von gabriela beck
P
flanzen können vor Trocken-
heit, Hitze oder Kälte nicht ein-
fach davonlaufen. Sie können
sich bei einem Sturm auch nicht
hinter anderen Pflanzen oder
Steinen verstecken. Sie sind fest an ihren
Standort gebunden. Dabei können sie sich
gut an sich verändernde Witterungsver-
hältnisse anpassen. Schilfrohre wiegen
sich im Wind, Sonnenblumen drehen ihre
Köpfe der Sonne entgegen, Tannen schüt-
zen ihre Samen vor Feuchtigkeit, indem sie
die Schuppen ihrer Zapfen bei Regen schüt-
zend darüber schließen. Das Faszinieren-
de: Sie tun das ohne Gelenke oder Antrieb
von außen. So wie Pflanzen sind auch Ge-
bäude an ihren Standort gebunden. Kein
Wunder also, dass sich Wissenschaftler
Ideen aus der Natur abschauen. In Pilotpro-
jekten entwickeln Forscherteams derzeit
erste Sonnenschutzelemente, die sich an
biologischen Bewegungsmechanismen
der Pflanzen orientieren.
Bionik nennt sich dieser Wissenschafts-
zweig, in dem Forscher Strukturen und
Funktionsprinzipien aus der Pflanzen-
und Tierwelt analysieren und darauf basie-
rend technische Lösungen entwickeln, die
dann zum Beispiel im Bauwesen einge-
setzt werden können. Denn die Natur hat
im Lauf von 3,8 Milliarden Jahren Evoluti-
on erstaunliche material- und energiespa-
rende Baupläne entwickelt. Schon Leonar-
do da Vinci studierte den Vogelflug und ent-
warf Flugmaschinen mit Schlagflügeln.
Gustave Eiffel diente ein Wirbeltierkno-
chen mit seinen Hohlräumen und Kno-
chenbälkchen als Inspirationsquelle für
die Konstruktion seines berühmten Tur-
mes.
Bewegliche Fassadenverschattungen
werden heute meist mit elektrischen Moto-
ren angetrieben. Ihre starren Elemente
sind über Rollen, Gelenke oder Scharniere
miteinander verbunden. Staub und
Schmutz, Schnee oder Eis setzen ihnen zu.
Sie sind die neuralgischen Punkte, die zu-
erst verschleißen.
„Mechanische Verbindungen können
klemmen und blockieren und müssen stän-
dig gewartet werden“, sagt Professor Jan
Knippers, Leiter des Instituts für Tragkons-
truktionen und Konstruktives Entwerfen
der Universität Stuttgart. Mit Scharnieren
kennt er sich aus. Als junger Ingenieur war
er mit der Konstruktion der Kieler Hörn-
brücke beauftragt, die sich wie eine Zieh-
harmonika samt Fahrbahn, Gehweg und
seitlichen Geländern zusammenfaltet, um
Schiffe passieren zu lassen. Hunderte
Scharniere müssen dafür reibungslos in-
einandergreifen. „Wir hatten unsere liebe
Not, bis endlich alles funktionierte“, erin-
nert sich Knippers. Seit der Arbeit an der
Brücke war er auf der Suche nach einem
eleganteren Faltansatz – und fand ihn zu-
sammen mit einem Forscherteam aus Bio-
logen, Biomechanikern, Materialwissen-
schaftlern, Architekten und Bauingenieu-
ren in der Natur, schließlich bei der Venus-
fliegenfalle.
Die fleischfressende Pflanze lauert mit
zwei weit geöffneten Blatthälften auf Beu-
te. Lässt sich ein unvorsichtiges Insekt auf
der verführerisch rot leuchtenden Innen-
seite nieder und reizt die Sinneshaare an
der Oberfläche, schnappt das Blatt wie ei-
ne Tellerfalle innerhalb von Millisekunden
zu. Ganz ohne Muskeln. Die Pflanze regu-
liert stattdessen den Innendruck ihrer Zel-
len. Dieser bildet sich durch den wässrigen
Zellsaft, der auf die Zellmembranen
drückt. Je mehr Flüssigkeit eingelagert
wird, desto praller also die Zelle, desto
mehr Druck. Im Inneren von Pflanzenzel-
len wurden Werte bis zu 40 bar gemessen.
Zum Vergleich: Der Luftdruck in einem Au-
toreifen beträgt etwa 2,5 bar. Die Venusflie-
genfalle speichert auf diese Weise Energie,
die sie wie bei Pfeil und Bogen auf einen
Schlag freisetzen kann. Dabei ändert sich
die Geometrie ihrer Blätter: In geöffnetem
Zustand sind die beiden Fallenhälften
nach innen gewölbt. Löst die Berührung
der Reizhaare die hydraulische Reaktion
aus, kehrt sich die Krümmung um, die Blät-
ter schlagen plötzlich zu.
Jan Knippers und seine Kollegen hat die-
ser Mechanismus zur Entwicklung des
Flectofold inspiriert – eines Verschattungs-
elements in Form eines Vierecks aus Kunst-
stoff. Es lässt sich ohne Gelenke entlang
seiner Diagonalen zusammen- und wieder
auffalten. Ein Laminatverbund aus mehre-
ren Glasfasermatten, Epoxidharz und ei-
ner Elastomerfolie sorgt dafür, dass die
Flügel dabei nicht brechen. Je nachdem
wie die Glasfasern in den Schichten zuein-
ander anordnet sind, ändert sich die Stei-
figkeit des Materials. So können die Flügel
an der Fassade auch starkem oder böigem
Wind standhalten. In der Faltzone ist das
Material dagegen biegsam. Über den Flü-
gelstand kann die Stärke der Verschattung
variiert werden. Bewegt werden die Flecto-
fold-Module gezielt per Luftdruck über ein
Luftkissen. Ein Kompressor bläst es auf.
„So kann man das System jederzeit per
Knopfdruck steuern“, sagt Jan Knippers.
Der Nutzer soll die Kontrolle behalten,
denn „manchmal möchte man ja auch bei
Sonnenschein rausschauen.“ Das gesamte
Modul wird zu einem einzigen Bauteil, das
sich elastisch verformt.
Ebenfalls ohne Gelenke kommt ein neu-
artiger textiler Sonnenschutz aus, der an
der TU Darmstadt unter der Leitung von
Professor Stefan Schäfer entwickelt wird.
„Sonnen- und Blendschutz sind in unse-
ren Breiten Zukunftsfragen im Bauwesen“,
sagt Schäfer. Der Anteil an großflächigen
Glasfassaden habe in den vergangenen
Jahren stark zugenommen – auch auf-
grund verbesserter Verbindungs- und
Dichtungstechniken sowie des Glaswerk-
stoffs selbst. „Bei den weit verbreiteten
Bildschirmarbeitsplätzen sind außerdem
die Anforderungen an die Lichtsituation
hoch. Deshalb brauchen wir Technologien,
die in Ergänzung mit einer Glasfassade
den Tageslichteinfall optimieren.“ Das
neue System orientiert sich an den rückfe-
dernden Blütenblättern von Orchideen.
Mit einem Lasercutter werden bestimmte
Muster aus kleinen zueinander versetzten
Kurven in eine Stoffbahn geschnitten.
Beim Auseinanderziehen des Stoffes ent-
stehen Öffnungen zu einer Seite, durch die
der Lichteinfall gesteuert werden kann.
Mit unterschiedlich starkem Zug lässt sich
die einfallende Lichtmenge stufenlos regu-
lieren. Verdreht man die Schnittmuster,
entstehen bei Zugspannung kleine Kelche,
über die das Tageslicht gezielt weiter an
die Raumdecke geleitet werden kann. So
können über Deckenreflexion auch dunkle-
re Bereiche im Innenraum mit Tageslicht
versorgt werden, während der Blend-
schutz in Fensternähe gewährleistet
bleibt.
Ein Antriebselement für bewegliche Fas-
sadenkomponenten, das ohne Motor, so-
gar gänzlich ohne Energiezufuhr aus-
kommt, hat ein Forscherteam um den Che-
miker und Forstwissenschaftler Professor
Cordt Zollfrank entwickelt. Vorbild sind
Kiefern- und Tannenzapfen, die bei Regen
ihre Schuppen schließen und sie wieder
öffnen, wenn es trocken ist. Der natürliche
Klappmechanismus funktioniert über das
unterschiedliche Quellvermögen ihres Ge-
webes: dem wenig quellfähigen Lignin
und der gut quellenden Cellulose. Die Be-
wegung beruht auf rein physikalischen Me-
chanismen. Für das Antriebselement ver-
binden die Forscher ebenfalls Materialien
mit unterschiedlichem Quellverhalten mit-
einander.
In der Bionik geht es um abstrahieren
statt kopieren. „Eine Übertragung aus der
Natur in die Technik ist immer auch eine
Übersetzungsleistung“, sagt die Biologin
Kristina Wanieck. „Das reicht weit über die
bloße Form hinaus.“ In ihrer Arbeit an der
Technischen Hochschule Deggendorf un-
tersucht sie, wie biologische Vorbilder für
technische Innovationen praktisch ge-
nutzt werden können. Dabei geht es auch
um Skalierung und die Vergleichbarkeit
der Systeme.
„Nicht alles, was in der Biologie zum Bei-
spiel auf Zellebene passiert, funktioniert
auch im Großen. Und wenn man die Flug-
technik einer Biene mit der eines Flug-
zeugs vergleicht, dann redet man über
zwei völlig unterschiedliche Systeme, ob-
wohl beide Objekte fliegen können“, er-
klärt Wanieck. „In der Bionik gilt es daher,
die Prinzipien der Natur wirklich zu verste-
hen und für die Technik nutzbar zu ma-
chen.“ Prinzipien wie Selbstregulation und
Multifunktionalität werden bisher im Bau-
wesen kaum genutzt, obwohl sie in der Na-
tur omnipräsent sind. Gerade sogenannte
adaptive Gebäude, die sich wie ein Organis-
mus an Veränderungen anpassen, könn-
ten einen wesentlichen Beitrag zum Klima-
schutz leisten, da sie weniger Energie ver-
brauchen und weniger Verschleißteile ha-
ben.
Immer mehr Gebäude haben
großeGlasfassaden.
Forscher arbeiten daher an
einem Sonnenschutz,
der kaum Wartung braucht
Von der Natur inspiriert: Der Blendschutz Flectofold lässt sich ohne Gelenke entlang
seinerDiagonalenzusammen- und wieder auffalten. FOTO: FLECTOFOLD
Vorbild Fliegenfalle
Wie lässt sich ein Gebäude vor der Sonne schützen? Bei der Entwicklung neuer Bauteile schauen sich Wissenschaftler
Prinzipien aus der Natur ab. Zum Beispiel von Orchideen, Tannenzapfen oder fleischfressenden Pflanzen
DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019
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BAUEN & WOHNEN
Orchideen, Tannenzapfen, Venusfliegenfalle: Pflanzen können vor Gefahren nicht weglaufen, aber sie können Überlebensstrategien entwickeln. FOTO: IMAGO(2), GETTY IMAGES
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