HELL’S KITCHEN (XXXIII)
MindestlohnDass esheute den gesetzli-
chen Mindestlohn gibt, ist ein großer Er-
folg – den es nicht gäbe, wäre es 2001
nicht zur Gründung von Verdi gekom-
men, einer Gewerkschaft mit zwei Millio-
nen Mitgliedern. Keine der Vorgängeror-
ganisationen, auch nicht die ÖTV, hätte
so viel Kraft und Einfluss entwickelt, um
ihn durchzusetzen. Anfangs wurde ich ge-
fragt, ob wir sie noch alle hätten? Es laufe
doch den Interessen der Gewerkschaften
total zuwider, wenn der Staat eine Unter-
grenze für die Löhne festlege. Dass ein
Mindestlohn verhindert, dass das gesam-
te Lohngefüge in der Gesellschaft ins Rut-
schen gerät, hatten viele nicht im Blick.
Es gab eine Briefzustellfirma im Allgäu,
die zahlte einen Tagesgrundlohn von
4,05 Euro. Alle anderen Lohnbestandteile
waren auf Stücklohnbasis. Der Chef sag-
te: Dass man damit seine Familie nicht er-
nähren könne, sei normal. Es ist uns ge-
lungen, die Debatte ins Grundsätzliche zu
lenken: Wollen wir wirklich in einer Ge-
sellschaft leben, in der Arbeit arm macht?
Ob es der größte Erfolg von Verdi ist?
Es ist auch ein großer Erfolg, in Verdi die
starke Dienstleistungsgewerkschaft des
Landes geschaffen zu haben. Verdi ist plu-
ralistischer, politischer, weiblicher, dis-
kursiver und weniger hierarchisch als vie-
le andere Gewerkschaften.
RATTELSCHNECK
FamilieIch mit meinen Eltern, 1952 in
Helmstedt. Meine Mutter hatte im
Krieg einen Bauchschuss, sie konnte
nur ein Kind kriegen, das war ich. Als sie
später wieder als Krankenschwester ar-
beiten wollte, kam ich in den Kindergar-
ten. Aber den hab’ ich zwei Wochen lang
Tag für Tag zusammengeschrien. Dar-
auf nahm sie mich heraus und gab die
Arbeit auf. Mein Vater: Betriebsrat in ei-
ner Spinnerei. Nachdem die zumachte,
ging er zu VW, ans Band. Wechsel-
schicht, pendelnd, mit dem Bus. 1959 zo-
gen wir nach Wolfsburg. Ein zivilisatori-
scher Fortschritt: Toilette in der Woh-
nung statt Plumpsklo überm Hof, Bade-
wanne, Balkon. Meine Eltern stammen
aus der linken Arbeiterbewegung. 1952
hatte mein Vater zusammen mit Kolle-
gen an einem Seminar in der Tschecho-
slowakei teilgenommen. Ein Spitzel ver-
riet sie, worauf die SPD alle aus der Par-
tei ausschloss. Auch meinen Vater. Das
Lustige daran: Er war gar kein Mitglied.
von christian zaschke
Meine Spaziergänge durch den Central
Parkbeginnen immer links unten am
Columbus Circle. Es ist ein Glück, dass
meine bescheidene Bleibe in einem
ehemaligen Schwesternwohnheim
lediglich zehn Minuten vom Park ent-
fernt liegt, dadurch ist er gewisserma-
ßen mein Garten geworden. Mindes-
tens einmal pro Woche durchmesse ich
ihn in seiner Gänze, oft auch zwei-
oder dreimal pro Woche. Es gibt, abge-
sehen vielleicht von einer gewissen
Schrottbar, auf die hier nicht näher
eingegangen werden soll, keinen besse-
ren Ort in New York.
Durch den Central Park zu spazieren
ist immer gut fürs Gemüt. Aber wenn
mir, was selten vorkommt, der Miss-
mut am Mundwinkel zerrt und nieseln-
der November in die Seele einzieht,
dann erfrischt so ein Spaziergang Herz
und Hirn und überhaupt alles wie eine
große Fahrt über das Meer.
Vom Columbus Circle geht’s rüber
zu den Heckscher Ballfields, wo Men-
schen, die absolut nicht Baseball spie-
len können, Baseball spielen. Dann
laufe ich zu einer Allee namens „The
Mall“, von deren Rande Statuen von
Schriftstellern auf die Passanten bli-
cken. Gleich zu Anfang stehen die
schottischen Giganten Robert Burns
und Walter Scott einander in Bronze
gegenüber. Da ich aus Gründen, die
sich heute nicht mehr ganz nachvollzie-
hen lassen, einst an der Universität von
Edinburgh unter anderem schottische
Literatur studiert habe, beglücke ich
meine Besucher an dieser Stelle des
Parks mit Rezitationen von Burns-Ge-
dichten und setze zu diesem Zwecke
einen lächerlichen schottischen Akzent
auf. Habe ich ausnahmsweise gerade
keine Besucher, falle ich wildfremden
Passanten damit auf die Nerven.
In der Unterführung vor der Bethes-
da Terrace spielen oft sagenhaft gute
Musiker, und zu diesem Zeitpunkt ist
die Laune des Spaziergängers schon
wieder exzellent. Dann gilt es, das Na-
delöhr an der Bow Bridge zu passieren,
wo sich fast immer ein Idiot findet, der
das Lied „Careless Whisper“ von
Wham!auf dem Saxofon spielt. Außer-
halb von Jazzbands sollten Saxofone
verboten werden.
Weiter, fast vorsichtig, sehr allmäh-
lich, durch „The Ramble“, den wildes-
ten Teil des Parks, in dem es sich treff-
lich heimlich rauchen lässt. Ausgreifen-
den Schrittes passiere ich danach das
Wasserreservoir in der Mitte des Parks
auf der rechten Seite, schlendere durch
den Conservatory Garden, der über
einen italienischen, einen französi-
schen und einen englischen Teil ver-
fügt, sitze anschließend eine Weile am
Harlem Meer, ganz im Nordosten, und
denke über alles nach, bis ich rauflaufe
zur 110th Street, die, wie sollte es sonst
sein, nach Bobby Womacks Song
„Across 110th Street“ benannt ist, ei-
nem der besten Lieder der Geschichte.
Dort besteige ich den C-Train zu-
rück nach Hause, nach Hell’s Kitchen,
vielleicht nie als neuer, aber jedes Mal
als glücklicherer Mann.
Parklife
FreundeDiesesBild entstand Anfang
2018, zum Auftakt der Tarifrunde für
Bund und Kommunen. Das bin ich zu-
sammen mit Thomas Böhle, dem Chef
des Münchner Kreisverwaltungsrefe-
rats. Mit ihm und den jeweiligen Bundes-
innenministern als den Arbeitgeberver-
tretern habe ich anderthalb Jahrzehnte
lang den Tarifvertrag für den öffentli-
chen Dienst ausgehandelt. Ich schätze
ihn außerordentlich. Und wie das so ist:
Das Vertrauen ist da, die Chemie
stimmt, wir sind längst Freunde. Aber
wir haben beide immer absolut rollen-
klar agiert. Man kann befreundet sein
und trotzdem hart miteinander ringen.
AnfängeHier binich als Sekretär der Fal-
ken, des sozialistischen Jugendverban-
des. 1982 oder ’83 im Zeltlager für Lehrlin-
ge an der Dordogne. In der SPD war ich da
schon lange nicht mehr. 1967 trat ich ein,
1970 schmiss sie mich raus. Die DKP, also
die Deutsche Kommunistische Partei,
brauchte 4000 Unterschriften, um bei
der Wahl in Niedersachsen antreten zu
dürfen. Wir Jusos fanden: Das sollen sie
können, ob sie es dann in den Landtag
schaffen, entscheiden die Wählerinnen
und Wähler. Also unterschrieben wir. Es
gab Parteiausschlussverfahren gegen
fast den gesamten Juso-Unterbezirksvor-
stand. Seit 1986 bin ich bei den Grünen.
PolitikGerhard Schröder und ich kennen
uns seit den frühen Neunzigern. Im Zuge
der Agenda 2010 sind wir wirklich anein-
andergerasselt, ich war der bestgehasste
Gewerkschaftsvorsitzende. Ein herzli-
ches Verhältnis hatten wir nie, er hat ja
seine eigenen Umgangsformen. Bei ei-
nem Abschiedsessen für den IG-Metall-
Vorsitzenden Klaus Zwickel im Kanzler-
amt begrüßte er mich so: „Wer hat dich
denn eingeladen?“ Und ich: „Na wer
wohl? Er!“ Später hat es aber auch kons-
truktives Miteinander gegeben. Zum Bei-
spiel, als Schröder zugunsten von 16 000
Arbeitsplätzen bei Kaiser’s-Tengelmann
vermittelte. Kanzler treten schon ver-
schieden auf. Was ich an Angela Merkel
so schätze: Da, wo Schröder autoritär wur-
de, da fängt sie an zu argumentieren.
FührerscheinDas muss bei meiner Ein-
schulung gewesen sein. Es suggeriert ein
Interesse, das ich später nie gezeigt habe:
Ich habe nämlich nie den Führerschein
gemacht. Irgendwie fand ich Autofahren
nicht so prickelnd. Der Sohn der Vermie-
ter meiner Großeltern bekam mit 16 ein
Moped geschenkt. Zwei Wochen später
nahm er eine Kurve falsch, sein Bein ge-
riet zwischen Maschine und Schotter,
hing nur noch an einer Sehne. Halbes
Jahr Krankenhaus, Lehrstelle weg, seine
Freundin auch. Hat mich nicht davon
überzeugt, dass man einen Führerschein
braucht. Und ich habe immer in Städten
mit gut ausgebautem Nahverkehr gelebt.
Ein Dienstag im August,FrankBsirske, 67, ist ins Hochhaus der SZ gekommen.
Ende September hört er als Vorsitzender von Verdi auf; seit der Gründung vor 18 Jahren
hat er die Gewerkschaft geführt. Den Tee trinkt er kannenweise, „da bin ich süchtig“,
sagt Bsirske. Dann erzählt er, ohne dass man viel nachfragen müsste, zwei Stunden lang
protokolle: detlef esslinger
An dieser Stelle beglücke ich
meine Besucherstets mit
schottischen Gedichten
Karriere1993, die Hochzeit mit meiner
Frau Bettina. Wir kommen in Hannover
aus dem Standesamt. Und da standen
dann Kolleginnen und Kollegen von mei-
ner Frau aus dem Jugendamt und von mir
aus der ÖTV zum Gratulieren. Zur Feier
des Tages hatten sie sich mit Streikwes-
ten chic gemacht. Wir stehen da übrigens
vor einem Friseursalon. Der Inhaber kam
irgendwann heraus und bat uns dringend
weiterzugehen. Andernfalls sehe das ja
aus, als werde bei ihm gestreikt.
Ich war zu der Zeit stellvertretender
Vorsitzender der Gewerkschaft Öffentli-
che Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV)
in Niedersachsen. 1997 wurde ich Perso-
naldezernent von Hannover. Und dann
kam im November 2000 der letzte Bun-
deskongress der ÖTV in Leipzig. Die Fusi-
on mit vier anderen Gewerkschaften zu
Verdi stand an, aber es gab viel Unmut: In
der großen ÖTV hatten viele keine Lust,
zu viel Rücksicht auf die kleineren Ge-
werkschaften zu nehmen. Und die wieder-
um hatten alle Angst vor der großen ÖTV.
In einer Probeabstimmung sprachen sich
nur 62 Prozent für die Fusion zu Verdi
aus. Nötig waren 75 Prozent. So beschloss
ÖTV-Chef Herbert Mai, als Vorsitzender
lieber gar nicht erst wieder anzutreten.
Also wurde jemand von außen gesucht,
der unvorbelastet war, und dem man zu-
trauen konnte, die Gräben zu überbrü-
cken. Kurz vor 16 Uhr an dem Tag wurde
ich in Hannover angerufen. Meine Frau
und ich stiegen in den Zug nach Leipzig,
um 22.40 Uhr kamen wir an, bis zwei Uhr
sprach ich mit den Kolleginnen und Kolle-
gen alles durch. Von zwei bis fünf schrieb
ich meine Rede, um neun hielt ich sie, und
dann haben sie mich mit mehr als 95 Pro-
zent gewählt. Vier Monate darauf wurde
ich Vorsitzender von Verdi. 2002 zogen
wir um nach Berlin. Bettina ist leitende
Angestellte in einem Verkehrsbetrieb.
FOTOS: DPA/PA (3); ANDRÉ SPOLVINT; PRIVAT (3); ULLSTEIN BILD - BPA
FOTOALBUM
50 GESELLSCHAFT Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH