Die Finanzbloggerin Natascha
Wegelin will Frauen ermutigen, selbst
vorzusorgen fürs Alter. Seite 52
Morgen
FOTO: JACQUELINE HÄUßLER
Noch immer wird Diego Maradona in
Neapelverehrt wie ein Heiliger. Reise
in eine Stadt voller Liebe Seite 51 Ständig versichert uns irgendjemand,
dass „allesgut“ sei. Aber was genau soll das
eigentlich bedeuten? Seite 51
DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 49
GESELLSCHAFT
E
s ist ganz leicht: Zwei Mal nach
rechts wischen, einmal mit dem
Daumen tippen – schon liegt
mir die Welt zu Füßen. Kathari-
na ist wandern in Neuseeland,
Sophie macht Yoga auf Bali, Stella hilft in
einem ugandischen Kinderkrankenhaus.
Ich begleite meine Freunde um den Glo-
bus. Auf Instagram lassen sie mich an
ihren Erlebnissen teilhaben. Nur: Selbst ge-
sehen habe ich all diese Länder noch nie.
Mit 25 Jahren habe ich Europa kein einzi-
ges Mal verlassen. Bis vor Kurzem war mir
das egal. Doch neuerdings quält mich der
Gedanke: Ist es jetzt zu spät? Nimmt mir
mein schlechtes Gewissen in Zeiten von
„Fridays for Future“ und Flugscham die
Möglichkeit, die Welt zu entdecken, die ich
bisher nur von Instagram kenne?
Erst Europa, dann der Rest: Dieser Ge-
danke hat mein Reisen bestimmt, seit ich
klein war. In meiner Kindheit fuhren wir
im Winter zum Skifahren nach Österreich,
im Sommer nach Italien. Zwei oder drei
Mal waren wir mit Freunden auch in Frank-
reich und Spanien. Irgendwann kauften
meine Eltern ein kleines Ferienhaus am
Gardasee. Von nun an gab es nur noch
einen Urlaubsort: Brenzone sul Garda. Je-
den Sommer dieselben grünen Klapplä-
den, derselbe von der Sonne vertrocknete
Rasen, dieselbe Pizza, derselbe Strand. Das
war eintönig, aber in seiner Kontinuität
auch irgendwie schön. Die Sonne schien
damals noch heiß vom Himmel, ohne dass
irgendwer sich deshalb Sorgen machte.
Auch als ich längst nicht mehr auf dem
Rücksitz meiner Eltern saß, den jährlichen
Familienurlaub ansteuernd, änderte ich
nichts an meinem Urlaubsverhalten. Die
großen Reisepläne schob ich weiter in die
Zukunft. Wenn ich einen Partner habe,
wenn ich ein festes Einkommen habe,
wenn ich Kinder habe. Warum? Den
Drang, über den Ozean zu fliegen, habe ich
damals nicht verspürt. Vermutlich war ich
auch einfach zu faul – zum Planen und
zum Sparen. Und in Europa gab es ja noch
genug zu entdecken. Noch heute stehen
hier mehr Länder auf der Soll- als auf der
Habenseite meiner Reiseliste.
Und jetzt? Am Horizont der mit dem Zug
erreichbaren Reiseziele sehe ich plötzlich,
wie sich ein Fenster schließt. Das Fenster
des Machbaren und Sagbaren. Natürlich
verbietet mir niemand, mir jetzt sofort ei-
nen Flug nach Bangkok zu buchen, doch
überall fliegen mir Zahlen und Statistiken
entgegen, die sich mir nach und nach ein-
brennen. Die jährlich verursachten Schad-
stoffemissionen eines Deutschen: etwa
zwölf Tonnen. Ein Flug von München nach
New York, hin und zurück: vier Tonnen.
Zielwert der Emissionen pro Kopf und
Jahr: eine Tonne – ein Viertel des Fluges
nach New York. Man muss kein Mathemati-
ker sein, um zu kapieren, dass Fliegen sehr
schädlich für die Welt von morgen ist.
An manchen Tagen ärgere ich mich
über die verpasste Chance. Oder besser ge-
sagt, über mich selbst. Der Gedanke, nicht
schnell genug zugegriffen zu haben am
Wühltisch der Fernreiseschnäppchen,
schmerzt dann richtig. Hinzu kommt der
Neid, den ich durchaus empfinde, wenn an-
dere mir von ihren Reisen nach Thailand
und Südafrika vorschwärmen. Viele mei-
ner Freunde strahlen einen Entdecker-
geist aus, von dem ich nicht mal weiß, ob
ich ihn überhaupt besitze. An solchen Ta-
gen bin ich mir sicher: Wenn wir das Klima
wirklich retten wollen, darf es keine Aus-
nahmen geben, kein „war doch nur ein ein-
ziges Mal“. Und ich bin überzeugt: Ich habe
etwas Wichtiges im Leben verpasst.
An anderen Tagen wiederum beruhige
ich mein Gewissen damit, dass der Flugver-
kehr ja nur 2,7 Prozent der weltweiten
CO2-Emissionen ausmacht. Ein einziges
Flugticket in die Ferne, was macht das
schon für einen Unterschied? Wenn alle an-
deren fliegen, kann ich doch auch ... Dann
öffnet sich das Fenster der Möglichkeiten
wieder einen kleinen Spalt. Machu Picchu,
Times Square und Taj Mahal rücken dann
wieder in greifbare Nähe.
Doch trotz persönlichen inneren Kon-
flikts: Dass gerade ein Umdenken vor al-
lem unter jungen Menschen stattfindet, ist
wichtig, zweifellos. In meinem Freundes-
kreis ist der ökologische Fußabdruck zu ei-
nem Modebegriff geworden, den manche
am liebsten als positive Referenz in ihren
Lebenslauf aufnehmen würden. Klimabe-
wusstsein ist zur Imagefrage geworden.
Wer in meinem Alter ein eigenes Auto hat,
verschweigt das lieber oder hat einen wirk-
lich guten Grund dafür. Wir kaufen in Un-
verpackt-Läden ein und haben die To-go-
Becher aus unseren Händen verbannt. Das
Bild des umweltbewussten jungen Men-
schen – viele meiner Freunde entsprechen
ihm. Doch nicht nur sie. Nachhaltig zu le-
ben ist inzwischen in der Mitte der Gesell-
schaft angekommen und längst nicht
mehr denen vorbehalten, die wir früher als
Ökos bezeichneten.
Von Älteren bekommen wir oft zu hö-
ren, dass gerade wir Jungen es doch seien,
die ständig um den Globus fliegen. Mit
Work and Travel nach dem Abi nach Aus-
tralien, während des Studiums ins Aus-
landssemester nach Mexiko, über das ver-
längerte Wochenende zur Freundin nach
Paris. Eine Studie der Forschungsgemein-
schaft Urlaub und Reisen aus dem vergan-
genen Jahr bestätigt das: 60 Prozent der
20- bis 29-jährigen Deutschen nutzen für
Urlaubsreisen das Flugzeug – mehr als in
jeder anderen Altersgruppe.
Und wie ist es jetzt, nach oder mit Fri-
days-for-Future-Demos? Einen „Greta-Ef-
fekt“ bei Flugreisen konnten in diesem
Sommer bislang weder die Billig-Airlines
Easyjet und Ryanair noch Lufthansa fest-
stellen.
Es ist schon paradox: Einerseits gerie-
ren wir uns nur allzu gern als klimabe-
wusst und wählen die Grünen, anderer-
seits möchten wir auf Fernreisen offen-
sichtlich nicht so einfach verzichten. Eine
Bekannte erhebt zum Beispiel oft leiden-
schaftlich und öffentlich das Wort gegen
Klimasünder. Auf ihrem Whatsapp-Profil-
bild war eine Zeit lang ein Selfie von ihr zu
sehen, im Hintergrund die Chinesische
Mauer. Ein anderer Bekannter erzählte
mir kürzlich von seiner dritten Asienreise
innerhalb eines Jahres. Halb im Spaß frag-
te ich ihn, ob er an seinen ökologischen
Fußabdruck denke. Ja, das beschäftige ihn
schon, antwortete er zerknirscht. Aber sei-
ne Freundin lebt nun mal in Japan.
Am nächsten Tag ärgerte ich mich über
meinen Kommentar. Ich war gerade auf
dem Weg zu meinem Freund – mit dem
Rad. War es nicht total verständlich, dass
mein Bekannter die Sehnsucht nach seiner
Freundin über den Umweltschutz stellte?
Ist ozeanübergreifende Liebe nicht das
schönste Nebenprodukt einer globalen
Wirtschaft?
Ein weiterer Grund für unser oft parado-
xes Verhalten ist sicherlich, dass wir mit
der Selbstverständlichkeit von Fernreisen
groß geworden sind. Kam ich als Schul-
kind nach den großen Ferien aus Italien zu-
rück, erzählte mindestens ein Kind vom Ur-
laub auf den Malediven, ein anderes zeigte
der Klasse bunte Fotos aus Kuba. Wer in
den Ferien „nur“ in Italien oder Österreich
war, galt schon damals irgendwie als lang-
weilig. Im Post-Sommerferien-Vergleich
mit den Malediven- und Kuba-Kindern
empfand ich immer ein diffuses Schamge-
fühl. Noch schlechter waren da nur die Kin-
der dran, deren Eltern sich überhaupt kei-
ne Urlaube leisten konnten. Bald schon
wird es vielleicht genau andersrum sein.
Doch es ist nicht nur diese Selbstver-
ständlichkeit des Reisens, die uns beglei-
tet. Sondern auch das damit einhergehen-
de Loblied der „Charakter formenden Be-
reicherungen“. Das Zurechtfinden in der
Fremde, die Auseinandersetzung mit ande-
ren Kulturen, der legendäre Kulturschock
- all das wurde uns jahrelang als wichtige
Erfahrung auf dem Weg zum Erwachsen-
sein verkauft. Kollegen in ihren Vierzigern
erzählen mir gerne ausführlich von ihren
Trips durch Afrika und Asien. Ältere Ver-
wandte schwärmen davon, wie der Kon-
takt mit fremden Kulturen ihren kulturel-
len und politischen Horizont erweitert ha-
be. Wie eine Zeit sie prägte, in der Reisen in
ferne Länder plötzlich für viele möglich wa-
ren. Ständig werden wir mit dem Gefühl
konfrontiert, uns entginge etwas, wenn
wir uns nicht wenigstens einmal im Leben
durch den Dschungel gekämpft oder die
Folgen widriger Hygieneverhältnisse zu
spüren bekommen haben. Allein für das
Reisen nach dem Schulabschluss gibt es
unzählige Ratgeber. In Paul David Bühres
Buch „Das Jahr nach dem Abi“ kann man
zum Beispiel lesen, wie er eine chinesische
Kung-Fu-Schule besucht oder in Indien
Grundschüler unterrichtet. Sein Gefühl
vor dem Abflug beschreibt Bühre so: „Auf
der Autobahn nach Tegel begann sich eine
Art Leichtigkeit in mir auszubreiten, und
ich musste grinsen vor lauter Vorfreude
auf das Unbekannte und darauf, dass mein
Leben endlich wieder in Schwung kom-
men würde.“
Gerade wir sollen nun aber radikal um-
denken und statt zur Rucksacktour durch
Kambodscha in die österreichischen Berge
aufbrechen. Wieso sollen die Abenteuer in
aller Welt den Generationen vor uns vorbe-
halten sein? Wann kommt mein Leben „in
Schwung“? Braucht es den Kulturschock
dafür wirklich?
Anruf bei Wolfgang Aschauer, Touris-
mussoziologe von der Uni Salzburg. Ja,
sagt der 39-Jährige, aus soziologischer
Sicht gelte die Überwindung eines Kultur-
schocks als wertvoll. Unsere Gesellschaft
sei nun mal von Abenteuerlust geprägt.
„Menschen auf Reisen sind auf der Suche
nach tief greifenden Erlebnissen, um dem
stressgeplagten Alltag einen Sinn zu verlei-
hen.“ Doch so zu reisen wie früher werde
immer schwieriger. „Das alternativtouristi-
sche Entdeckermotiv der Sechziger- und
Siebzigerjahre geht verloren, weil vieles
kommerzialisiert ist.“ Eine authentische
Begegnung mit der fremden Kultur sei in
vielen Destinationen kaum noch möglich.
Ist das nicht noch so ein Zeichen unserer
Zeit? Das ewige Streben nach der Ferne hat
deren Exotik längst zerstört. „Klar“, sagt
Aschauer, „man kann sich schon fragen,
ob es da nicht mehr Genügsamkeit
braucht.“
Zweiter Anruf bei Felix Ekardt. Der
47-Jährige leitet die Forschungsstelle
Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leip-
zig, beschäftigt sich viel mit dem Thema
Fernreisen. Fragt man ihn, was man eigent-
lich verpasse, wenn man auf die kulturelle
Begegnung im fernen Ausland verzichte,
lautet seine Antwort: „Nichts.“ Dass Fern-
reisen den kulturellen Horizont erweitern,
sei oft Augenwischerei. Man wolle eher an-
deren Menschen beweisen, wie weltoffen
man sei, wenn man durch Häuserschluch-
ten in Bangkok laufe. „Bei einer Zugreise
nach Albanien kann man mindestens ge-
nauso viel erleben, aber das klingt eben
nicht so abenteuerlich.“ Der ganze Fernrei-
senzauber also nur eine gewaltige Illusion?
Zumindest hätte ich dann vielleicht doch
nichts Wichtiges im Leben verpasst.
Ich muss an meine Mutter denken. Sie
war in ihrem Leben nur ein einziges Mal au-
ßerhalb von Europa, in den USA. „Hat dich
das je gestört, Mama?“ Nie, sagt sie. „Mei-
ne Umgebung gibt mir so viel, dass ich
Fernweh nicht kenne.“ Ob ihr Vielreisende
etwas voraushaben? „Das ist ganz sicher
so, aber ich fühle mich nicht schlechter des-
wegen.“
Das liegt vielleicht auch daran, dass die
Fülle von Möglichkeiten nicht ständig auf
ihrem Smartphone aufleuchtet. Anders als
bei mir. Zwei Mal nach rechts wischen, ein-
mal mit dem Daumen tippen – schon liegt
mir die Welt zu Füßen.
Einen „Greta-Effekt“ konnten in
diesem Sommer weder Easyjet
noch Lufthansa feststellen
Ständig wird uns suggeriert,
uns entginge etwas, wenn wir
keine fernen Länder entdecken
Gestern
FOTO: THOMAS GRÖBNER
Heute
„Ich hoffte, dass ich überleben
würde“:Hans-Jochen Vogel
im großen Interview Seite 56
Krieg und Frieden
Wer in meinem Alter ein eigenes
Autohat, verschweigt das lieber
- oder hat einen guten Grund
Wohin
die Reise geht
Unsere Autorin ist 25 und hat Europa
noch nie verlassen.
Die Welt entdecken, das wollte sie sich
immer für später aufheben.
Doch jetzt, wo bei jeder Flugreise die CO2-Bilanz
das Gewissen belastet, fragt sie sich:
Habe ich meine Chance verpasst?
von laura krzikalla
Europa als riesige Insel
im Ozean? Wer den
Klimaschutz ernst nimmt,
für den rücken die
Kontinente plötzlich wieder
weiter auseinander.
England – USA mit dem
Segelboot? Dauert zwei
Wochen.ILLUSTRATION: ALPER ÖZER