Der Spiegel - 24.08.2019

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s ist an der Zeit, mit einem modernen Märchen auf-
zuräumen, dem Märchen vom schwachen Staat. Die
wirtschaftspolitische Debatte der vergangenen Jahre
wurde geprägt von der Erzählung, dass im Zeitalter
der Globalisierung der Primat der Politik verloren gegangen
sei. Statt demokratisch gewählter Entscheidungsträger be-
stimmten mächtige Manager in den Konzernzentralen inter-
national tätiger Unternehmen die Geschicke der Weltwirt-
schaft. Der globale Kapitalismus verdamme die Staaten zur
Ohnmacht, sein Gebaren unterhöhle die Fundamente von
Demokratie und Gewaltenteilung. Kapitalinteressen diktier-
ten Regierungen, wie sie zu entscheiden hätten. Gehorchten
diese nicht der neuen Macht, würden sie abgestraft.
So weit, so falsch. Die Erzählung
ist ein Zerrbild der Wirklichkeit.
Wie sich die Kräfteverhältnisse tat-
sächlich verteilen, lässt sich derzeit
anhand eines Großexperiments be-
obachten. Nichts belegt die Macht
der Politik eindrucksvoller als der
drohende Einbruch der Konjunktur.
Dieser ist die Folge von ökonomi-
schem Vandalismus und deshalb
eindeutig menschengemacht. Der
Verursacher residiert im Weißen
Haus und heißt Donald Trump.
Die Versessenheit des amerikani-
schen Präsidenten, alle möglichen
Produkte mit Zöllen zu belegen,
würgt nicht nur den weltweiten
Handel ab. Sie zerstört über Jahre
gewachsene Lieferketten in Unter-
nehmen. Diese sehen sich gezwun-
gen, ihre Produktionsprozesse müh-
sam an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Kurzum: Ein
einzelner Politiker dreht die Globalisierung zurück. Wer je-
mals den Primat der Politik in der Weltwirtschaft bestritten
hat, hier sieht er ihn am Werk.
Wie anders wäre auch zu erklären, dass es zu einer Politik
kommen kann, die so offensichtlich den Interessen amerika-
nischer Unternehmen widerspricht? Hätten die US-Multis,
von Amazon über Google bis hin zur Finanzwirtschaft in
New York, tatsächlich so viel Macht, wie ihnen Globalisie-
rungskritiker stets unterstellten, sie wären dem wirtschafts-
politischen Desperado aus dem Weißen Haus längst in den
Arm gefallen. Denn Trumps Schutzzollpolitik für Dino -
branchen wie Stahl, Kohle und Landwirtschaft gefährdet die
Geschäfte von Amerikas Zukunftsindustrien weltweit.
Warum aber greifen die Multis nicht ein und verhindern
fehlgeleitete Entscheidungen, wenn sie doch angeblich die
Treiber der Globalisierung sind?
Weil sie es nicht können. Wie schwach die hoch bezahlten
Unternehmensführer der US-Multis tatsächlich sind, offen-
barten sie diese Woche. Da versprachen 181 Topmanager,
nicht mehr nur die Interessen ihrer Aktionäre im Sinn zu ha-
ben, sondern einen angeblich neuen Kapitalismus, der allen
nutze. Tatsächlich reagierten sie nur darauf, dass Trump

ihnen mit neuen Regulierungsmaßnahmen gedroht hatte.
Schwache Unternehmen, starker Staat.
Die Politik sitzt am längeren Hebel, im Guten wie im
Schlechten. Sie verfügt nicht nur über immenses Zerstörungs-
potenzial, ihr Gestaltungsspielraum bleibt auch im Zeitalter
der Globalisierung enorm. Auch die aktuellen Schwierigkei-
ten der Weltwirtschaft ließen sich vergleichsweise einfach
durch politische Beschlüsse beseitigen: Trump müsste nur
seine ökonomische Amokfahrt stoppen. Fände er zu der Ein-
sicht, dass Feihandel gut und der eigenen Wirtschaft förderlich
ist, könnte die internationale Zusammenarbeit und Arbeits-
teilung, vulgo Globalisierung, sogar neuen Schub gewinnen,
zum Vorteil der US-Wirtschaft und der aller anderen Länder.
Wie sehr die Politik Herrin des
Verfahrens ist und keineswegs als
Getriebene handelt, belegt ein wei-
teres Phänomen. Gängige These
war stets, dass die Globalisierung
zu weltweiter Angleichung und Ni-
vellierung führen werde. Nur wer
sich an die Gegebenheiten und Ge-
pflogenheiten des entfesselten Welt-
markts anpasse, habe eine Chance
zu überleben. Das gelte für Unter-
nehmen, aber ebenso für Staaten.
Auch diese These ist falsch. Es
zeigt sich, dass vor allem die Unter-
nehmen die Getriebenen sind. Die
globale Angleichung fand nur in
einem Bereich statt, der Wirtschaft.
Ein Beispiel: Gleichgültig, wo Autos
gebaut werden, ob in Deutschland,
den USA oder China – die Produk-
tionsverfahren sehen heute überall
ähnlich aus. Für Gesetze gilt das nicht. Jedes Land behielt
seine seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten einge-
spielten Traditionen, Verfahren und Institutionen bei.
Jedes Land leistet sich nach wie vor seine eigene Arbeits-
markt- und Sozialpolitik, manche Staaten setzen bei der Ren-
te auf ein Umlageverfahren, andere auf Kapitaldeckung. Im
einen Land fallen die Steuern hoch, im anderen ein bisschen
niedriger aus. Das hat sich auch zur Hochzeit der Globalisie-
rung nicht geändert. Würde die These von der erzwungenen
Konvergenz stimmen, würden Länder, die sich erfolgreich
an der Globalisierung beteiligen, einander immer ähnlicher.
Eher das Gegenteil ist der Fall. Die meisten bewahren ihre
Eigenheiten und pflegen sie.
Die Staaten konnten sich der Gleichmacherei entziehen,
weil sie nicht Getriebene der Globalisierung sind, sondern
deren Gestalter. Der Staat und seine politischen Entscheider
sind mächtiger als die Globalisierung. Der Primat der Politik
stand nie zur Disposition, in Wirklichkeit verhält es sich
andersherum: Die Globalisierung ist das Produkt politischer
Entscheidungen. Sie lässt sich gestalten, vorwärtstreiben oder
auch zurückdrehen, wie es die Welt derzeit erlebt.
Die Erkenntnis lässt hoffen – auf die Zeit nach Trump.
Christian Reiermann

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Schwacher Markt, starker Staat


AnalyseIm Zeitalter der Globalisierung, so beklagen viele Kritiker, verliere die Politik ihren
Vorrang vor den entfesselten Kräften der Weltwirtschaft. Sie könnten nicht falscher liegen.

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019


Wirtschaft

+2,9


Prognose
2019

Weniger Wachstum
Veränderung der globalen
Güterexporte gegenüber dem Vorjahr,
in Prozent
Quelle: IWF

+5,4


2017 2018

+3,5

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