Der Tagesspiegel - 31.08.2019

(Sean Pound) #1

W


er drei Minuten kalt duschen
kann, übersteht auch fünf Minu-
ten auf einer Bühne. Sanny hat
sich heute früh den Timer auf
drei Minuten gestellt, dann den
Hahn aufgedreht. Er hat danach in seinem
Start-up gearbeitet, Abteilung Sales, und später
Sport gemacht und ist mit den Hunden raus. Und
während nun draußen die Stadt noch bei mehr als
30 Grad brütet, startet hier unten im Keller des
„Cosmic Comedy“-Clubs in Mitte gleich die Show.
Ein Ventilator rührt in der warmen Luft. Sanny,
dem tänzelnden Inder, gehören gleich fünf Minu-
ten auf der Bühne.
Aber bloß nichts überbewerten. Sanny sagt
noch, er will um diese Auftritte kein zu großes
Aufheben machen, sie sollen Teil seines bewegten
Lebens sein. Bloß eines von den vielen Dingen,
die seinen Tag ausmachen. „Wenn ich mich jetzt
schon verrückt mache, wie soll es dann werden,
wenn ich mal berühmt werde?“
Berühmt! Berühmt ist schon der „Cosmic Co-
medy“-Club in Berlin, einer der Ersten, bevor die
Szene in den letzten Jahren explodiert ist. Wes-
halb jetzt auch die Berliner Comedy-Szene be-


rühmt ist. 40 Veranstaltungen in der Woche sind
immer voll.
Niemand hat die Lachsalven gezählt, die all-
abendlich in den Souterrains Berlins den Tag kon-
terkarieren. Da lacht man über die Welt und die
Stadt und das, was einem dort widerfährt. Und
weil nicht alle denselben Humor, aber dieselbe
Sprache haben, ist nicht nur explizit englische
Comedy zu hören, sondern alle Schattierungen
des Humors, von Kalauern bis Publikumsbe-
schimpfung.
Während Berlin tagsüber immer aggressiver zu
werden scheint,Rad-gegenAutofahrer,Mieter ge-
gen Vermieter und Eingeborene gegen Rollkoffer
Stellung beziehen, löst sich das Ganze abends in
einer Punch-Line auf. Der Humor ist ein Entlas-
tungswitz, der Berlin den Druck ablässt. Come-
dians aus allen Ländern verstoffwechseln hier die
Stadt: Sie kommen aus Israel, Rumänien, Schott-
land, Argentinien und Holland. Und genauso ge-
mischt ist das Publikum.
Man kann den Zugezogenen dabei zuhören, wie
siezusammen den Schock verarbeiten, ausgerech-
net in Berlin gelandet zu sein. Nicht dass Berlin so
lustig wäre. Sie haben sich nur entschieden, darü-

ber zu lachen. „Einen Deutschen zu
daten ist einsamer, als Single zu
sein“, schallt es von der Bühne. Der
Saal schmeißt sich weg. Offenbar wis-
sen alle, was gemeint ist.
In den Keller locken „Free shots, free
pizza“ zur Open-mike-Veranstaltung. Über
fünf Meter vegane Pizza, die Neil Numb an sein
Publikum austeilt, sind in 15 Minuten weg. Es ist
so düster, dass der Belag nicht zu erkennen ist.
Außerdem ist es jetzt etwa acht Uhr. Wenn alles
nachPlan läuft,erreicht dieEnergiekurveder Koh-
lenhydrate im Körper der Gäste ihren Höhepunkt
genau dann, wenn Neil die Bühne betritt. Perfek-
tes Timing. „Und whaaaam“, sagt Neil Numb und
haut auf den Tresen, die ersten Witze schlügen
dann ein wie eine Bombe.
Neil Numb ist der Schotte, von dem die Szene
behauptet, er wisse allesübers Marketing,schließ-
lich hat er jahrelang Nachtclubs promotet. Vor
bald zehn Jahren entschied er, dass er lieber Leute
zum Lachen bringen will. Berlin, sagt Numb, sei
heute das Zentrum der englischen Comedy welt-
weit. Weltweit? Ja, dass ein Künstler an einem ein-
zigen Abend drei Auftritte hintereinander bestrei-

ten kann, sei
weltweit„un-
heard of“.Nir-
gendwo anders
auf der Welt vor-
stellbar. „Stage
Time“istdas Zauber-
wort. Das sind die Flug-
stunden der Witzpiloten und
sie sind günstig zu haben in Berlin. Es genügt, sich
anzumelden,odergarwieimNeuköllner„Comedy
Café“ einen Zettel mit dem Namen in einen Hut zu
werfen.Wirdergezogen,bekommtmanfünfMinu-
ten, umdasPublikum zumLachen zubringen.
Jetzt muss Neil auf die Bühne. „Die Deutschen
sind dermaßen effizient, dass ihr Oktoberfest
schon im September stattfindet“, wirft er dem Pu-
blikum hin. Das lacht sich kaputt.
Neil Numb führt an diesem Abend durch die
Show, weil sein Partner, Dharmander Singh, der
Brite mit indischen Wurzeln, gerade in Edin-
burgh ist. Neil Numb kennt natürlich diesen
Witz, dass die Deutschen keine Komiker mehr
hätten, weil sie die alle umgebracht haben. Aber
er hält es für einen Mythos, dass die Deutschen

keinen Humor hätten. Sie reagieren bloß anders
darauf.
Spot on Sanny, kalt geduscht: „Wollt ihr wissen,
was eine wirklich nutzlose Superkraft ist?“, fragt
er. Kunstpause. „Stell’ dir vor, du kannst dich un-
sichtbar machen, und keiner sieht hin.“ Man
braucht hier keine Lacher einzuspielen, die sind
echt.
Üben vor dem Spiegel funktioniert nicht, hatte
Sanny gesagt, „das geht nur auf der Bühne“. Nur
am lebenden Publikum könne man testen, ob eine
Pointe funktioniert. Sanny – die Welt der Comedy
ist eine Welt der Vornamen – ist in Indien mit fünf
Jahren auf ein Internat britischen Stils gekommen,
„ein Gefängnis mit Ausbildung“. Dort wurden sie
morgens um fünf mit Trillerpfeifen geweckt. Aus
harten Jahren hat er sich die besten Techniken be-
halten, mit 17 wurde er entlassen. Er weiß nun,
wie man sich diszipliniert, fokussiert.
„Wenn man in einem Bereich nachlässt, wird
man überall schwach“, glaubt Sanny. „Man muss
das Energielevel hoch halten.“ Sport, Arbeit, Co-
medy. Sein Körper ist manchmal so müde, dass er
einschläft, wenn er sich nur auf einen Stuhl setzt.
Also immer in Bewegung bleiben! Doch selbst
wenn er als Comedian einmal sehr erfolgreich
wäre,würde er seineArbeit ungern aufgeben.„Ar-
beit versorgt einen Comedian mit einer Perspek-
tive“, sagt er. Einer Perspektive auf die Welt für
seine Gags.

Jedem Künstler gibt Neil Numb am Ende einen
Video-Mitschnitt seines Auftritts mit, den diese
analysieren können. Neil Numb hat, seitdem er
diesen Club vor Jahren gegründet hat, die Berliner
Szene mit aufgebaut. Alle standen sie schon ein-
mal auf seiner Bühne. Während dieser Zeit hat er
überjedes Detail nachgedacht, die Pizza-Kurve im
Körper seiner Gäste ist bloß eines der Highlights.
Der „Cosmic Comedy“-Club ist längst eine Marke
geworden inklusive Merchandising-Artikeln am
Eingang: Flaschenöffner, Tischtennisschläger und
scharfe Sauce.
„Hey,ichbinSchotte“,sagter.„Humoristmeine
einzige Waffe.“ Und: „Was sie in Berlin Comedy
nennen, ist in Schottland einfach Samstagabend.“
Ständig haben er und seine Freunde sich gegensei-
tig hochgenommen. Irgendwann kam Neil für ei-
nen dreiwöchigen Urlaub nach Berlin. Er ist dann
einfach kleben geblieben, so wie es vielen geht, so
wie man jetzt vor seinem Tresen am Boden fest-
klebt. Neilordertein alkoholfreies Bier.
Als Neil in den 70er Jahren aufwuchs, musste
man an seiner Schule vor allem kämpfen können,
sagt er. Es gab die Rocker und die Mods, die regel-
mäßig aufeinander losgingen. Wer in der Klasse
nicht gemobbt werden wollte,musstezu einerdie-
ser Gruppen gehören oder DJ sein. Vielleicht
kommt daher dieser unbedingte Wille, dass er
hier an vier Abenden die Woche eine freundliche,
wohlwollende Atmosphäre entstehen lassen will,
die alle einschließt.
„Es geht darum, soziale Schranken im Publikum
einzureißen“, von Anfang an. Ein Abend funktio-
niere dann, wenn das Publikum als eines lacht.
Deshalb begrüßen sie jeden persönlich, deshalb
dieShots, deshalb die Pizza. Man glaube gar nicht,
welche Verbindungen entstehen, wenn fremde
Leute gemeinsam aus einem Pizza-Karton essen.
„Selbstwennsie keinWort miteinander reden, ent-
steht etwas untereinander.“
Man könnte glatt auf die Idee kommen, dass es
in Wahrheit gar nicht darum geht, ein tolles Ange-
bot für ein forderndes Publikum bereitzustellen,
sondernumgekehrt einangeregtes, begeisterungs-
fähiges Publikum für aufstrebende Comedians.
Von denen haben viele die ersten Schritte in Caro-
line Cliffords Stand-up-Comedy-Schule gemacht.
„K-Fetish“, Neukölln, die Bar ist als Kollektiv
organisiert. Clifford kommt aus England. Man
kann sagen, Caroline Clifford hat der ausufernden
Berliner Szene in den letzten Jahren Struktur ver-
liehen. Sie hat eine Webseite mit allen Co-
medy-Veranstaltungen auf Englisch program-
miert. Ihre eigene Show „We are not gemüsed“ ist
die am längsten laufende englischsprachige Show
der Stadt. Als sie nicht mehr so viel selbst auf der
Bühne stehen wollte, gründete sie eine Schule für
Stand-up-Comedy, die jedes Jahr immer wieder
Schwünge neuer Leute entlässt, die fortan hungrig

nach „Stage Time“ sind und
den Nachschub der Szene
ausmachen.
Nichts davon gab es, als
sie nach Berlin kam. Als sie
und Neil Numb mit ihren
Shows begannen, haben sie
sichnoch dieWochentageun-
tereinander aufgeteilt, um
sich gegenseitig keine Konkur-
renz zu machen. „Man kann in
Berlin noch immer der Erste
sein – und alle machen mit.“
Etwa 30 Prozent derer, die in ihrer
Schule anfangen, sind Deutsche. Viele,
denen Kabarett zu pupig war, haben bei ihr
Stand-up-Kurse besucht und dann die Prinzipien
wiederum ins Deutsche übertragen. Deshalb
gibt es jetzt auch deutsche Comedy-Formate.
Nicht alle buchen einen Kurs, weil sie dann
auch auf die Bühne wollen. „Manche machen
bloß gerade eine Scheidung durch oder haben
einfach zu viele Kinder.“
Clifford selbst, von klein auf Klassenclown und
„the funny kid“, lebte in einer Umgebung, die „zu
normal“ war, um daraus eine Bühnenkarriere den-
ken zu können. So hat sie jahrelang in London
Webseiten programmiert. Aber London machte
sienervös. Nervöser,alsnormalwar,„anxiety pro-
blem.“ „Ich habe mich in Berlin selbst gefunden –
so wie viele Leute, die in anderen Städten nicht
leben können.“ Die Stadt überfordert einen nicht,
das ruhige Tempo in Neukölln liebe sie.
„We are not gemüsed“ läuft jetzt im achten Jahr
in einem Keller in der Richardstraße. So lange
schon, dass sie nicht mehr aufgeregt ist, bevor es
losgeht. Heute steht sie selbst mit einer Im-
pro-Gruppe auf der Bühne, ansonsten sieben
Leute, davon ein Gast, der auf der Durchreise und
zum ersten Mal in Berlin ist.
Paul Salomone moderiert den Abend. Neulich,
spottet er, habe er mal wieder ein schweigendes
Publikum voller Deutscher gehabt. Hat es euch
nicht gefallen?, habe er gefragt. Doch, sehr! – Und
warum habt ihr nicht gelacht? – „Ich wollte nicht
ablenken.“ Die laut lachende Menge beweist, dass
heute nichtzu vieleDeutscheim Publikum sitzen.
Ein Gast-Comedian aus Melbourne ist an die-
sem Abend da, der meist auf Kreuzfahrtschiffen
arbeitet, weshalb er zunächst Witze über ster-
bende Passagiere reißt. Das beste Material, sagt
man, komme schließlich aus dem eigenen Lebens-
umfeld.
Der Brite Tim Whelan ist da, der in Oxford
Deutsch studiert und danach drei Jahre als Wirt-
schaftsprüfer gearbeitet hat. Es fiel ihm schwer,
sich das für den Rest seines Lebens vorzustellen –
jetzt tourt er mit einer Bahncard100 durch
Deutschland. Auf dem Flyer für seine eigene
Show telefoniert er mit einer Stange Lauch.
Julieta, erklärte Feministin, hat Buenos Aires
verlassen und damit auch den tief verankerten Pa-
triarchalismus in Argentinien: Sie müssen nicht,
wie für den herkömmlichen Arbeitsmarkt, ihre
schrägen Seiten verstecken, sagt sie. Im Gegen-
teil, die werden auf der Bühne zum Kapital.
Zur Comedy kommt fast niemand direkt. Man
gibt etwas dafür auf, das einem nicht gefallen hat.
Man braucht jaauch etwas, dasman auf derBühne
verarbeiten kann! Comedianssind Leute,diezwei-
feln,Leute,dieetwasabbrechen undsichentschie-
den haben, drüber zu lachen. Comedians in Berlin
erzählen viele Geschichten, die von Entwurze-
lung handeln, sagt Clifford, und eben von der Ver-
wunderung, ausgerechnet hier gelandet zu sein.

„AlleThemen,die starkeGefühle hervorrufen, eig-
nen sich gut.“ Und so ist ein Dienstagabend in ih-
rerShow regelmäßigein Seismograf dafür, welche
ThemeninBerlin emotional zünden.Jedenfallsun-
ter Englisch sprechenden Neuberlinern.
Ihren Schülern rät sie, niemals bei einem ersten
Gedanken stehen zu bleiben. Der erste Gedanke
mag lustig sein, aber der zweite ist dann richtig
gut! Clifford hat Schüler, die kommen mit einem
„unnötig hohen Selbstbewusstsein“. Die nehmen
es als Kompliment, wenn ein Drittel des Publi-
kums lacht. „Aber ein Drittel des Raums ist nicht
genug.“ Frauen hätten oft mehr Scheu, größere
Schwierigkeiten am Anfang. Aber wenn sie durch-

halten, sind sie oft extrem witzig. Es hilft auch,
wenn man einer sogenannten „Randgruppe“ an-
gehört. Vom Rande sieht man mehr. „Am Ende
sind die Seltsamen oft die besseren Comedians“,
sagt Clifford. Die schrägen Vögel, die „geeks
and weirdos“.
Dragos Christian ist kein „weirdo“. „Dragos ist
eineMaschine!“, hatte NeilNumb bewundernd ge-
brüllt. Ein junger Rumäne, der mit der Mission,
berühmt zu werden, von Berlin aus durch Europa
tourt. Jeder kennt Dragos, denn Dragos ist überall.
Er hat die amerikanischen Comedians vor Augen,
die Stadien füllen und Millionen verdienen. Dage-
gen ist Berlin ganz kleines Karo. Er selbst hat sich
auf Witze mit Kulturschock spezialisiert, Witze
über Rumänien. Über Osteuropa. Er bearbeitet
die sozialen Medien. Und jetzt ist er wie jeden
Montagabend zusammen mit dem Deutschen
Chris Döring Gastgeber der „Floating Lounge“,
ein Schiff direkt an der East-Side-Gallery, das
schon allein deshalb Touristen anzieht, weil man
vom Achterdeck sowohl die Oberbaumbrücke wie
den Fernsehturm sehen kann.
„Laughing-Spree-Comedy-Show?“, fragt Dra-
gos. Wer dazu jetzt Ja sagt, bekommt einen Apfel-
schnaps überreicht, 15 Prozent. Dann sind die
Australier, die Israelis, Mexikaner, Engländer und
auch ein paar versprengte Deutsche bereit für sie-
ben Comedians. Einige von ihnen sind so ge-
nannte „First-Timers“, zum ersten Mal auf der
Bühne. „Bitte seid nett zu ihnen.“
Dann geht’s los. Mit Witzen über den Holocaust
unter der Gürtellinie. Bei einem komplizierten
Witz lacht das Publikum drei Mal: Wenn er er-
zählt wird, wenn er erklärt wird und wenn er ver-
standen wird. Am wichtigsten sind bei allen die
Pausen: DerWitz sackt.Sacktetwas tiefer. Kommt
als Lachen wieder hoch.
Es ist ja grundsätzlich etwas merkwürdig, zum
Lachen extra irgendwo hinzugehen. Womöglich
sogar in einen Keller. Liegt nicht ein Teil der Wir-
kung in der Überraschung? Darin, dass eine
Pointe unerwartet kommt?
Vielleicht ist das Bedürfnis nach Comedy so
groß, weil die Fähigkeit dazu so gering ist in Ber-
lin. Womöglich hat der Boom der Comedy-Shows
zu bedeuten, dass hier in großem Stil ein Outsour-
cing stattfindet? Wäre es möglich, dass Berliner
mit ihrer passiv-aggressiven „Schnauze“selbstwe-
nig Humor haben? So wenig, dass sie ihn lieber
Profis überlassen und dann für eine Dienstleis-
tung bezahlen? So, wie man auch andere Dinge
Menschen überlässt, die das besser können, Flie-
senlegen zum Beispiel?
Nur dass man mit dem Lachen hier etwas ausla-
gert, was eigentlich zum Menschen gehört.
In der „Floating Lounge“ spricht nun der
Schwarze, der immer für einen Dealer gehalten
wird. Na klar, da dockt das Publikum an. Ein ande-
rer karikiert die deutschen Supermarktkunden,
die es nicht aushalten, wenn jemand das Trenn-
hölzchen nicht aufs Band legt! „Damit kriegt man
sie jedes Mal! Ein sicherer Lacher auch die Persi-
flage der Kassiererinnen bei der Bio Company, die
während der Arbeit meditieren – eine ganz eigene
Interpretation von Slow Food.
Die Comedy-Szene scheint kurz wie eine Art
Notwehr, so eine Art Selbsthilfegruppe, die seit
Jahrenwächstundgegenseitig die eigenen Nieder-
lagen zum Lachen freigibt. Da sind Tinder-Opfer,
Rassismus-Opfer und Antisemitismus-Opfer, die

ihre Demütigungen des Tages am Abend als
Pointe servieren. Wer über etwas lacht, gewinnt
die Hoheit zurück.
Dann kommt Nir Soffer mit seinen Holo-
caust-Witzen. Schwarzer Humor, schwarze Visi-
tenkarte, auf der steht: „Verfügbar für Unterneh-
mensveranstaltungen, Bar Mitzvahs, Kinderge-
burtstage und alle Gelegenheiten, bei denen
Scherze über Konzentrationslager angemessen
sind.“ Nun ja. Und weil Humor eine todernste Sa-
che ist, kann man noch bis frühmorgens mit Nir,
Dragos und Chris Doering zusammensitzen und
über Comedy reden.
Nir hat, bis er vor zwei Jahren nach Deutsch-
landkam, als IT-Spezialist gearbeitet.Er istisraeli-
scher Jude. Seitdem hat er sich darauf speziali-
siert, den Deutschen Holocaust-Witze zu erzäh-
len. „Und sie lassen es mir durchgehen“, freut er
sich. Gute Laune, harte Themen, ambivalente Ge-
fühle. Das liegt an der Grenzüberschreitung. Er
veranstaltet jeden Dienstag ein Open mike in
Prenzlauer Berg, und im September gibt es „The
Berlin Offensive“, eine Show mit schwärzestem
Humor.
Aber ist das wirklich witzig? Ist das nicht längst
ein Genre geworden, das nur noch die Banalität
des Blöden zeigt? Nir glaubt, Witz entspränge im-
mer einem Unbehagen. Er genießt es,
wenn sich 30 Prozent des Publi-
kums befangen in seinen Sit-
zen kräuselt und peinlich
berührt immer kleiner
wird. Darf man darü-
ber lachen? Humor
sei immer auch
Grenzüberschrei-
tung, glaubt er.
Die Erlaubnis
dazu erarbeite
er sich, indem
er sich ausgie-
big vorher
selbst be-
schimpft:„Die-
ser dicke, häss-
liche Jude, der
hier steht in sei-
nen Crocs!“
Warum aber
kommen so viele
Comedians aus der
IT? Ist IT so langweilig,
dass die Leute in Comedy
flüchten? Nö, sagt Nir,
„IT-Leute sind so schlau, dass sie
es schaffen, neben ihrem Job auch
noch eine Comedy-Show am Laufen zu hal-
ten.“
Durch Netflix und Youtube sind ja über-
all die Formate bekannt, sagt Chris Do-
ering. Die ganze Welt wachse jetzt ge-
rade mit englischen Comedy-Formaten
und den Stars der Szene auf. Deshalb
kommen sie bestens informiert aus der
Ukraine, Rumänien, aus Finnland nach
Berlin.
Doering, der Deutsche in der Runde,
hatzuvor Kabarettgemacht, bevor er inMe-
xiko und England lebte und zum
Stand-up-Comedian wurde. Und ist Verhal-
tensökonom, der an der Londoner LSE studiert
hat. „Wenn Kabarett Jazz ist, ist Comedy
Rock’n’Roll“, sagt er. Kabarett müsse pointiert
sein und dürfe zusätzlich lustig sein. Comedy da-
gegen müsse in jedem Fall lustig sein und könne
pointiert sein. Seit anderthalb Jahren veranstaltet
er jeden Montag die „Laughing Spree Co-
medy“-Show. AlsComedian, sagter,gehst dustän-
dig deiner Familie auf den Keks, die Testlabor ist
für Pointen.
DochTypen,die immerihreneigenen Freundes-
kreis zum Brüllen bringen, sind nicht zwangsläu-
fig für die Bühne geeignet. Ein fremdes Publikum
reagiere ganz anders. Wer Comedy macht, müsse
eigentlich gerne schreiben und dann genau über
Timing, Präsenz und Pausen nachdenken.
Sieallesagen,dassBerlineinParadiesfürCome-
dians ist. In New York ist der Markt übersättigt,
müssen sie manchmal für ihre Auftritte sogar zah-
len. Und es kann einem passieren, dass das Publi-

kum dann trotzdem nur aus den anderen Come-
dians besteht, die auf ihren eigenen Auftritt war-
ten. Wer wirklich groß werden wolle, sagt Dragos,
müsse irgendwann in ein englischsprachiges Land
wechseln. In Deutschland gebe es halt keine eng-
lischsprachigen Fernsehshows, keine Auftritte in
Stadien.NachderLive-Bühnekommtnichtsmehr.
Das, sagt Chris, ist aber genau der Grund, wes-
halb die Berliner Szene den Ruf hat, besonders
freundlich und willkommenheißend zu sein: weil
nichts zu holen ist! Weil es nichts gibt, um das sie
kämpfen könnten. Anfänger lieben das natürlich.
DieShowssindvollerLeute,dieamEingangschon
einen Schnaps spendiert bekommen haben. Viele
kosten keinen Eintritt, Spenden sind freiwillig.
Heute Abend hat Dragos am Ausgang für alle, die
die Veranstaltung nachweislich sofort auf Face-
bookempfehlen,Kekseausgeteilt.Kekse!ImErnst.
Nichtüberraschend,dassComedyausgerechnet
hier boomt: Man brauche für eine Show – in einer
Formulierung,dieschonlangevordem Gendering
in Umlauf war – nur „a man and a mic“, einen
Mann und ein Mikrofon. Die Produktionskosten
sind extrem gering. Und es gibt nichts zu verdie-
nen. So ist Berlin nun ein Ausbildungslabor für
Comedians und Humor ein Berliner Exportartikel
geworden. Ein hauptsächlich mit Deutschen be-
setztes Publikum erkennen sie daran, dass es bei
gelungenen Witzen anerkennend nickt.
Es liege dann an vielen Faktoren, ob ein Witz
ein Erfolg ist, eine Show zündet, sagt Doering. Er
spricht vom Publikum, dem Timing der Pausen
und der Glaubwürdigkeit des Künstlers, der im
Idealfall eine Seite seiner Persönlichkeit auf die
Spitze treibt. Daran kann man arbeiten.
Leider ist Chris am heutigen Abend aufgefallen,
dass der Erfolg beim Publikum auch davon ab-
hängt, wer zu Beginn an der Tür den „Sauren Ap-
fel“ ausgegeben hat. Bei demjenigen lacht das Pu-
blikum hinterher lauter. „Oder, Dragos?“
Dragos grinst.

Berlins


Mikro-Kosmos


Aus Indien
nach Mitte
Tagsüber arbeitet
Sanny in einem
Start-up, abends
erzählt er Witze.
Er hofft,
dass er damit
eines Tages
berühmt wird.

Am wichtigsten


sind die Pausen:


Der Witz sackt,


kommt als Lachen


wieder hoch


Hochprozentiger Humor
Dragos aus Rumänien
hat sich spezialisiert
auf Witze mit Kulturschock.
Jeden Montagabend tritt er
auf einem Schiff direkt
an der East-Side-Gallery auf,
gemeinsam mit Chris Doering
(Foto unten) ist er Gastgeber
der „Laughing Spree Comedy“.
Jeder Zuschauer bekommt
am Eingang gratis
einen Apfelschnaps.

Lacher, die die Welt bedeuten
Julieta aus Buenos Aires liebt es,
auf der Bühne ihre schräge Seite
zeigen zu können.
Caroline Clifford (Bild ganz oben)
hat früher in London
Webseiten programmiert,
in Berlin gründete sie
eine Schule für Stand-up-Comedy.
Der Schotte Neil Numb,
Urgestein der Szene,
verteilt vor der Vorstellung
vegane Pizza ans Publikum.

Alleine üben


vor dem Spiegel


funktioniert nicht.


Das geht nur


auf der Bühne


Von Deike Diening


Fotos: Kai-Uwe Heinrich (3), Mike Wolff (2), Getty Images/iStockphoto, promo

40 Shows jede Woche,


auf der Bühne


Menschen aus aller Welt:


Comedy in Berlin boomt.


Nicht dass die Stadt


besonders lustig wäre.


Doch man kann wunderbar


darüber lachen,


ausgerechnet hier


gelandet zu sein


MB 2 DER TAGESSPIEGEL MEHR BERLIN NR. 23 931 / SONNABEND, 31. AUGUST 2019 MB 3

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