Der Spiegel - 24.08.2019

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D


er Tag, an dem die Bewohner Ma-
racaibos in der Not ihre eigene
Stadt verwüsteten, hatte den Um-
ständen entsprechend normal be-
gonnen. Es war der 10. März 2019. Seit
drei Tagen schon war fast im ganzen Land
der Strom ausgefallen. Fernel Ricardo, ein
Bewohner von Maracaibo, der zweitgröß-
ten Metropole Venezuelas, erinnert sich,
wie seine Stadt an jenem Tag noch ein
Stück näher an den Abgrund rückte.
Ricardo, 40 Jahre alt, ein gemütlicher
Vater von vier Mädchen, erzählt, wie er
morgens in seiner Küche stand und ver-
suchte, die Nerven zu bewahren. »Das
Essen vergammelte im Kühlschrank«, sagt
er. »Aus dem Hahn kam kein Wasser.«
Sie konnten kein Geld
überweisen oder abhe-
ben und so nichts mehr
kaufen.
Weil das Netz ausgefal-
len war, war Telefonieren
schwierig. »Wir erhielten
keine Informa tion, keine
Erklärung
der Regierung.« Nur ein
staatlicher Radiosender
sei unbeirrt weitergelau-
fen, das Gerät angetrie-
ben mittels eines Genera-
tors in der Nachbarschaft.
»Niemand sagte uns, was los war«, erin-
nert sich Ricardo. »Der Sender spielte ein-
fach Musik.«
Bald habe sich Panik breitgemacht in
San Jacinto, dem Armenviertel, in dem er
wohnt und das als Hochburg ehemaliger
Chávez-Anhänger gilt.
»Was ist das für ein Staat, der seinem
Volk im 21. Jahrhundert keinen Strom lie-
fern kann?«, habe er sich gefragt.
Ein paar Stunden später sah Ricardo,
wie seine Nachbarn mit Tüten und Stö-
cken bewaffnet durch das Viertel zogen.
»Los! Zum Supermarkt!«, hätten sie ge-
brüllt. »Steht auf! Es reicht!«
In den folgenden Tagen plünderten die
Bewohner Maracaibos 523 Geschäfte. Sie
überfielen 106 Shops in einer Mall, zerleg-
ten einen riesigen Supermarkt, rissen Le-
bensmittel an sich, zerstörten die Wände.
Sie stahlen die Verkleidung des Dachs. Die
Plünderer nahmen ein fünfstöckiges Hotel
auseinander, rissen Toiletten und Wasch-


becken aus den Bädern und schöpften das
Wasser aus dem hoteleigenen Pool.
Maracaibo, eine Zwei-Millionen-Ein-
wohner-Metropole, nahe der kolumbiani-
schen Grenze gelegen, galt einst als eine
der reichsten Städte Venezuelas. Vor Jahr-
zehnten war sie die erste, die Elektrizität
erhielt. Die Anfänge der modernen Agrar-
industrie entwickelten sich im Bundesstaat
Zulia, dessen Hauptstadt Maracaibo ist.
Riesige Ölvorkommen unter dem Mara-
caibo-See, an dem die Stadt liegt, trieben
den Fortschritt an. Maracaibo wurde zum
Dallas der venezolanischen Ölindustrie,
eine Stadt, gebaut auf dem Reichtum der
weltweit größten bekannten Erdölvorkom-
men. Die Ölarbeiter waren bekannt für
ihre teuren Autos, die Ma-
nager flogen mit Privat-
jets auf benachbarte Ka-
ribikinseln, um ihr Geld
in Casinos zu verprassen.
Heute ist Maracaibo
eine Geisterstadt, eine real
existierende Dystopie, die
an den Katastrophenfilm
»Mad Max« erinnert. Die
spärlichen Ressourcen,
über die das Regime Ma-
duro verfügt, hortet es in
der 700 Kilometer entfern-
ten Hauptstadt Caracas.
Geht man heute durch Maracaibo, er-
lebt man eine Stadt, in der fast alle Res-
taurants und Geschäfte geschlossen sind.
Ampeln funktionieren nicht, Busse fahren
nicht. Schulen sind geschlossen oder öff-
nen stundenweise. Vor etlichen Häusern
hängt ein Schild: »Zu verkaufen«.
An den Straßenrändern wühlen Kinder
im Müll nach Essbarem. An ihnen vorbei
ziehen Menschen in zerrissenen Kleidern
mit Einkaufswagen aus den Tagen der
Plünderung. Sie transportieren Kanister,
die sie mit Brackwasser füllen. Auf dem
Markt bieten Metzger Fleischabfälle an.
Rund 6,8 Millionen Venezolaner leiden an
Mangelernährung. Am Rand der Stadt
führt ein ausgezehrter Mann am Abend
seine Mutter spazieren. Was sie heute ge-
gessen haben? »Mangos. Sonst nichts.«
Nach Jahren der Vernachlässigung un-
ter der Regierung des 2013 verstorbenen
Präsidenten Hugo Chávez ist die Quelle
versiegt, die einst die Wirtschaft der Stadt

und des Landes mit Geld versorgte: Die
staatliche Erdölgesellschaft »Petróleos de
Venezuela« (PDVSA) liegt am Boden. We-
gen Korruption, Missmanagement und der
US-Sanktionen ist die Erdölförderung seit
2013 um mehr als zwei Drittel gesunken.
Sie belief sich zuletzt nicht mal mehr auf
eine Million Barrel täglich – etwa das Ni-
veau von 1945. Hunderte Bohrtürme im
Maracaibo-See sind verfallen, Kraftwerke
stehen still, Tanker sinken.
Vor drei Wochen haben die USA wei-
tere Sanktionen gegen das Regime von
Nicolás Maduro verhängt. So will US-
Präsident Donald Trump nach dem ge-
scheiterten Versuch der Machtübernahme
von Oppositionsführer Juan Guaidó wei-
teren Druck auf Staatschef Maduro aus-
üben. Schon jetzt ist die Ölförderung
durch die US-Sanktionen um ein Drittel
gesunken. Vor allem treffen die Sanktio-
nen aber die Bevölkerung. Maduro be-
kommt kaum noch Petrodollar aus dem
Ölexport, und die Folgen für die ohne -
hin schon desaströse Wirtschaftslage sind
katastrophal.
Der nahende vollständige Kollaps der
Küstenmetropole Maracaibo gilt vielen im
Land bereits als Vorbote eines finalen Zu-
sammenbruchs Venezuelas unter Staats-
präsident Maduro. Hier lässt sich beobach-
ten, was dem Land drohen könnte, falls
ein politischer Wandel scheitert.
Vier Millionen Menschen, mehr als ein
Zehntel der Bevölkerung, haben Venezu -
ela in den vergangenen Jahren bereits ver-
lassen – Tausende fliehen aus der Region
um Maracaibo. Bis zum Ende des Jahres
2020 könnten rund acht Millionen Men-
schen ausgewandert sein. Das wären mehr
als die 5,6 Millionen Menschen, die in den
vergangenen acht Jahren aus Syrien geflo-
hen sind. Der venezolanische Exodus ist
schon jetzt die größte Fluchtbewegung La-
teinamerikas und wird dann womöglich
zur größten Migrationskrise der Welt.
Wie aber überleben jene, die geblieben
sind? Und wo liegen die Gründe für das
Versagen des venezolanischen Staats?
Knapp fünf Monate sind seit den Tagen
der Plünderung vergangen. Fernel Ricardo
sitzt an einem Augusttag vor seinem Haus
und blickt auf den Sand, der über die löch-
rigen Straßen weht. Die Nachbarn gegen-
über spielen Domino. Gerade hat Ricardo

76 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019

Ausland

Die Geisterstadt


VenezuelaMaracaibo war einst die reichste Ölmetropole des Landes. Heute kämpfen ihre
Bewohner ums Überleben, Tausende schon sind geflohen. Die Stadt erlebt einen Zusammen bruch,

wie er dem ganzen Land bevorsteht. Von Katrin Kuntz und Adriana Fernández (Fotos)


Caracas

VENEZUELA

KOLUMBIEN

BRASILIEN

Maracaibo

500 km
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