Neue Zürcher Zeitung - 22.08.2019

(Greg DeLong) #1

Samstag, 24. August 2019 INTERNATIONAL


Als in Paris die Freiheit triumphierte


Die Befreiung der französischen Hauptstadt vor 75 Jahren hat sich dank Charles de Gaulle ins kollektive Gedächtnis eingebrannt


NINA BELZ,PARIS


Es gibt nur wenigeTage imJahr, an
denen sich vor dem Abstieg zu den
Katakomben vonPariskeine langen
Schlangen bilden. Der kleine,öffent-
lich zugänglicheTeil desPariser Unter-
grunds, der zunächst Steinbruch, dann
Beinhaus war, zieht Besucher aus aller
Welt an. Am 25.August wird ein weite-
res kleines Stück derPariser Unterwelt
für die Öffentlichkeit zugänglich, gleich
gegenüber dem Eingang zu den Kata-
komben. Nicht Knochen und Schädel
werden dort zu sehen sein. In denLuft-
schutzkellern unter der Place Denfert-
Rochereau wird ein Stück Geschichte
erfahrbar, das für das Selbstverständnis
Frankreichs eine wichtigeRolle spielt:
die Befreiung der Hauptstadt von den
deutschen Besatzern.
Vor 75Jahren, am 20.August1944,
richtet sich HenriRol-Tanguy inRäu-
men des Luftschutzkellers ein, die in
den Gängen der Katakomben noch vor
Kriegsbeginn hergerichtet worden sind.
Der Bunker 20 Meter unter der Strasse
verfügt über einTelefonnetz, von dem
die deutschen BesatzerkeineKenntnis
haben.Ausserdem kann man vor dort
unterirdisch inandereTeile der Stadtge-
langen. «Rol», wie sein Deckname lau-
tet, setzt von dort das Oberkommando
derForces françaises de l’intérieur (FFI)
der Hauptstadtregion fort.


Die Allii erten überzeugen


Seit ihrerVereinigung ein paar Monate
zuvor befehligt derKommunist einen
Arm der bewaffnetenRésistance im
RaumParis. Unterihm haben die FFI
ihre Sabotageakte gegen die Besatzer
intensiviert. Ab MitteAugust streiken
Polizisten, Metro- undBahnangestellte.
AllePariser werden offen zumAufstand
aufgerufen. Bis zu 600Barrikaden wer-
den errichtet. Es gelingt den FFI nach
und nach, strategisch wichtige Punkte
wie diePolizeipräfektur zu besetzen.
Paris ist seit dem Einmarsch der
Wehrmacht imJuni 1940 entvölkert.
Rund dreiViertel der etwa 2,8 Millio-
nen Einwohner haben die Flucht ergrif-
fen. In diesen Sommertagen1944 sind
auch die deutschen Besatzer nicht mehr
besonders zahlreich. Dererst Anfang
August von Hitler eingesetzte Stadt-
kommandant Dietrich von Choltitz
hatnoch ein bescheidenesKontingent
an Soldaten zur Sicherung der strate-
gischen Punkte von «Gross-Paris» zur
Verfügung. Erreagiert zum Missfallen
Hitlers nur zögerlich auf die Sabotage-
akte aus dem Untergrund. DieLage ist
unübersichtlich, immer öfterkommt es
zu Scharmützeln.Für dieRésistance ist
dieKommunikation mit den Alliierten
schwierig.Rol-Tanguy weiss zwar, dass
sie in der Normandie gelandet sind und
sich landeinwärts bewegen. Doch es ist
nicht klar, ob die Hauptstadt zu ihren
Zielen gehört. Zwei BotenRol-Tanguys
kommen beimVersuch, mit ihnenKon-
takt aufzunehmen, ums Leben.
Als er seine neueKommandozentrale
unter der Place Denfert-Rochereau in
Betrieb nimmt, mussRol-Tanguy diese
Ungewissheit noch knapp vierTage aus-
halten. Doch noch haben die Alliierten


nicht entschieden,dassParis befreit wer-
den soll. Charles de Gaulle, der selbst-
ernannteFührer des freienFrankreich,
muss die Alliierten von der hohen sym-
bolischen Bedeutung der Einnahme von
Paris für dieFranzosen erst überzeugen.
Für sie hat die Stadt auf demWeg Rich-
tung Deutschlandkeinerlei strategischen
Wert, sondern bedeutet einen Zeitverlust.

Widerstand aus Überzeugung


Wie es dazu kam,dass am Abend des
24.August die ersten Soldaten der


  1. Panzerdivision derAlliiertenParis
    erreichen,wird ineinemneu gestalte-
    ten Museum, das sich direkt über dem
    Luftschutzkeller befindet, dokumentiert.
    Rol-Tanguy spielt dort allerdings nur eine
    Nebenrolle. Die Helden sind zwei Män-
    ner, die aus einem völlig unterschied-
    lichen Milieu stammen und beide wesent-
    lich zur BefreiungFrankreichs und sei-
    ner Hauptstadt beigetragen haben:Jean
    Moulin und General Leclerc. Ihre Leben
    werden so minuziös nachgezeichnet, wie
    es die Quellenlage erlaubt.
    Sylvie Zaidman, die Direktorin des
    Musée de la Liberation, sagt, es gehe


ihr bei derAusstellung darum, zu zei-
gen, dass derWiderstand gegen Nazi-
Deutschland aus ganz unterschied-
lichen Ecken kam. Es seikeineFrage
desMilieus, sondern eineWahl aus
Überzeugung gewesen, sich für die Be-
freiung einzusetzen. Deutlich wird bei
demRundgang auch,dass die Kämpfer
für ein freiesFrankreich zwar dasselbe
Ziel hatten, aberkeineswegs am glei-
chen Strang zogen.
Jean Moulin, ein Beamter und Leh-
rerssohn, wird von de Gaulle im Exil
mit der schier unmöglichenAufgabe
betraut, die heterogeneRésistance aus
Widerstandsgruppen, ehemaligen poli-
tischenParteien und Gewerkschaften
aneinenTisch zu bringen – und unter
seinKommando.Moulin war beim Ein-
marsch der Deutschen1940 Präfekt des
Département Eure-et-Loir gewesen
und hatte sich geweigert, mit den Be-
satzern zukooperieren. Der Gefangen-
schaft entkommen, stellte er sich1941 de
Gaulle in London vor. ZweiJahre lang
arbeiteterim Untergrund an seinerAuf-
gabe und gibt dabei vor, alsKunsthänd-
ler zwischen Nizza und London zu le-
ben. Im Mai1943 findet die ersteTagung
des Conseil national de laRésistance
schliesslich statt, ausgerechnet in der be-
setzten Hauptstadt.
Doch nur wenigeWochen nach der
konstituierenden Sitzung wird Mou-
lin zusammen mit ein paar Mitstrei-
tern in der Nähe vonLyon verhaftet.
Von derFolter durch die Gestapo ge-
zeichnet, stirbt er im Zug, der ihn in
einKonzentrationslager nach Deutsch-
land hätte bringen sollen. Er wird weder
Rol-Tanguy noch dem anderen Helden
des Museums, General Leclerc,je be-
gegnen. Aber sein Nachfolger wird in
den entscheidendenTagen EndeAugust
mit seinen Mitstreitern dasRathaus von
Paris besetzen.
Jacques-PhilippeLeclerc de Haute-
clocque, ein Berufssoldat aus aristokra-
tischem christlichem Umfeld, wird am
22.August von den Amerikanern die Er-
laubnis erhalten, einenTeil der alliierten

St reitkräfte in RichtungParis zu dirigie-
ren. Die Amerikaner hatte den Bitten de
Gaulles nachgegeben und ihm sogar den
Wunsch erfüllt, dassFranzosen dieTr up-
pen anführen, welche die Hauptstadt als
Erste betreten werden. DieVorhut von
Leclercs2. Panzerdivision, die sich zum
Zeitpunkt der Entscheidung rund 200
Kilometer östlich vonParis befindet,
erreicht die Hauptstadt am Abend des
24.August, er selbst amFolgetag.
Er wird am 25.August in derPolizei-
präfektur aufRol-Tanguy treffen. Dort-
hinlässt Leclerc den deutschen Stadt-

kommandanten von Choltitz bringen,
damit dieser die Kapitulation unter-
zeichnet. Obwohl zahlenmässig deut-
lich unterlegen, leisteten seine Solda-
ten bis zuletzt grossenWiderstand.Wäh-
rend Leclerc von Choltitz die Kapitu-
lationabringt, protestiertRol-Tanguy
vernehmbar in einem Nebenraum.
Seine Unterschrift auf dem Dokument
ist nicht vorgesehen. Leclerc agiert in
diesem Moment mehr alsVertreter von
de Gaulle und damit der französischen
Regierung als inseinerPosition eines
Generals, der unter Befehl der Alliier-
ten steht.Dass Leclerc schliesslich nach-
gibt, nimmt de Gaulle ihm übel. Denn
dieser will jeglichen Machtanspruch der
Résistance understrecht einesKom-
munisten, als den erRol-Tanguy primär
sieht, im freienFrankreich verhindern.
Bei dem triumphalen Defilee unter
demJubelTausender auf den Champs-

Elysées darf Rol-Tanguy am 26.Au-
gust allerdings mitmarschieren. Nicht
wie Leclercan der Seite von de Gaulle,
aber ein paarReihen weiter hinten.
Doch haben nicht Leclerc, Rol-Tan-
guy und der von Moulin gegründete
CNR de Gaulles triumphalenAuftritt
denWeg bereitet. DieWahl derPerso-
nen, die man im Museum vorstelle, sei
dadurch eingeschränkt, dass man über
vielePersönlichkeiten aus derPariser
Résistance auch heute noch wenig wisse,
sagt Museumsdirektorin Zaidman. Man
wisse inzwischen aber auch, dass es nicht
sehr viele waren.

De Gaulles Inszenierung


Die Befreiung vonParis wird heute oft
auf eineWochereduziert: vom Beginn
des vonRol-Tanguy angestiftetenAuf-
stands bis zum Defilee auf den Champs-
Elysées beziehungsweise de Gaulles an-
schliessendem Besuch einesDankgot-
tesdienstes in der Kathedrale von Notre-
Dame. Zwar bleibtParis im Gegensatz
zu vielen anderen Städten von grossen
Bombardements verschont, Opfer for-
dern die Kämpfe aber dennoch, vor-
wiegend unter den deutschen Besat-
zern. Deren Zahl ist bis heute umstrit-
ten, doch ist sie mit wenigenTausend im
Vergleich zu anderen Schlachtfeldern
des ZweitenWeltkriegs gering.
Für den künftigenRegierungschef de
Gaulle ist es damals von höchster Be-
deutung,die Befreiung der Hauptstadt
alsrein französischen Akt darzustellen.
Für das Defilee auf den Champs-Elysées
lässt er es sich nicht nehmen, Leclercs


  1. Panzerdivision zweiTage inParis zu
    halten, bevor er sie wieder in den Dienst
    der Alliierten entlässt. Die Inszenierung
    zeigt bis heuteWirkung: Obwohl die
    letzten Besatzer erst mit der Kapitula-
    tion derWehrmacht am 8. Mai1945 aus
    Frankreich verschwinden, hat sich die
    Befreiung vonParis mit derLandung
    der Alliierten in der Normandie als In-
    begriffder «Libération» in daskollek-
    tive Gedächtnis eingebrannt.


Wie spricht man die junge Generation an?


nbe.· Die Sammlung des neuen Musée de
la Liberation deParis ist nicht neu. Schon
zum 50.Jahrestag der Befreiung der fran-
zösischen Hauptstadt wurde sie imBahn-
hof Montparnasse, wo General Leclerc in
denTagen der Befreiung sein Hauptquar-
tier eingerichtet hatte, der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht.Basis für das neue
Museum sind über 70 00 Gegenstände
und Dokumente,viele imOriginal, die
der Stadt von Angehörigen vonJean
Moulin und General Leclerc zugänglich
gemacht wurden.Das Museum heisst des-
halb offiziell auch Musée de la Libera-
tion deParis – Musée du général Leclerc



  • MuséeJean Moulin. Immer wieder ruft
    die Stadt öffentlich dazu auf, Fotos und


Gegenstände aus der Zeit zwecksKon-
servierung zurVerfügung zu stellen.
Die Direktorin des Museums, Sylvie
Zaidman, erklärt, dass der Umzug aber
nicht allein wegen des nun erstmals zu-
gänglichen Bunkers beschlossen wurde.
Es sei nötig gewesen, dieAusstellungen
neu zukonzipieren und speziell für jün-
gere Generationen interessanter zu ma-
chen. Dafürkommen nicht nur neue
Tondokumente undVideos zum Einsatz.
Die Geschichte der Befreiung wird nun
auch mehr denPersonen entlang erzählt.
Im Bunker vonRol-Tanguy wird der All-
tag im Luftschutzkellermithilfe vonVir-
tual-Reality-Brillen simuliert. Der Ein-
tritt ins Museum ist zudemkostenlos.

Charles de Gaulle führtam26.August1944 das triumphaleDefilee mit Mitgliedern derRésistanceauf den Champs-Elysées an. CENTRAL PRESS / GETTY

AP, MUSÉE CARNA

VALET

Jacques-Philippe
Leclerc
Generalmajor

Henri Rol-Tanguy
Anführer der
Pariser Résistance
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