischen 1912 und
1987, aber mit Mobiltelefonen, wabern.
Viele AfD-Wähler scheren sich nicht
darum, dass die Partei in etlichen Landta-
gen und im Bundestag jede Menge hausge-
machte Skandale angehäuft hat, bis hin
zur partiellen Desintegration einiger Frak-
tionen wie etwa in Bayern. Die AfD ist kei-
ne Partei, die Lösungen anbietet oder gar
den Staat im stets nötigen Kompromiss
mit anderen gestalten will. Sie lebt von
der Provokation, so wie
das auch ihre erfolgreiche-
ren Geschwister im Un-
geist wie die Salvini-Par-
tei in Italien oder die Le Pe-
nisten in Frankreich tun.
Allerdings war auch die
Lust am Nörgeln als politi-
sche Grundhaltung in
Deutschland schon im-
mer weit verbreitet. (Die
SPD demonstriert, wie
das nach innen gerichtete
Nörgeln dazu beiträgt,
dass die Partei an den
Rand des Abgrunds ge-
rät). Es gibt wenige Län-
der, die in vielerlei Hin-
sicht so relativ gut daste-
hen wie die Bundesrepu-
blik, in denen aber ande-
rerseits so viele Menschen
die Wahrnehmung pfle-
gen, sehr vieles sei sehr
schlecht und ungerecht –
von den Straßen über die
Behörden bis hin zur Poli-
tik ganz generell. Gewiss, genörgelt wur-
de früher auch. Heute aber bieten die sozi-
alen Medien jedem die Möglichkeit, seine
eigene Öffentlichkeit zu schaffen. Das pri-
vate Mosern ist zum Gespräch der Nation
geworden. Deshalb erscheinen auch Par-
teien wie die Lega oder die AfD im Netz als
besonders groß und bedeutend.
Von Sonntagabend an wird jedenfalls
die bedenkentragende Moser- und Chat-
Republik alle möglichen Flammenschrif-
ten an der Wand lesen: Die CDU wird
(nicht ganz zu Unrecht) ihre Vorsitzende in
Zweifel ziehen und die SPD wieder einmal
sich selbst; die Grünen werden jubeln und
um die Demokratie fürchten; die Linke
wird die Schuld bei den anderen suchen,
und die Rechtspartei wird sich in dem
Wahn baden, sie sei das Volk.
In Wirklichkeit wird in Sachsen und
Brandenburg passieren, was für die Zu-
kunft in ganz Deutschland abzusehen ist:
Es gibt keine wirklich dominierende Par-
tei mehr; man muss in Zukunft Minder-
heitsregierungen und Viel-Partner-Koali-
tionen bilden; in Form der AfD hat sich
eine rechte Dagegen-Kraft etabliert, in
der auch Antidemokraten, Fremdenfein-
de und Rüpel jeder Art aktiv sind. Und:
Wer ein anderes Bild von Deutschland hat
als die AfD, muss es überzeugt und über-
zeugend vertreten.

Woran erkennt man den mo-
dernen Staat? Er erfindet
neue Steuern oder verleiht al-
ten Abgaben höheren Sinn.
Seit Langem gibt das Bundes-
finanzministerium die Broschüre „Steu-
ern von A bis Z“ heraus – von „Abgeltung-
steuer“ bis „Zwischenerzeugnissteuer“.
Als frischer Beleg für Erfindergeist plus
Beharrungskraft steht dort der „Solidari-
tätszuschlag“, den CDU-Kanzler Helmut
Kohl einst ersann und den nun ausgerech-
net die SPD nicht sterben lassen mag. Le-
gitimatorisch ist der Soli aber von ges-
tern, sein Hauptzweck heißt: kassieren.
Moderne Steuern erfüllen einen Erzie-
hungsauftrag. Die wohl älteste pädagogi-
sche Abgabe galt dem Tabak. Nachdem
Bayern 1652 mit einem Verbot geschei-
tert war, führte Preußen 1819 eine Ge-
wichtssteuer auf Tabakblätter ein, der fis-
kalische Ertrag war dabei keineswegs läs-
tig. Heute wird die Tabaksteuer gern da-
mit gerechtfertigt, Raucher vor sich
selbst zu schützen, jedenfalls ein biss-
chen. Den Kanon moderner Sündensteu-
ern ergänzen Zucker-, Kaffee- und Bier-
steuer. Nun wagt auch CSU-Landesgrup-
penchef Alexander Dobrindt eine fiskali-
sche Pioniertat. Er will eine „Kampfpreis-
Steuer“ – als Strafe für Klimafrevler, die
Flugtickets unter 50 Euro offerieren. Müs-
sen die „Steuern von A bis Z“ umgeschrie-
ben werden? Eher nicht, selbst in der CSU-
Spitze findet die Idee keine Gnade. hmu

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH


HONGKONG

Maßlos


ÖSTERREICH

Gesetzeslücke


BRASILIEN

Einhalt dem Brandstifter


Die Farmer im Amazonas
folgen dem Credo des Westens:
Nur Wachstum zählt

POLEN

Die deutsche Verantwortung


Flugscham sz-zeichnung: luismurschetz

DER WAHLSONNTAG


Menetekel im Osten


von kurt kister


AKTUELLES LEXIKON


Kampfpreis-Steuer


PROFIL


Palesa


Mokubung


Botschafterin
der afrikanischen
Mode in der Welt

80 Jahre nach Kriegsbeginn
geht es noch um Aussöhnung,
aber auch um gemeinsame Ziele

In Sachsen und
Brandenburg wird
die AfD stark
werden. Das liegt
vor allem daran,
dass sie erfolgreich
behauptet, gegen
„das System“
zu sein. Sie ist auch
eine Partei für die
deutschen Nörgler
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